Textilarbeiterinnen in Dhaka werden nach wie vor ausgebeutet. Das Schicksal des Mädchens Shimu ist eines von vielen.
Eine Frau schlendert durch eine sommerliche Fussgängerzone, begutachtet und kauft eines der dünnen T-Shirts, die auf Ständern vor den Läden hängen. Eine Szene, die es auf europäischen Einkaufsstrassen jeden Tag dutzendfach gibt. «Keine Wahnsinnsqualität, aber den Sommer über wird es schon halten», denkt die Käuferin vielleicht. Das Etikett, auf dem «Made in Bangladesh» steht, nimmt sie kaum zur Kenntnis. Für sie ist es nicht wichtig.
Für Shimu schon. Bangladeschs Hauptstadt Dhaka ist ihr Zuhause. 2013 schaute sie in die Kamera des Journalisten und Filmemachers Manfred Karremann, der eine Reportage über Bangladesch für das ZDF drehte. Shimu war jung und wollte Ärztin werden, obwohl sie im Gerberviertel Hazaribagh von Dhaka lebt. Im Fluss wohne etwas Böses, fand sie damals. Er ist schwarz und voll von Müll, zeigt der Film. Ins Wasser flossen sowohl Fäkalien wie giftige Chemikalien aus der Gerberei. Hazaribagh war und ist einer der giftigsten Orte der Welt.
Haarsträubende Wohn- und Umweltbedingungen
Shimus Mutter arbeitete in der Textilindustrie, wie viele Frauen im Gerberviertel. 2013 hiess das: Schwere bis unmenschliche Arbeitsbedingungen und viel zu wenig Lohn.
Im selben Jahr ereignete sich die Katastrophe von Rana Plaza. Über 1100 Menschen starben, als die Textilfabrik einstürzte, die meisten davon Frauen.
2014 hatte der Journalist Shimu wieder besucht. Sie war noch immer gefasst. Ihr Vertrauen in die Zukunft war noch da, aber sie konnte zeitweise nicht zur Schule gehen. «Schmerzen», sagte sie. Sie kämen und gingen. Shimu hatte Typhus, eine Krankheit, die tödlich verlaufen kann und meist durch schmutziges Wasser ausgelöst wird. Das ZDF brachte sie in eine Klinik, sie wurde behandelt und hoffte, wieder in die Schule gehen zu können.
Situation der Näherinnen hat sich kaum verbessert
Neun Jahre später, Anfang 2023, sagt Claudia Brück von Fairtrade zum ZDF, die Textilindustrie habe auf das Rana-Plaza-Unglück Bangladeschs reagiert. Arbeitsschutz und Gebäudesicherheit hätten sich verbessert und es gebe mehr Kontrollen.
Tatsächlich ist Hazaribagh etwas sauberer geworden. Im Gerberviertel werde jetzt nicht mehr gegerbt, berichtet Karremann. Das giftige und übelriechende Geschäft hat man in einen Vorort der 21-Millionen-Stadt Dhaka verlegt. In Sawar sollte es sauberer zugehen, sagt Berndt Hinzmann von INKOTA, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in Berlin. Es gebe Kläranlagen, aber sie funktionierten teilweise nicht. Die Arbeiter der Lederindustrie seien weiter in einer prekären Situation.
Die vier Millionen Textilarbeiterinnen in Bangladesch arbeiten noch immer zu Hungerlöhnen. Ihr Mindestlohn beträgt 70 Euro pro Monat, manche Näherinnen verdienen nicht einmal das. Die Hälfte des Lohns der Näherinnen in Sawar geht für die Miete der bescheidenen Behausung drauf, die das ZDF im Film zeigt. Eine Familie wohnt in der Regel in einem einzigen Raum. Der Rest müsste für Schulgeld und Lebensmittel reichen. Die Anstellungen sind begehrt, keine wehrt sich.
70 Prozent der Näherinnen sind hoch verschuldet
Auch wenn die Näherinnen so viel wie möglich arbeiten, Überstunden machen und auf freie Tage verzichten, reicht ihnen das Geld meist nicht. Ein existenzsichernder Lohn wäre dreimal so hoch wie die gesetzliche Untergrenze, rund 200 Euro pro Monat. Der Grossteil der Näherinnen sei hoch verschuldet, sagt Gisela Burckhardt von FEMNET.
Auch von Shimus Zuversicht ist 2023 nichts geblieben. Das ZDF hat das Mädchen aus Dhaka 2023 wieder besucht und ihr Schicksal in einer Reportage für das Format 37° dargestellt. Sie schaut in die Kamera, weint, wischt sich mit einem Zipfel des Saris die Tränen ab. Sie habe Angst vor der Zukunft sagt sie. Derzeit pflege sie ihre Mutter, die Krebs bekommen habe. «Wenn sie stirbt, sind wir ganz allein», sagt sie. Die Schule hat sie deshalb abgebrochen. Die Familie braucht Geld für die Behandlung.
Krankheit ist das grösstes Risiko für die Näherinnen
Krankheit sei das grösste Armutsrisiko, sagt Burckhard von FEMNET. Wer ausfällt, bekommt nicht nur keinen Lohn und kein Krankengeld, es fallen auch Arzt- und Medikamentenkosten an, die Niedrigverdiener nicht bezahlen können. «Wenn man krank ist, ist es fast unmöglich, in Dhaka zu überleben», sagt sie. Viele Näherinnen gingen so lange arbeiten, bis es wirklich nicht mehr gehe.
Wie bei Shimu entsteht so ein Kreislauf. Überarbeitung und schlechte Umweltbedingungen führen zu Krankheit. Die Kinder brechen ihre Schulbildung ab, weil sie der Familie helfen und arbeiten gehen müssen. So werden sie wieder ungelernte Arbeiter mit einem Lohn, der nicht ausreicht.
Wenn sie zu jung für die Industrie sind, kann es noch schlimmer kommen. Der Film «Fast Fashion» zeigt Kinder, die am Bahnhof von Dhaka betteln. Sie werden dorthin geschickt, um Arbeit zu finden, Geld nach Hause zu bringen. Auch sie haben Träume. Ibrahim (8) will Imam werden, Sheila (9) Sängerin. Das jüngste Kind, das er getroffen habe, sei drei Jahre alt gewesen, sagt Rumi Momtaz, der zehn Jahre für eine deutsche Organisation im Kinderschutz gearbeitet hat. Die Kinder am Bahnhof würden oft Opfer von Gewalt und Ausbeutung.
Kleidung aus Bangladesch geht in die USA und nach Europa
2021 waren 86 Prozent der Ausfuhren aus Bangladesch Bekleidungsexporte. Die grössten Abnehmer von Textilien aus Bangladesch sind Deutschland und die USA. Die Kleidungsstücke sind sehr günstig, auch Lederwaren aus Bangladesch sind gefragt. Die Bekleidungskette «New Yorker», die T-Shirts aus Bangladesch verkauft, lehnte ein Gespräch mit dem ZDF ab.
Das neue T-Shirt der Käuferin von oben wird inzwischen getragen oder auch nicht, wandert in die Wäsche, ist irgendwann ausgewaschen, aber noch tragbar. Vielleicht überlebt es noch ein Jahr. Wie Shimu.
NGOs hoffen auf das Lieferkettengesetz
In der Lederverarbeitung, wo hauptsächlich Männer arbeiten, sind die Mindestlöhne rund doppelt so hoch, aber auch das reicht nicht. Lederwaren und Textilien aus Bangladesch zu boykottieren, sei der falsche Weg, um den unmenschlichen Lebensumständen der Näherinnen und Textilarbeiter zu begegnen. Das sagen alle vom ZDF befragten Expertinnen und Experten. Die rund vier Millionen Angestellten der Textilindustrie brauchen die Arbeit – und sei sie noch so schlecht bezahlt.
Mit diesem Argument lässt sich auch Fast Fashion und die Wegwerfmentalität rechtfertigen: Sie erhalten Arbeitsplätze. Eine Kontroverse pro und contra Boykott veröffentlichte katholisch.de 2018.
Entwicklungshilfe-Organisationen empfehlen, die Konsument:innen sollten auf Labels achten, auch wenn diese in Bezug auf die Arbeitsbedingungen häufig wenig aussagekräftig seien. Hoffnung gebe es – zum Beispiel in Form des Lieferkettengesetzes der EU. Sofern es denn durchgesetzt werde. Offensichtlich genügt es nicht, auf die Selbstverantwortung der Textilkonzerne zu zählen.
Bisher wälzten die Handelsketten die Kosten für mehr Sicherheit in Bangladesch nach unten ab, berichtete Human Rights Watch 2019. Greenpeace warnte 2022 vor der neuen chinesischen Fast-Fashion-Marke Shein. In einem aktuellen WISO-Beitrag kritisiert auch das ZDF die Arbeitsbedingungen bei der schnell wachsenden Kette (ab 12:00).
Weiterführende Informationen:
- «Fast Fashion – Nähen zum Überleben», Manfred Karremann für ZDF (Video, 28 min)
- «Mind the Gap – A Study on Garment Workers in Bangladesh», Studie von FEMNET (2023)
- «Mehr Shein als Sein», Greenpeace 2022
- «Billige Shirts und Textilien gibt es nicht ohne Sklavenarbeit», Infosperber 06/2023
- «Die Ausbeutung in der Textilindustrie geht weiter», Daniela Gschweng für Infosperber 06/2016
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Die Autorin:
Daniela Gschweng ist freischaffende Journalistin und ausgebildete Informatikerin.
Der Beitrag erschien auf https://www.infosperber.ch und wird mit freundlicher Genehmigung der Autorin und Redaktion hier gespiegelt. Bild: Seit 2013 begleitet Manfred Karremann das Mädchen Shimu. Ihre Zukunft: vermutlich ungelernte Arbeiterin in einer Näherei. © ZDF/Manfred Karremann