Von der Troika zur Quadriga – das griechische Tarifsystem wurde geschleift und ein Exempel statuiert

GRjpgDer radikale Umbau des griechischen Tarifvertragssys­tems gehörte von Beginn an zu den Kernforderungen der aus Europäischer Kommission (EU), Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfond (IWF) bestehenden Troika.

Seit 2011 arbeitet die Troika ganz intensiv daran, die Flächentarifverträge zu zerstören. Dieses Vorhaben wurde von einer radikalen Dezentralisierung des Tarifsystems und mit einer regelrechten Auflösung der Tarifvertragsbeziehungen in weiten Bereichen der Wirtschaft begleitet. Parallel dazu wurden durch den verordneten wirtschaftlichen Niedergang massiv Arbeitsplätze vernichtet und die Erwerbslosigkeit traf über die Hälfte der jungen Menschen in Griechenland.

Die im Januar 2015 neu gewählte Syriza-Regie­rung setzte den Wiederaufbau des griechischen Tarifvertrags­systems ganz oben auf ihre Agenda. Bereits im April 2015 hat sie einen Gesetzes­vorschlag „Wiederherstellung des Tarifvertragssystems“ vorgelegt, der aber wegen dem massiven Wiederstand der Troika nicht umgesetzt werden konnte. Sie bestand konsequent auf die Einhaltung der ersten beiden Memoranden, die ja verantwortlich für die Auflösung der Tarifvertragsbeziehungen waren.

Im August 2015 wurde ein drittes Memorandum vereinbart, in dem vorgesehen ist, die Entwicklung des griechischen Tarifver­tragssystems unter Einbeziehung unabhängiger Experten und internationaler Organisationen, darunter auch die Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), zu überprüfen. Auf dieser Grundlage müssen dann weitere Reformen durchgeführt werden, die sich an den „besten Praktiken in der EU“ orientieren sollen.

Der massive Eingriff demokratisch nicht legitimierter Institutionen in das Tarifvertragssystem eines souveränen Staates wird also fortgesetzt und ist ein weiterer Anschlag auf die europäische Gewerkschaftsbewegung. Die Diskussion um die Zukunft des griechischen Tarifvertragssystems erhält damit eine internationale Dimension und wird zu einem exemplarischen Konflikt für die europäischen Gewerkschaften.

Die Troika ging von Anfang an davon aus, dass vor allem durch eine Verringerung der Lohn­kosten die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft wieder hergestellt werden könnte. Hier wurde sie von der folgenreichen Hartz IV-Gesetzgebung in Deutschland inspiriert. Für die Umsetzung dieses Vorhabens ist es erforderlich, die institutionellen Sicherheiten des griechischen Tarifvertragssystems zu beseitigen und den Unternehmen mehr Spielraum für die Absenkung der Löhne zu geben.

Während das erste Memorandum von 2010 hier noch eher vorsichtig auf eine Politik der „organisierten Dezentralisierung“ setzte und den Unternehmen die Möglichkeit gesonderter Unternehmenstarifverträge einräumte, ging es beim zweiten Memoran­dums von 2012 zur Sache.

Dieses Umbauprogramm beinhaltete

  • die Abschaffung des Günstigkeitsprin­zips in der Hierarchie der Tarifvertragsebenen, was bedeutet, dass seitdem die Unternehmen generell die Möglichkeit haben, durch betriebliche Tarifverträge von den Flächentarifvertragsregelungen nach unten abzuweichen. Die Grenze nach unten bildet der nationale Mindestlohn
  • die Aussetzung des Instruments der Allgemein­verbindlicherklärung – Die Allgemein-verbindlicherklärung eines Tarifvertrags bewirkt z.B. nach deutschem Recht, dass die Rechtsnormen dieses Tarifvertrags auch für alle bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer innerhalb des sachlichen und räumlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrags verbindlich werden
  • erstmals auch nicht-gewerkschaftlichen Arbeitnehmerver­tretungen das Recht einzuräumen, auf Unternehmensebene Tarifverträge abzuschließen, sofern diese von mindesten 3/5 der Belegschaft unterstützt werden.

Diese Maßnahmen wurden ab 2012 von weiteren Verän­derungen begleitet, wie

  • die Reduzierung der Nachwir­kung von Tarifverträgen von sechs auf drei Monate,
  • die Begrenzung der Geltungsdauer von Tarifverträgen auf drei Jahre
  • die Abschaffung der gewerkschaftli­chen Sonderrechte im Hinblick auf das Schlichtungsver­fahren

und besonders gravierend war der gesetzliche Kürzungseingriff in den tarifvertraglich vereinbarten Mindestlohn um 22 Prozent (32 Prozent für junge Beschäftigte unter 25 Jahren). Der Min­destlohn wird jetzt nicht mehr durch einen nationalen Tarifver­trag, sondern per Gesetz festgelegt.

Die Auswirkungen waren für die Beschäftigten und ihren Gewerkschaften in Griechenland katastrophal.

Vor dem Ausbruch der Krise wurden jährlich noch zwischen 150 und 250 neue Tarifverträge für bestimmte Branchen und Berufsgruppen vereinbart. Heute sind es noch etwa 20 neu verhandelte Tarifverträge pro Jahr. In weiten Teilen der griechischen Wirtschaft kommt es zu einer regelrechten Auflösung der Tarifvertragsbeziehungen. Schätzungen gehen davon aus, dass heute nur noch eine kleine Minderheit der Beschäftigten unter den Geltungsbereich eines Flächentarifvertrags fällt.

Bei den neuen Unternehmenstarifverträgen fällt auf, dass die große Mehrheit nicht von Gewerkschaften, sondern von nicht-gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretungen abgeschlossen wurde. Nach einer Untersuchung der Universität Patras wurden von insgesamt 1.336 Unternehmenstarifverträgen, die zwischen November 2011 und Dezember 2013 abgeschlossen wurden, lediglich 30 Prozent von Gewerkschaften und 70 Prozent von nicht-gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretungen unterzeichnet.

In fast allen Unternehmenstarifverträgen wurden hierbei die neuen tarifrechtlichen Möglichkeiten ausgenutzt, die durch den Wegfall des Günstigkeitsprinzips eröffnet wurden: Drei Viertel aller Vereinbarungen enthielten demnach Lohnkürzungen, während man dem Rest die Löhne auf dem bestehenden Niveau einfror. Lohnerhöhungen fanden sich lediglich in 1,5 Prozent aller Vereinbarungen wieder. Die von nicht-gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretungen unterzeichneten Unternehmenstarifverträge enthielten zu fast 90 Prozent Lohnkürzungen. Die Gewerkschaften vereinbarten zwar mehrheitlich Lohnstopps, aber in mehr als 40 Prozent aller Fälle stimmten sie jedoch auch Lohnkürzungen zu.

Der Umbau des griechischen Tarifvertragssystems hat wesentlich zur Kürzung der Löhne in Griechenland beigetragen. Der durchschnittliche Reallohn ging um 20 Prozent zurück.

Wie damit die Wettbewerbsfähigkeit erhöht wird und zu einem neuen export-getriebenen Wirtschaftsaufschwung zu gelangen, sollte die Troika mal erklären. Die Lohnkürzungen haben im Gegenteil zu einem drastischen Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage geführt und die Krise weiter angeheizt.

Bereits drei Monate nach ihrer Wahl hat die Syriza-Regierung im April 2015 einen konkreten Gesetzentwurf zur „Wiederherstellung des Tarifvertragssystems“ vorgelegt. Im Kern sah der Gesetzentwurf in einigen zentralen Punkten die Wiederherstellung des alten Tarifvertragsrechts vor, darunter die Wiedereinführung des Günstigkeitsprinzips in der Hierarchie der Tarifverträge, die erneute Anwendung von Allgemeinverbindlicherklärungen sowie die Wiedereinsetzung von Gewerkschaften als einzi­ge legitimierte Vertragspartei auf der betrieblicher Ebene. In Unternehmen ohne betriebliche Gewerkschaftsvertre­tung sollten die Unternehmenstarifverträge durch lokale oder sektorale Gewerkschaftsvertreter vereinbart wer­den. Außerdem sah der Gesetzentwurf vor, im Rahmen von zwei Schritten bis Mitte 2016 die Kürzungen beim nationalen Mindestlohn zurückzunehmen und das Min­destlohniveau von 2011 wieder herzustellen.

Die Umsetzung dieses Gesetzentwurfes scheiterte jedoch am Widerstand der Troika, die darin einen Verstoß gegen das zweite Memorandum sah.

Auch im dritten Memorandum ist explizit festgehalten, dass es keine einfache „Rückkehr zu den politischen Vorgaben der Vergangen­heit geben“ darf.

Im August wurde dieses dritte Memorandum verabschiedet. Der Vertragspartner von Griechenland ist nun die sogenannte Quadriga (der ehemaligen Troika plus den Vertretern des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)). Inhaltlich schreibt das dritte Memorandum vor, dass sich die zukünftige Entwicklung des griechischen Tarifvertragssystems an die „in der EU geltenden bewährte Verfahren anpassen“ soll. Es wurde nun vereinbart, dass die griechische Regierung „bis Oktober 2015 einen von unabhängigen Sachverständigen geführten Konsultationsprozess einleitet, um unter Berücksichtigung von auf internationaler und europäischer Ebene bewährten Verfahren eine Reihe bestehender Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu prüfen, darunter Massenentlassungen, Arbeitskampfmaßnahmen und Tarifverhandlungen“. Auf dieser Grundlage sollten dann weitere Reformen durchgeführt werden, die sich an den „besten Praktiken in der EU“ ori­entieren sollen.

Griechenland konnte durchsetzen, dass neben anderen internationalen Organisationen auch die ILO an dem Konsultationsverfahren beteiligt wird. Das ist schon mal gut, denn deren Vorstellungen von „besten Praktiken in der EU“ sind bekannt, nämlich die von einem entwickelten Tarifvertragssystemen mit starken Flächentarifverträgen und einer hohen Tarifbindung. In Bezug auf Griechenland hat die ILO 2012 bereits deutlich gemacht, dass die staatlichen Eingriffe in geltende Tarifverträge einen Verstoß gegen das in der ILO-Konvention Nr. 98 gesicherte Prinzip der Tarifautonomie darstellen. Außerdem brachte sie ihre Sorge zum Ausdruck, dass durch die politisch vorangetriebene Dezentralisierung der Tarifverhandlungen viele Beschäftigte gar keinem Tarifschutz mehr unterliegen. Weiter ist die ILO der Ansicht, dass mit der Aufhebung des Günstigkeitsprinzips zudem die Gefahr einer dauerhaften „Destabilisierung“ der Tarifbeziehungen verbunden ist und stellt damit eine Schwächung der in den ILO-Konventionen Nr. 87 und Nr. 98 enthaltenen Grundrechte dar. Besonders kritisch sieht die ILO auch die Rolle der nicht-gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretungen, sie würden ernsthaft die Position der Gewerkschaften als Repräsentanten der Beschäftigten in Tarifverhandlungen unterminieren.

Mit der Beteiligung der Quadriga auf der einen und der ILO auf der anderen Seite ist dabei sichergestellt, dass es keine innergriechische, sondern eine internationale Auseinandersetzung sein wird, deren Ergebnis auch auf andere Länder Einfluss haben wird. Deshalb sollten sich die europäischen Gewerkschaften und besonders die starken deutschen Gewerkschaften in diese Auseinandersetzung einmischen und die griechische Seite bei ihrem Ansatz für einen Wiederaufbau des Tarifvertragssystems intensiv unterstützen.

 

Weitere Infos:

Thorsten Schulten Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung [PDF]

Ein Plan B für Europa – aus dem Finanzstaatsstreich gegen Griechenland müssen Lehren gezogen werden

Quelle: Friedrich Ebert Stiftung, ILO

Bild: 20zwoelf.de