Vom Charakter dieses Krieges

Von Ulrich Sander

Unter den vielen Kritiken an der jüngsten Bundestagsrede von Sahra Wagenknecht sticht die der beiden Vorsitzenden der Partei DIELINKE hervor, die völlig deplatziert war. In Diktaturen benennen die Führer die Parlamentsabgeordneten. In Demokratien werden sie vom Volk gewählt. Ich habe Sahra Wagenknecht gewählt, sie stand auf meinem Wahlzettel. Sie hält derzeit Reden, die ich sehr billige. Was ich nicht billige, ist die Art und Weise, wie die beiden Vorsitzenden damit umgehen. Sie wollen Sahra Wagenknecht das Wort verbieten, die Parlamentsfraktion schurigeln. Abgeordnete sind jedoch nicht der Führung, sondern den Wählern verpflichtet – und ihrem Gewissen. Zum Inhalt von Sahra Wagenknechts Reden vom Krieg gegen Russland, den u. a. Deutschland führt, ist zu sagen: Es gibt ihn, diesen Krieg, auch wenn Russland die Ukraine angegriffen hat. Es sei darauf verwiesen, dass es mehrere Arten von Krieg gibt, in diesem Fall meinte Sahra Wagenknecht den deutschen Wirtschaftskrieg, der laut Außenministerin Baerbock Russland »ruinieren« soll. Derzeit ruiniert er mehr die deutsche Wirtschaft als den russischen Staat.

Der zum russischen Angriffskrieg gesteigerte Schießkrieg begann am 24. Februar 2022, und er steigerte den faktischen Krieg der Ukraine gegen das eigene Volk in den ukrainischen Ostgebieten. Zudem ging ihm eine Art Emser Depesche voraus. Das war jenes von Bismarck gefälschte Dokument, das 1870 die französische Seite, also den französischen Präsidenten, zum Angriff auf Deutschland verleitete. Das Ergebnis ist bekannt. Die vielen Emser Depeschen des Westens, der Nato, die Präsident Putin zu seiner unsäglichen »militärischen Spezialoperation« verleiteten, wurden dutzendweise von US-Präsident Joe Biden auf den Weg gebracht. Schon monatelang gibt es bereits den gewandelten Krieg in der Ukraine. Der Westen führte auf dem Gebiet der Ukraine seinen Krieg gegen Russland – mit Waffen, Truppenaufmärschen an den Grenzen und der Ausbildung von Soldaten. Und wir alle haben darunter zu leiden, besonders die Ukrainer. Ich hoffe, so appellierte ich an die Vorsitzenden der LINKEN, die Partei wird sich endlich in die Bewegung gegen den Krieg einreihen, gegen den Schießkrieg und gegen den Wirtschaftskrieg. Gegen die Leiden auch unserer Bevölkerung, die im Kriegswinter frieren soll und nicht genug zu essen haben wird. Bitte gehen Sie gegen die Regierung des Krieges und nicht gegen jene Menschen vor, die den Krieg bekämpfen.

Karl Marx schrieb über den Deutsch-Französischen Krieg, der durch die Emser Depesche ausgelöst wurde: »Eine Arbeitermassenversammlung in Braunschweig hat am 16. Juli 1870 sich mit dem Pariser Manifest vollständig einverstanden erklärt, jeden Gedanken eines nationalen Gegensatzes gegen Frankreich von sich gewiesen und Beschlüsse gefasst, worin es heißt: ›Wir sind Gegner aller Kriege, aber vor allem dynastischer Kriege (…) Mit tiefem Kummer und Schmerz sehn wir uns hineingenötigt in einen Verteidigungskrieg als ein unvermeidliches Übel; aber gleichzeitig rufen wir die gesamte denkende Arbeiterklasse auf, die Wiederholung eines solch ungeheuren sozialen Unglücks unmöglich zu machen, indem sie für die Völker selbst die Macht verlangt, über Krieg und Frieden zu entscheiden und sie so zu Herren ihrer eignen Geschicke zu machen.‹« (Marx: Erste Adresse des Generalrates über den Deutsch-Französischen Krieg 1870 in: MEAWIII, S. 485-487 – Das Pariser Manifest gegen den Krieg Frankreichs gegen Deutschland wurde von den Pariser Mitgliedern der Internationalen Arbeiterassoziation verfasst.)

Für heute heißt es für uns: Die Verteidigung der Ukraine gegen Russland ist legitim, aber der Krieg der Nato gegen Russland ist es nicht. Die Ukraine und Russland sollten einen Waffenstillstand vereinbaren, doch die USA verbieten dies der Ukraine. Es ist aber erforderlich, dass »die Völker selbst die Macht (haben), über Krieg und Frieden zu entscheiden und sie so zu Herren ihrer eignen Geschicke« werden. Die linken Abgeordneten haben die Pflicht, entsprechend dem Mehrheitswillen der Bevölkerung die Beteiligung am Krieg und die Waffenlieferungen abzulehnen, ebenso die Sanktionen, die vor allem uns selbst schaden.

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat festgestellt, dass die Lieferung schwerer Waffen und die Ausbildung von am Krieg teilnehmenden ausländischen Soldaten auf unserem Territorium bedeutet: Deutschland ist Kriegspartei. Dies wird auch unterstrichen dadurch, dass in Ramstein – in Deutschland! – neuerdings ein Nato-Generalstab unter USA-Führung die Kriegsbeteiligung gegen Russland koordiniert.

Er denkt wohl an solche Kommandozentralen wie in Ramstein, der Kanzler Scholz, der »Alleingänge« laut Medien ablehnt. Und wenn dann der Befehl aus Ramstein kommt, schlägt er die Hacken zusammen!? Am 12. September 2022 sahen Kriegstreiber in den Medien (z. B. Tagesspiegel) die Zeit gekommen, Putin den Rest zu geben, denn er schwächelt ja immens. Das müsse so geschehen: Deutschland entwaffnet die Bundeswehr in großen Teilen vorübergehend, schafft alle Waffen in die Ukraine, um den Endsieg gegen Russland und seine Dynastie zu sichern. Das sei nicht fahrlässig, denn Putin ist so geschwächt, dass er über lange Zeit keinen großen Landkrieg gegen die Nato führen kann. Auch Deutschland bleibe sicher.

Das sind tolle Strategen, diese Medienleute! Und wenn Putin so ist, wie immer gesagt wird? Wenn er wild um sich schlägt, z. B. atomar? Er warnte ja, seine Drohung mit Atomwaffen sei »kein Bluff«. Oder er wird als unfähig abgesetzt, und was für eine abenteuerliche Type kommt dann dran im Kreml? Oder glaubt man nun, dass die Ukraine, z. B. mit Bundeswehrwaffen, bis Wladiwostok durchmarschieren könnte?

Ein weiterer wissenschaftlicher Dienst eines Parlaments muss hier noch zitiert werden. Expertenberichte aus den USA verweisen auf einen Report des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses vom März 2022 und folgern: Groß ist die Entschlossenheit der US-Regierung, den Krieg zu nutzen, um Russland mürbe zu machen (Quelle: Renewed Great Power Competition: Implications for Defense – Issues for Congress. Updated March 10, 2022). Das Hauptziel der USA bestehe darin, »ein neues oder erneuertes Schwergewicht« auf das Niederringen von China und Russland zu legen. Den beiden Ländern wird eine Fülle von US-Maßnahmen angedroht, darunter mehr Atomwaffen zu produzieren, die globale US-Militärbelegung zu erhöhen und den Ukrainekrieg zu nutzen, »um die USA und die Nato zu stärken, um eine russische Aggression in Europa zu kontern«. Der Angriff auf die Ukraine soll als Alibi für die neue Besetzung Europas durch US-Truppen hergenommen werden. Als Antwort auf Russlands Angriff auf die Ukraine im späten Februar 2022 »haben die USA zusätzliche Army- und Navy-Einheiten bei Nato-Verbündeten in Europa stationiert«. Der Punkt ist, dass die USA mit aller Kraft die Auseinandersetzung mit China und Russland suchen, solange sie sich noch in der Vorhand wähnen, die Jahr für Jahr schwindet. Sie steuern bewusst auf Kriege zu und wollen dazu ihre »Fähigkeiten für high end conventional warfare« stärken, für eine »Kriegführung auf breiter Front, mit hoher Intensität, technologisch hoch entwickelten Waffen gegen Gegner mit ähnlich hoch entwickelter Waffentechnik«. Die Ukraine ist das ideale Exerzierfeld für dieses »Training«.

Ich meine, der aktuelle Ukrainekrieg begann als ein imperialistischer Akt von Putin-Russland und wird heute vor allem als Abnutzungskrieg der westlichen Imperialisten gegen Russland und zur Festigung der US-Vormacht in Europa geführt. Und nun dreht Putin wieder an der Eskalationsspirale, indem er eine Teilmobilmachung vornimmt und mit »allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln« droht, »um Russland zu schützen. Das sei »kein Bluff«. Die Erklärung aus dem US-Kongress ist aber auch keiner.

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auch in Ossietzky – Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft und wird hier mit freundlicher Genehmigung des Autors gespiegelt.
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