Von Angela Klein
Die Bundestagsdrucksache 17/12051* vom 3.1.2013 enthält zwei Risikoanalysen: eine zu Hochwasser und eine zu Seuchen. Sie wurden in Auftrag gegeben unter dem Eindruck der Zunahme der Epidemien und der Hochwasser in den 2000er Jahren. Die Risikoanalyse «Pandemie durch Virus Modi-SARS» wurde unter fachlicher Federführung des Robert-Koch-Instituts und Mitwirkung weiterer Bundesbehörden durchgeführt.
Die Analyse beschreibt ein «außergewöhnliches Seuchengeschehen», verursacht durch einen «neuartigen Erreger» des Typs SARS. Er kommt aus Asien und wird von Reisenden nach Deutschland eingeschleppt.
«Obwohl die laut Infektionsschutzgesetz und Pandemieplänen vorgesehenen Maßnahmen durch die Behörden und das Gesundheitssystem schnell und effektiv umgesetzt werden, kann die rasche Verbreitung des Virus aufgrund des kurzen Intervalls zwischen zwei Infektionen nicht effektiv aufgehalten werden. Zum Höhepunkt der ersten Erkrankungswelle nach ca. 300 Tagen sind ca. 6 Millionen Menschen in Deutschland an Modi-SARS erkrankt … Nachdem die erste Welle abklingt, folgen zwei weitere, schwächere Wellen, bis drei Jahre nach dem Auftreten der ersten Erkrankungen ein Impfstoff verfügbar ist.
Das Besondere an diesem Ereignis ist, dass es erstens die gesamte Fläche Deutschlands und alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Ausmaß betrifft, und zweitens über einen sehr langen Zeitraum auftritt. Bei einem Auftreten einer derartigen Pandemie wäre über einen Zeitraum von drei Jahren mit drei voneinander getrennten Wellen mit immens hohen Opferzahlen und gravierenden Auswirkungen auf unterschiedliche Schutzgutbereiche zu rechnen.» Am Ende gibt es 7,5 Millionen Tote. «Das Gesundheitssystem wird vor immense Herausforderungen gestellt, die nicht bewältigt werden können.»
Abgesehen vom Dreijahreszeitraum – derzeit geht man davon aus, dass ein Impfstoff Anfang bis Mitte 2021 zur Verfügung steht – und der beim gegenwärtigen Kenntnisstand weitaus geringeren Sterblichkeitsrate beschreibt die Projektion das Seuchengeschehen sehr realitätsnah.
Die Verantwortung der Regierenden
Es soll hier nicht behauptet werden, die politisch Verantwortlichen hätten das jetzige Auftreten der Covid-19-Epidemie voraussehen müssen. Seuchen treten ebenso unberechenbar auf wie Hochwasser. Sie haben zwar beide ihre Ursache auch in der Art und Weise, wie der Mensch die Erde bewohnt und bewirtschaftet – und daran können wir in der Tat eine Menge ändern, aber das ist eine langfristige Aufgabe. Doch was eine Seuche auslöst, das ist unvorhersehbar. Das einzige, was politisch Verantwortliche bei dieser Sachlage tun können, ist, alle Vorkehrungen zu treffen, damit sie sich möglichst wenig ausbreitet und den Betroffenen möglichst wirksam geholfen wird. Anders gesagt: Das Gesundheitssystem muss maximal darauf vorbereitet sein, die Ansteckungsgefahr zu reduzieren (etwa durch flächendeckende Tests) und die Erkrankten schnell und gut zu behandeln. An dieser Aufgabe sind die Regierungen Merkel jedoch grandios und in verantwortungsloser Weise gescheitert.
Am Ende der 2000er Jahre war klar, dass wir wieder vermehrt mit Pandemien rechnen müssen. Im ersten Jahrzehnt des Jahres 2000 gab es gleich vier davon: SARS-CoV2002/2003; eine Virusgrippe 2004/2005; die Vogelgrippe 2004–2016; die Schweinegrippe 2009/2010. Eine solche Ballung in einem Jahrzehnt hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Grund genug also für einen Gesundheitsminister, alarmiert zu sein. Eine erste Maßnahme wurde mit der in Auftrag gegebenen Analyse auch ergriffen, danach aber verlief die Sache im Sande. Warum?
Die unmittelbaren Gründe dafür können wir nicht aufdecken, wir wissen nicht, in welchen Schubladen was warum verschwunden ist. Vielleicht wurden auch Notfallpläne an die Kommunen weitergereicht, eine ausreichende Vorbereitung ist das noch nicht. Es gibt allerdings einen strukturellen Grund, der den Mangel an Vorbereitung erklären kann: Ein vorausschauendes Gesundheitssystem muss für solche Fälle größere Kapazitäten – vor allem eine schnell mobilisierbare Reserve – bereit halten, als im Regelfall notwendig ist. Das aber widerspricht dem neoliberalen Diktat der «betriebswirtschaftlichen Effizienz» – auf deutsch: Es rechnet sich nicht, es kostet nur.
In den 90er Jahren aber wurde unser Gesundheitssystem einer Rosskur unterworfen: Im Zeitraum von 1991 bis 2017 hat sich die Zahl der Krankenhäuser um 19,45 Prozent verringert – fast ein Fünftel. Gerade öffentliche Krankenhäuser wurden zugemacht, wurden aus der Fläche herausgenommen und mit dem Argument der größeren Effizienz in großen Gesundheitsfabriken konzentriert. Um Platz für privat betriebene Krankenhäuser zu machen – die privaten Träger konnten ihren Anteil auf heute rund 37 Prozent ausbauen! –, wurde den öffentlichen Krankenhäusern verordnet, nach Kriterien der betriebswirtschaftlichen Effizienz zu wirtschaften: 2004 wurde das System der Fallpauschalen eingeführt. Dieses Abrechnungssystem erlaubt überhaupt keine Vorsorge mehr, weil es die Krankenhäuser zu maximalen Behandlungszahlen bei einem möglichst hohen Umschlag von Patienten zwingt (auch das verdanken wir Rot-Grün, nebst Hartz IV).
Die Zahl der Krankenhausbetten sind von 1991 bis 2008 um 168000, sprich: um ein Viertel zurückgegangen (von 675000 auf 500000, bei gleichzeitig steigenden Patientenzahlen): 1991 zählten die Krankenhäuser 14,5 Millionen Patienten, im Jahr 2019 über 19 Millionen. Trotz dieses steilen Anstiegs ist die Zahl der im Krankenhaus Beschäftigten seit 1991 im wesentlichen gleichgeblieben – was bedeutet, dass ihre Arbeitsbelastung massiv zugenommen hat.
2012 war also bereits klar, dass das so heruntergefahrene Gesundheitssystem einem Seuchengeschehen wie von der Risikoanalyse skizziert nicht standhalten können würde. Spätestens jetzt hätte man umsteuern müssen, um «Schaden vom Volk abzuwenden», wie es im Amtseid heißt. Das ist nicht erfolgt, der Amtseid wurde gebrochen.
Nicht möglich?
Nun wird behauptet, ein Gesundheitssystem könne eine solche Pandemie gar nicht auffangen, ein Gesundheitssystem könne nicht permanent im Seuchenmodus arbeiten. Machen wir dazu eine Gegenrechnung auf:
Eine Regierung, die im Jahr 2012 erfährt, dass jederzeit eine gefährliche Pandemie das Land treffen kann, würde als erstes den Irrweg der Fallpauschalen stoppen und die Kapazitäten wieder aufbauen, die in den 90er Jahren verloren gegangen sind – also 168000 Betten.
Sie würde des weiteren in Rechnung stellen, dass die Zahl der Patienten stark gestiegen und also die Bettenzahl dementsprechend anzupassen ist – macht bei gleichbleibendem Verhältnis Patient/Bettenzahl ein zusätzliches Plus von knapp 240000 Betten.
Wir hätten heute also über 400000 Betten mehr (vier Fünftel der derzeitigen Kapazitäten) – und hätten dabei nur den Status quo wiederhergestellt bzw. an die gestiegene Zahl von Patienten angepasst. Wir hätten noch gar keine Sondervorkehrungen für die Pandemie getroffen. Und wir hätten acht Jahre Zeit gehabt, diese Kapazität aufzubauen.
Eine verantwortliche Regierung würde dafür sorgen, dass mehr medizinisches Personal ausgebildet wird, damit die zunehmende Zahl an Patienten auch behandelt werden kann.
Sie würde ein System der flächendeckenden Versorgung aufbauen: allgemeinmedizinische Zentren, Ärztehäuser und ähnliches, die für Notfälle auch eine gewisse Anzahl Betten bereithalten. Und das eben nicht nur in der Kreisstadt Heinsberg, sondern auch im Städtchen Gangelt, das immerhin 12000 Einwohner zählt.
Sie könnte dann im Notfall deutlich flexibler auf den Ansturm von Erkrankten reagieren, weil dieser Ansturm nicht so geballt auf die einzelnen Krankenhäuser zukäme.
Ein Leben jenseits des Marktes
Für ein solches System braucht man nicht einmal Sozialismus. Es wäre auch im Kapitalismus möglich, setzt aber voraus, dass das Gesundheitssystem ganz aus dem Marktgeschehen herausgenommen wird. Darum geht es jetzt, das ist die erste und dringendste Lehre aus Corona: Im Gesundheitssystem ist ein Systemwandel erforderlich.
Bei den politisch Verantwortlichen ist das nicht angekommen. Sie betreiben Flickschusterei, mobilisieren punktuell riesige Mittel, um den Teufel in der Flasche zu halten, machen aber keine Anstalten, das Grundübel zu beseitigen. Den Preis dafür zahlen die Beschäftigten, vor allem in den Krankenhäusern, die die Defizite jetzt auszubügeln haben. Die Regierenden aber stehen eher auf der Seite der Gesundheits- und Pharmaindustrie. Daniel Bahr, Gesundheitsminister im Jahr 2012, ist heute Manager bei der Allianz Private Krankenversicherung.
Corona verändert derzeit in dramatischer Weise unser aller Leben und das Funktionieren der Gesellschaft. Die Beherrschung der Seuche erzwingt, dass die Marktgesetze teilweise außer Kraft gesetzt werden. Auf einmal sind Dinge möglich, die zuvor als undenkbar galten. Das macht den Raum auf, Systemalternativen zu denken. Diese Gelegenheit müssen wir nutzen –jetzt!
*http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/120/1712051.pdf.
Der Beitrag erschien auf https://www.sozonline.de/ und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt. Bild: krankenhaus statt fabrik.de