Solidarität in der Krise

Von Otto König und Richard Detje

Der 1. Mai 2020 wird in die Geschichtsbücher eingehen. Der Shutdown des globalen Kapitalismus hat auch hierzulande das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben einbrechen lassen: leere Fabrikhallen und Restaurants, geschlossene Kitas und Schulen, abgesagte Film- und Theateraufführungen.

130 Jahre – nach der ersten Mai-Kundgebung im Jahr 1890[1] bleiben die öffentlichen Plätze leer – keine roten Gewerkschaftsfahnen. Stattdessen Hiobsbotschaften. In den Wochen seit Mitte März sind Produktion und Dienstleistungen im Durchschnitt aller Branchen um rund 16% zurückgefahren wurden, übers Jahr berechnet ein massiverer Einbruch als in der Finanz- und Wirtschaftskrise Ende des vergangenen Jahrzehnts.

Im April haben Unternehmen für die Rekordzahl von 10,1 Millionen Beschäftigte Kurzarbeit angemeldet, nahezu zehn Mal so viel wie auf dem Höchststand der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 (Mai: 1,44 Mio. Bei 45 Millionen Erwerbstätigen ist das nahezu jeder vierte Beschäftigte. Gleichzeitig steigt die Zahl der Arbeitslosen auf nunmehr 2,644 Millionen. Der Arbeitsmarkt befindet sich in einem Umwälzungsprozess, der stärker ist als je zuvor in der Nachkriegsgeschichte.

In der »Corona-Krise« haben Infektions- und Reproduktionszahlen das gesellschaftliche Leben fest im Griff. Auch am 1. Mai. Öffentliche Kundgebungen und Demonstrationen zum »Tag der Arbeit« sind abgesagt. Digitale Solidarität wird geprobt – ein Notprogramm, um kollektive Leere nicht zu gespenstisch werden zu lassen.

Von »Solidarität« war in den letzten Wochen viel die Rede: der Jungen mit den Alten, der Nachbarn untereinander, der nicht behandelten Kranken mit den vom Virus infizierten Notfallpatient*innen, der Zivilgesellschaft mit soloselbständigen Künstler*innen und den zahlreichen »Held*innen des Alltags«. Das große WIR schließt nicht alle ein: Beim Stichwort Europa wurde es schon schwieriger, von der Migrationspolitik ganz zu schweigen. Auf dem Höhepunkt der medialen Solidaritätswelle wurden ganze 48 minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen.

Mittlerweile nehmen die Zwischentöne und Widersprüche wieder stärker zu, zeigt sich, dass nicht Menschenrechte und Ethik die Grundlagen von Solidarität sind, sondern die harte Realität der Klassengesellschaft. So prallte der Beifall für die Verkäuferinnen und Kassiererinnen in den Supermärkten am Arbeitgeberverband des Einzelhandels schlicht ab, der forderte, die anstehende Tariferhöhung für die Beschäftigten auszusetzen. Karstadt Kaufhof verweigert gekündigten Angestellten die Abfindung und Lufthansa will sich in einem Schutzschirmverfahren eines Teils seiner Pensionslasten entledigen.

Für zahlreiche Berufsgruppen hat das Bundesarbeitsministerium per »Covid-19-Arbeitszeitverordnung« den 8-Stunden-Tag ausgehebelt und Wochenarbeitszeiten bis zu 60 Stunden verlängert, befristet zwar, aber wohlwissend, dass es damit einer seit längerem erhobenen zentralen Forderung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nachkommt.

In der baden-württembergischen Metall- und Elektroindustrie stellt Südwestmetall die Aufzahlung auf das Kurzarbeitergeld ebenso in Frage wie Zuschläge auf Spät- und Nachtschichten, das Urlaubs- und Weihnachtsgeld, tarifliche Sonderzahlungen sowie Arbeitszeitregelungen. Bei den großen Automobilherstellern werden neue Verhandlungen über weitere Rationalisierungs- und Kostensenkungsprogramme angekündigt, als Ausgleich für Umsatz-, Produktivitäts- und Gewinnverluste.

»Solidarisch ist man nicht alleine!« lautet das Motto des 1. Mai 2020. Das kommt arg lau, zurückgenommen, defensiv daher. Die Erfahrung der Isolation im social distancing wird ins Zentrum gerückt. Das mit einem digitalen Life Act zu kontern, wird kaum gelingen. Zumal der DGB im ja noch vorhandenen öffentlichen Raum auf Präsenz weitgehend verzichtet: keine Plakate, keine Anzeigen, keine symbolischen Kundgebungen oder bundesweit koordinierten Autokorsos.

Damit ist aber auch das politische Profil entrückt. Wie sehen die Gewerkschaften die gegenwärtige Lage, wo die Hauptgefahren, die zentralen Streitpunkte und Auswege aus der Krise? Die Stille im öffentlichen Raum scheint sich in politischer Stille fortzusetzen. Für die aktuellen und anstehenden betrieblichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ist das kein ermutigender Auftakt.

Bis Ende Juni muss die Mindestlohnkommission ihre Empfehlung für die gesetzliche Lohnuntergrenze zum 1. Januar 2021 abgeben. Die liegt gegenwärtig bei 9,35 Euro, womit Deutschland innerhalb er Gruppe der westeuropäischen Staaten auf dem letzten Platz liegt. Zu Recht weist das DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell darauf hin, dass Deutschland damit in Europa Lohndumping betreibt.

Um den »Held*innen des Alltags« ein Leben ohne Existenznot zu ermöglichen, muss der Mindestlohn auf ein existenzsicherndes Niveau angehoben werden (»Living Wage«). Wiederum sind es die Arbeitgeberverbände, die sich der Anhebung verweigern und wiederholt mit dem Ausstieg aus den Verhandlungen gedroht haben. »Solidarisch ist man nicht alleine!« heißt: 12,- Euro ab dem 1. Januar 2021 – Austrocknung von prekärer Arbeit und Niedriglohnsektor.

Vergleichende Analysen in der »Corona-Krise« weisen auf den entscheidenden Punkt hin: Es ist die Qualität der sozialen Sicherung, die über den Verlauf einer Pandemie und deren Mortalitätsraten entscheidet. Dass Deutschland da auf einem vergleichsweise guten Platz liegt, ist der Tatsache geschuldet, dass die Politik der Privatisierung, des Bettenabbaus, der Personaleinsparungen und der Leistungskürzungen im Gesundheitswesen durch Widerstand der Beschäftigten und gesellschaftliche Proteste abgebremst werden konnte – unermüdlich, über Jahrzehnte hinweg.

Denn bereits 1985 wurde die Systementscheidung getroffen, dass Krankenhäuser Gewinne machen durften. Jedes dritte Krankenhaus wird heute privat betrieben. Das Krankenhaus wurde zum renditeorientierten Geschäftsmodell, dem unter der rot-grünen Regierung des Kanzlers Schröder ein entsprechendes Abrechnungs- und Vergütungssystem verpasst wurde: hohe Fallzahlen, kurze Liegezeiten, Höchstauslastung der Bettenkapazitäten für lukrative Renditen. Seit der Jahrtausendwende wurde die Bettenkapazität um 11% heruntergefahren, bereits vor Ausbruch der Pandemie fehlten 80.000 Krankenpflegekräfte.

In der Krise hat sich gezeigt: Soziale Vorsorge, Public Health, Humanisierung und umfassender Gesundheitsschutz sind entscheidend für das individuelle und kollektive Überleben. Der Kampfbegriff der Ökonomisierung zielt auf Vermarktlichung, Solidarität hingegen bedarf gemeinwohlorientierter Institutionen und Verteilungssysteme.

Hier gilt es Lernprozesse zu befördern und mit Kritik nicht hinter dem Berg zu halten. Bei aller strategischen Flexibilität und Wendigkeit der großen Koalition beim Aussetzen von Schuldenbremse und Schwarzer Null sind die sozialen Schieflagen in der Abfederung und Übernahme der Krisenlasten gleichsam strukturbestimmend. Auch die Corona-Pandemie verstärkt soziale Ungleichheit, konturiert Klassenunterschiede und -grenzen.

Zumal sich bis heute an den die großen Linien der Politik prägenden Erzählungen wenig geändert hat. Denen zufolge steht Deutschland aufgrund seiner Austeritätspolitik vergleichsweise »gut da«. Nach wie vor sind die schwäbische Hausfrau und ihre nord- und ostdeutschen Schwestern die Stichwortgeber: »Spare in der Zeit, so hast Du in der Not«.

Es ist erschütternd, mit welcher Chuzpe falsche und fehlleitende Politik weiterhin als unhintergehbare Maxime verkündet wird. Vor allem, wenn es um Auswege aus der Krise geht. Nach einem »großen Konjunkturprogramm«, um »der Wirtschaft« wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/9 ein weiteres Mal auf die Beine zu helfen, werden schnell die Gegenfinanzierungen als einschneidende Spar- und Kürzungsrunden präsentiert. Noch schwach dosiert im Krisen- und Wahljahr 2021, danach umso forscher. Es sollte niemanden wundern, wenn die Vertiefung der Klassengräben als Zukunftsvorsorge zu legitimieren versucht wird.

Was wird über den 1. Mai 2020 in den Geschichtsbüchern stehen? Sicherlich die gespenstige Leere der öffentlichen Plätze. Die fehlenden Kommunikations-, Austausch- und Verständigungsprozesse über das, was gegenwärtig passiert, von den Gewerkschaften in der Krise gefordert wird und zu erkämpften ist. Damit die Suspendierung demokratischer Willensbildung am Tag der Arbeit – die Einschränkung der Rechte auf Versammlungsfreiheit und Streiks.

Die bange Frage lautet: Wer wird nach dem explosionsartigen Anstieg der Kurzarbeit in einem Jahr am 1. Mai 2021 noch dabei sein? Dies dürfte davon abhängen, wie Kämpfe um die Verteilung der Krisenlasten und Zukunftsperspektiven in den nächsten Krisenetappen organisiert werden, ob jenen die Rechnung für die Krise präsentiert wird, die jahrzehntelang mit der Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse, Tarifflucht und Lohndumping ihre Profite gemacht haben.

Es gilt, so das geschäftsführende IG Metall-Vorstandsmitglieds Hans-Jürgen Urban, »die Weichen neu (zu) stellen! Nicht zurück zum Alten, sondern her mit dem Neuen. Das bedeutet: Ausbau der Sozialkassen zu universellen Bürger- und Erwerbstätigenversicherungen; Umbau von Industrie und Infrastruktur, um durch E-Autos, Bahnen und anderen Verkehrsträgern Mobilität naturverträglich zu organisieren; ran an eine Wirtschaft, die wächst, wo gesellschaftlicher Bedarf ist und die auf Wachstum verzichtet, wo es die Natur überfordert. Und her mit einer fairen Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen!«

Mehr Solidarität heißt, weniger Kapitalismus. Wenn das der Ertrag der bevorstehenden Auseinandersetzungen sein sollte, wird der Eintrag des 1. Mai 2020 im Buch der Geschichte eine positive Botschaft haben.

 

Anmerkungen

[1] Vor 130 Jahren, am 14. Juli 1889 in Paris, beschlossen rund 400 Delegierte sozialistischer Parteien und Gewerkschaften aus zahlreichen Ländern, gemeinsam für Arbeitszeitverkürzung zu kämpfen. Die Versammelten verabschiedeten eine Resolution in der es hieß: »Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation zu organisieren, und zwar dergestalt, dass gleichzeitig in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen.« In Deutschland erklärten bis Dezember 1889 18 Gewerkschaften ihre Absicht, am kommenden 1. Mai zu streiken. Trotz drohender Sanktionen seitens der Staatsgewalt beteiligten sich am 1. Mai 1890 in Deutschland rund 100.000 Arbeiter*innen an Streiks, Demonstrationen, Kundgebungen und sogenannten Maispaziergängen.

 

 

 

Quelle und Bild: https://www.sozialismus.de