Die Verwertung und Kommerzialisierung von Kindheit

zappelphilipp1_770Als im April 2013 die UNICEF-Studie „Die Frage nach dem Glück“ an die Öffentlichkeit kam, blieb es verdächtig ruhig. Einen Aufschrei, wie nach den ersten PISA-Tests, als das mathematische Debakel deutscher Schüler die Bildungsrepublik erschütterte, gab es nicht.

Kaum jemand vernahm die Antworten auf die Frage nach ihrem Wohlbefinden, die Kindern in 29 Ländern Europas und Nordamerika gestellt wurde. Wenn man die Selbsteinschätzung der deutschen Kinder mit Kindern anderer Länder vergleicht, sind die jungen Menschen in 21 Staaten zufriedener als bei uns. Kinder in Deutschland fühlen sich alarmierend schlecht, fühlen sich schon in jungen Jahren ausgeschlossen und glauben nicht daran, aktiv an dieser Gesellschaft teilhaben zu können.

Ähnliche Studien zeigen das gleiche Ergebnis: Je größer die sozialen Unterschiede in einem Staat sind, desto schlimmer sind die Folgen für die Gesundheit und Zufriedenheit der Kinder und Jugendlichen. Wenn die Ungleichheit ansteigt, sinken die gleichberechtigten Beziehungen, jeder muss sehen, wo er bleibt und auch das Niveau des Vertrauens verringert sich.

Kindern wird schon sehr früh ihr Platz in der Hierarchie gezeigt. Soziale Prozesse sorgen dafür, dass ein Aufstieg kaum noch gelingt und spätestens in der Grundschule nehmen Kinder die Unterschiede wahr und empfinden ihre konkrete Lebenssituation als individuelles Versagen.

Jedes Kind wird als soziales Wesen geboren, das von Anfang an nicht nur Gegenstände und Geräusche wahrnimmt, sondern auch Gefühle und Befindlichkeiten. Es reagiert auf die Mimik, Gestik, Tonfall und Blick. Schon nach einigen Monaten kann ein Kind erkennen, ob seine Bezugspersonen traurig oder fröhlich sind. Ist das Kind 15 Monate alt, hat es schon ein Gerechtigkeitsgefühl entwickelt, mit 18 Monaten ist es in Lage, andere Kinder zu trösten.

Jedes Kind, soweit es nicht vernachlässigt oder misshandelt wird, entwickelt früh Empathie, also sich in andere Menschen hineinzuversetzen und in sie hinein fühlen zu können.

Ältere Kinder und Jugendliche empören und schämen sich, wenn berechtigte Interessen oder Ziele eines anderen Menschen nicht berücksichtigt werden, seine Gefühle verletzt und ihm in der Not Hilfe verweigert wird.

Was ist aber, wenn solche Empfindungen und Charaktere bei uns gar nicht mehr nachgefragt werden, wenn sie den vorherrschenden Normen und Werten widersprechen. Dort wo der Markt herrscht, herrscht auch die Vorteilsnahme auf Kosten anderer. Es gilt der Wettbewerb, Konkurrenz und die brutale Durchsetzung von Eigeninteressen, als Voraussetzung für persönlichen und wirtschaftlichen Erfolg. Gleichgültigkeit und Rücksichtlosigkeit gewinnen die Oberhand.

Trotzdem ist das emphatische Empfinden die Grundlage für all das, was die Menschen verbindet, Mitgefühl, Rücksichtnahme, Kooperation und Solidarität. Es hat sich in der Evolution sogar als ein Mechanismus entwickelt, der für das Überleben notwendig ist.

Auch deshalb ist es sehr aufwendig, den jungen Menschen Anteilnahme und Mitfühlen abzugewöhnen.

Wie funktioniert das, aus einem liebevollen und mitleidenden Kind, einen machtbesessenen und rücksichtslosen Karrieristen zu machen.

In der Bildung und Erziehung werden ganz bestimmte Persönlichkeitsmerkmale belohnt. Die Kinder werden schon so früh wie eben möglich dem Wettbewerb ausgesetzt. Das Bildungsziel lautet Selbstmanagement, gearbeitet werden muss andauernd an der Steigerung des eigenen Marktwertes und die Kinder mit der höchsten Produktivität werden aus- und erwählt.

Die Medien spielen auch mit, überall gibt es Rankings, Suche nach dem Super Star und harte Wettbewerbe zu sehen, bei denen die Looser öffentlich scheitern.

Parallel dazu werden aufwendige Untersuchungen angestellt, um Kinder als Konsumenten zu gewinnen, die ihre Eltern mit ihren teuren Wünschen nerven. Da findet man heraus, dass Kinder in Alter von 6 Monaten schon innere Bilder von Firmen-Logos und Maskottchen entwickeln oder dass ein Kind im Alter von 2 Jahren Markentreue heraus bilden kann.

Trendforschung im Kinderzimmer ermöglicht dann Kids-Marketing. Es werden eigene Kindertypologien entwickelt, also welcher Kindertyp empfänglich für welche Produkte ist.

Immer wieder soll der Marktwert der Kinder und Jugendlichen gesteigert werden, durch ganz viel oberflächige Kontakte im Netz, richtiges Styling mit Markenkleidung und körperbetontem Habitus.

Kinder werden so zu reinen Konsumenten gemacht und sind damit verwertbar. Sie sollen nicht nur attraktive Waren kennenlernen, sondern auch die emotionalen Bedürfnissen entwickeln, dass es ungemein wichtig ist, Teil der Konsumwelt zu sein. Sie lernen die Regeln der manipulativen Kommunikation, bei der Waren mit Gefühlen verbunden werden, sie zum Kauf verführt und dann mit Glückshormonen belohnt werden.

Die Verengung der Sicht auf den Menschen als ökonomisch nützlich oder unnütz geht einher mit der Aussonderung der „Unnützlichen“. Nur bestimmte Kinder werden dem „Humankapital“ zugerechnet. Die als sozial marginalisiert definierten und „als Problem“ konstruierten Gruppen von Kindern, wie beispielsweise in Armut lebende Kinder, Kinder mit Behinderungen, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder Kinder mit Migrationshintergrund werden meist nicht dem „Humankapital“ zugeordnet, sondern als marktwirtschaftlich nutzlos definiert. Arme Kinder und Jugendliche sind nur brachliegendes „Humankapital“.

Für die Kinder entsteht durch diese andauernde Sortierung, ständigem Wettbewerb und Konkurrenzdruck, Eigenvermarktung und Selbstoptimierung die klassische Zwickmühle. Als soziales Wesen auf die Welt gekommen, Mitgefühl, Rücksichtnahme, Kooperation und Solidarität praktiziert und dann weiß das Kind nicht mehr, welcher Botschaft es glauben soll. Sprachliche und nicht-sprachliche Kommunikation stimmen nicht mehr überein, es muss zwei gegensätzlichen Behauptungen oder Anweisungen gerecht werden. Was sie als Kleinkinder empfunden haben und was von der Familie oder in den pädagogischen Einrichtungen als Norm vermittelt wurde, steht nun den tatsächlichen Rahmenbedingungen, Normen und Werten und sogar Gesetzen völlig entgegen.

Werden sie einem solchen Kommunikationsmuster mehr und mehr ausgesetzt, erkranken sie. Aber dafür gibt ja auch schon lange eine marktgerechte Lösung.

Laut einer Studie der AOK gehören das Aufmerksamkeitsdefzit- und Hyperaktivitätssyndrom, besser bekannt als ADHS mittlerweile zu der am häufigsten diagnostizierten Entwicklungsstörung. Die Verschreibung des Arzneimittels das dagegen wirken soll – vielen als Ritalin bekannt – hat sich in den vergangenen 7 Jahren verdoppelt. Besonders häufig müssen die sogenannten Kannkinder, die gerade erst in die Grundschule gekommen und kurz vor dem Stichtag 6 Jahre alt geworden sind, dieses Medikament nehmen. Weil sie „altersgerecht verspielt“ oder „unbändig und überaktiv“ sind, müssen sie mit einem Psychopharmakon behandelt werden, das ihnen später häufig als Einstiegsdroge für die Sucht nach Medikamenten und illegaler Substanzen dient.

Es gibt seit Jahren ein Bündnis von Ärzten, Pharmaindustrie, Lehrern und Eltern, das daran arbeitet, dem Zappelphilipp die aufgedrückte Karriere nicht zu vermasseln. Im Stress von Schulzeitverkürzungen und Pisauntersuchungen und den entsprechenden Lehrplänen schon in der Grundschule ist für „Störer“ kein Platz und die heftigen Nebenwirkungen werden bei „Stillsitzdrogen“ leicht in Kauf genommen.

Wenn sie dann Jugendliche sind, haben die Kinder zunehmend Schwierigkeiten, sich eine Welt jenseits von Geld und Ware vorzustellen. Sie werden in eine städtisch ausgerichtete Gesellschaft hineingeboren und darin sozialisiert, in der mittlerweile alles zur Ware geworden ist, selbst ihre Bildung, Gesundheit und soziale Kontakte. Sie sind einem permanenten Konkurrenzdruck ausgeliefert, bei dem kein Platz mehr für „konkrete Utopien“ ist. Die Logik von Geld und Ware durchdringt alle Lebensbereiche bis hinein in ihre alltägliche Lebensführung. Sie müssen sich zunehmend als lebendige Waren- und Geldsubjekte verstehen und andauernd an ihrer Selbstoptimierung arbeiten. Ihr möglichst makelloses Gesicht ist zum Markenzeichen mutiert und muss zu Werbezwecken in den „sozialen“ Netzwerken öffentliche gezeigt werden.

Die jungen Menschen wissen genau, dass ihre vielen virtuellen Freunde eigentlich mehr ihre Konkurrenten sind und ihr zukünftiges Leben an Reichtum, Konsumieren, Spaß haben, individuelle Stärke und Durchsetzungsvermögen gemessen wird.

Sie wissen wahrscheinlich noch nicht, dass

  • ihre Arbeitskraft im Zuge der dritten, der mikroelektronischen industriellen Revolution überflüssig geworden ist und nicht mehr gebraucht wird.
  • sie anders als noch ihre arbeitslosen Vorgängergenerationen, nicht zur industriellen Reservearmee gehören, die nach einer Krise wieder eingestellt wird, sondern dass sie überflüssig sind
  • sich durch die Globalisierung und Rationalisierung die Produktivität immens erhöht hat, aber die Anzahl der Arbeitsplätze nicht. Eher hat sich die weltweite Massenarbeitslosigkeit strukturell verfestigt
  • sie keine durchgängige Beschäftigungsbiografie haben werden, sie meist flexible Beschäftigungsverhältnisse eingehen müssen, die kaum eine Lebensplanung ermöglichen und sie sich nicht um eine ausreichende Altersvorsorge kümmern können
  • im Konkurrenzkampf soziales Verhalten als Schwäche ausgelegt wird, Gesund- und Fittheit ausgestrahlt werden müssen, sie ständig erreichbar und mobil sein müssen und nirgendwo Wurzeln schlagen können

und

wenn sie eine Arbeit haben, sie ständig einer Überforderung ausgesetzt sein werden, die sie langfristig körperlich und seelische erkranken lässt.

Die neoliberale Gesellschaft produziert Individuen, die auf die Funktion des Konsumenten reduziert sind, als Norm gilt nur die aktuelle Effizienz, das Ziel ist Gewinn und die Tugend Habgier.

In ihr gibt es keinen fürsorgenden Staat und kein unabhängiges Individuum mehr. Die Instanzen die früher helfen sollten, wie Beratungsstellen, Erziehungshilfe und das Gesundheitswesen sind selbst Teil des Wettbewerbs geworden und wollen die Ursachen dieser schrecklichen Entwicklung nicht mehr bekämpfen.

Je mehr die neoliberale Ideologie Einzug in das politische Handeln findet, desto weniger wird es die Verwirklichung sozialer Menschenrechte geben!

 

Quellen: Buterwegge, Heitmeyer, Ossietzky

Bild: my-feelgood.de