Von Tina Keller und Elke Steven
Das Grundrechtekomitee hat schon kurz nach seiner Gründung das Instrument der Demonstrationsbeobachtung zum Schutz des fundamentalen Grundrechts auf Versammlungsfreiheit etabliert. Eine genaue Beobachtung der vielfältigen Ereignisse ist die Grundlage für deren Einordnung in die politische Vorgeschichte und die Bewertung, basierend auf einem prinzipiellen Grundrechts- und Demokratieverständnis. Nach über 40 Jahren stellen wir die Erfahrungen auf den Prüfstand und kommen zu dem Ergebnis, dass es als radikal-demokratisches Werkzeug zur Verteidigung der Versammlungsfreiheit weiterhin notwendig bleibt.
Öffentliche Versammlungen sind sowohl Ausdruck als auch unmittelbarstes Werkzeug gelebter Demokratie. Das Grund- und Menschenrecht, demonstrieren zu können, gehört zu den wenigen im Grundgesetz garantierten Möglichkeiten, sich unmittelbar direkt öffentlich zu äußern. Die Demonstrierenden bestimmen selbst, wie sie thematisch und formal die Öffentlichkeit erreichen wollen. Dieses Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) zu schützen und unverkürzt zu bewahren, ist ein wesentliches Ziel der Demonstrationsbeobachtungen, die das Komitee für Grundrechte und Demokratie seit 1981 organisiert. Ihre Wirkungsweise wollen wir mit diesem Artikel reflektieren.
Demonstrationsbeobachtungen sollen den oft einseitigen Darstellungen von Polizei und Politik eine möglichst detaillierte Beobachtung gegenüberstellen. Dass dies nötig ist, zeigt sich immer wieder. „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“,[1] behauptete der damalige erste Oberbürgermeister von Hamburg, Olaf Scholz, als die Vorwürfe seitens vieler Demonstrierender anlässlich der Polizeieinsätze während des G20-Gipfels in Hamburg 2017 massiv wurden. Viele der Leser*innen werden die Bilder von damals noch im Kopf haben – aus dem Fernsehen oder weil sie selbst vor Ort waren. Im Vorfeld zu den Protesten gegen den G7-Gipfel fünf Jahre später in Elmau begründete der bayerische Innenminister Herrmann anstehende Grenzkontrollen wie folgt: „Die weltpolitische Lage hat sich im Vergleich zu damals (Bezugnahme auf den G7 in Elmau 2015, Anm. d. Autorinnen) leider weiter verschärft. Insoweit müssen wir beispielsweise auch mit einem größeren Potential von Chaoten rechnen, die aus dem Ausland einreisen wollen, nur um im Umfeld des Gipfels Randale zu veranstalten.“[2]
Dies sind nur zwei Beispiele dafür, wie die offizielle Politik versucht, vor oder nach einem Protestgeschehen die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen. Sowohl die Vorabkriminalisierung von Demonstrierenden, die den späteren polizeilichen Einsatz von Gewalt legitimieren soll, als auch die Leugnung von Fakten sind durchaus typisch. Aus diesem Grund beginnt für uns die Beobachtung eines Protestgeschehen schon vor den eigentlichen Demonstrationen, indem wir die Äußerungen von Politik und Polizei sowie die mediale Berichterstattung im Vorfeld analysieren.
Mit unseren möglichst detaillierten Beobachtungen während der Demonstrationen und einem daraus entstehenden sachlichen Bericht, der die vielfältigen Formen des Demonstrierens aufzeigt und das Geschehen in einen Gesamtzusammenhang einordnet, stellen wir der politischen, aber auch der medialen Berichterstattung Fakten entgegen. Unsere Interpretationsbasis ergibt sich dabei nicht aus den Versammlungsgesetzen, sondern aus einer radikal-demokratischen Interpretation des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit
40 JAHRE DEMOBEOBACHTUNG IN EINER SICH VERÄNDERNDEN POLITISCHEN LANDSCHAFT
Am 28. Februar 1981 organisierte das Komitee für Grundrechte und Demokratie die erste Demonstrationsbeobachtung anlässlich der verbotenen Demonstration gegen die Nutzung der Atomenergie rund um Brokdorf. Der juristische Streit um diese Demonstration führte 1985 zu der bis heute bedeutenden sogenannten Brokdorf-Entscheidung[3] des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Seither haben sich die Verhältnisse in vielerlei Hinsicht verändert. Im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte hat sich die Wahrnehmung des Grundrechts gewandelt. Für die meisten Personen der BRD war es bis Mitte der 1970er Jahre noch längst nicht selbstverständlich, sich an Demonstrationen, gar an zivilem Ungehorsam zu beteiligen. Die Wahrnehmung des Grundrechts ist danach immer selbstverständlicher geworden, Menschen vertreten ihre Interessen auch auf der Straße, um Aufmerksamkeit auf Probleme zu lenken und Druck auf die Politik auszuüben. Zugleich haben Demonstrierende die Ausdrucksformen des Protestes ausdifferenziert. Sie haben Möglichkeiten entwickelt, auch Polizeiabsperrungen zu umgehen, Blockaden zu organisieren, Situationen theatralisch zu ironisieren, um Spannungen abzubauen. Nicht zuletzt die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere der bereits erwähnte Brokdorf-Beschluss (1985), haben diesen selbstbewussten Umgang gefördert und eine Grundlage dafür geschaffen, Demonstrationen als „Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers“[4] zu verstehen. Die Feststellung „Versammlungen enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“,[5] ist heute zumindest in der Theorie akzeptiert.
Mit der Wahrnehmung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit ist häufig eine Infragestellung des (durch Regierungen mit geformten und aufrechterhaltenen) Status quo verbunden. Folglich müssen „die Herrschenden“ versuchen, diese Äußerungsform andauernd zu beschneiden. Sie tun dies auch durch neue Gesetze. Die Einführung landesspezifischer, zumeist immer restriktiverer Versammlungsgesetze ist Ausdruck dessen. Ebenso dienen erweiterte Polizeigesetze häufig diesem Ziel. Mit immer weitgreifenderen Methoden wird in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit eingegriffen und es werden diejenigen mindestens abgeschreckt, wenn nicht gar kriminalisiert, die an Demonstrationen teilnehmen: Verbote von Camps und anderen Unterbringungsmöglichkeiten, Demonstrationsverbote, Speicherung von Daten in der Datei „Gewalttäter Links“ des Bundeskriminalamts allein aufgrund des polizeilichen Verdachts, Ausreise- und Einreiseverbote bei europäischen/internationalen Protesten, polizeiliche Meldeauflagen. Auch das bis heute heftig umstrittene Vermummungsverbot ist nach Protesten gegen die Startbahn West eingeführt worden und hat im Laufe der Zeit eher Verschärfungen erfahren.
Zudem gehen viele neue Versammlungsgesetze einen großen Schritt weiter in Richtung Abschreckung vor der Wahrnehmung des Grundrechts. Wer Demonstrationen anmeldet bzw. diese leitet, geht immer häufiger schwer kalkulierbare Risiken ein. Für die Nichteinhaltung verhängter Auflagen, Abweichungen von der Demoroute oder das Verknoten von Transparenten werden Verfahren gegen Leiter*innen wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz eingeleitet. Hinzu kommt, dass sich auch die technische Ausstattung, das Arsenal an polizeilichen Waffen und an polizeilicher Schutzausrüstung völlig verändert hat. Zudem haben die Möglichkeiten der visuellen Überwachung deutlich zugenommen.
Die zu beobachtenden Einsatztaktiken der Polizei unterliegen einem stetigen Wandel. Während „früher“ gegen ganze Demonstrationen eingeschritten wurde, wird heute häufig gegen einzelne Demonstrationsteilnehmer*innen oder „Demoblöcke“ vorgegangen. Die Beweissicherungs- und Festnahme-Einheiten (BFE) haben zum Ziel und behaupten, sie könnten „Straftäter“ festnehmen, deren Straftaten sie zweifelsfrei beweisen könnten. In der jeweiligen Situation entzieht sich das Vorgehen dieser Einheiten jeder öffentlichen Überprüfung – sowohl durch das machtvolle und gewalthaltige Vorgehen als auch durch die Individualisierung der Schuldzuschreibung. Immer wieder werden kleinere Anlässe, die eher Ordnungswidrigkeiten innerhalb einer Demonstration darstellen, genutzt, um friedliche Protestzüge zu eskalieren und Einzelpersonen zu kriminalisieren. So wurde in Kassel auf Demonstrierende mitten in der Fußgänger*innenzone eingeprügelt, nachdem zwei Rauchtöpfe gezündet wurden. Ebenfalls in Kassel wurden nach dem Ende einer Demonstration zwei Personen verfolgt und rausgezogen – eine Eskalation in einer absolut ruhigen und übersichtlichen Lage, in der die Abreise stattfand.
Heute kann die Polizei noch leichter über die sozialen Medien unmittelbar Einfluss auf das demonstrative Geschehen nehmen und damit und mit den Polizeiberichten die mediale Berichterstattung beeinflussen. Selbst wissentlich falsche Berichte, etwa über die Zahl schwer verletzter Polizeibeamt*innen, dienen dazu, den Protest zu kompromittieren. Auf der anderen Seite haben auch die Demonstrierenden neue Wege gefunden, sich ihr Recht auf Demonstration mittels neuer Aktionsformen und Organisierung zu bewahren und durchzusetzen. Zudem haben sie neue Möglichkeiten der Kommunikation untereinander und der öffentlichen Berichterstattung über die Ereignisse. Sie können selbst schnell und unkompliziert Fotos und Videos erzeugen und damit Einfluss auf die mediale Berichterstattung nehmen oder diese über soziale Medien in Teilen sogar selbst gestalten.
Diese Geschichte der selbstbewussten Wahrnehmung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit hat gleichzeitig zu Ausdifferenzierungen in der Begleitung des Protestes geführt. Mehr Unterstützung wurde notwendig, nicht weniger. Schon Mitte der 1990er Jahre haben bspw. Pastor*innen im Wendland den Protest seelsorgerisch begleitet und sich um eine Vermittlung zwischen Polizei und Demonstrierenden bemüht. Der „Ermittlungsausschuss“, der vor allem rechtliche Hilfe für Leute organisierte, die in Gewahrsam genommen oder festgenommen wurden, merkte, dass diese Arbeit im Hintergrund kaum noch ausreichte. Versammlungen bedurften der juristischen Hilfe vor Ort. So begannen Rechtsanwält*innen die Demonstrationen zu begleiten, Verhandlungen bei polizeilichen Einkesselungen und Ingewahrsamnahmen zu führen, Anmelder*innen von Demonstrationen in der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen und für die Möglichkeiten von Camps zu streiten. Abgeordnete aus den Landesparlamenten und dem Bundestag nehmen inzwischen oft als parlamentarische Beobachter*innen teil. Ihre anderen rechtlichen Bedingungen als „Volksvertreter*innen“ schaffen ihnen Raum für Beobachtung und mögliche Eingriffe. Sie können ihre Erkenntnisse in die parlamentarische Arbeit einbringen und etwa durch Kleine oder Große Anfragen zur Klärung von Sachverhalten beitragen.
Diese Ausdifferenzierungen ergänzen sich und können sich gegenseitig bereichern. Denn wer die rechtlichen Interessen einzelner Demonstrierender vertritt, kann nicht gleichzeitig das gesamte Geschehen und die polizeiliche Strategie beobachten. Wer den Umgang mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit beobachten will, kann nicht gleichzeitig das Recht einzelner Demonstrierender einklagen.
VON ELMAU BIS LÜTZERATH – DEMONSTRATIONSBEOBACHTUNGEN DER LETZTEN BEIDEN JAHRE
Im Jahr 2022 nahmen wir – nach einer Pause seit dem G20-Gipfel in Hamburg – das Instrument der Demonstrationsbeobachtungen wieder auf. Insgesamt haben wir drei Beobachtungen organisiert: anlässlich des G7-Gipfels in Elmau im Juni 2022, anlässlich der Proteste von „Rheinmetall Entwaffnen“ im September 2022 in Kassel und anlässlich der Räumung von Lützerath im Januar 2023.
Bei den Protesten gegen den G7-Gipfel auf Schloss Elmau waren wir mit acht Demonstrationsbeobachter*innen vom 24. bis 27. Juni 2022 in München und rund um Garmisch-Partenkirchen. Wie bei einem Gipfel der sieben größten Industrienationen der Welt zu erwarten, sahen sich Protestierende und Anwohner*innen einem militärisch anmutenden, polizeilichen Ausnahmezustand ausgesetzt. Laut Polizeiangaben waren 18.000 Polizist*innen im Einsatz; nahezu jede Art Einsatzfahrzeug konnte beobachtet werden. Auf allen Zufahrten gab es polizeilich betriebene Checkpoints, an denen alle Vorbeifahrenden einer Sichtkontrolle unterzogen, vereinzelt angehalten, zum Teil für weitergehende Kontrollen heraus gewunken wurden. Zudem waren Zugstrecken teilweise gesperrt und alle möglichen Ankunftsbahnhöfe rund um die Uhr mit Polizei besetzt. Auch wurden Grenzkontrollen für diese Zeit eingeführt. Es gab zwei Sicherheitszonen rund um den Tagungsort, welche nur mit Akkreditierung zu passieren waren und die u.a. durch einen 16 km langen Zaun abgeriegelt wurden. Im Olympia Skistadion wurde ein Containerdorf als Sammelstelle für Ingewahrsamnahmen aufgebaut.
Insgesamt begleiteten wir fünf Demonstrationen und wurden dabei Zeug*innen eines seitens der Behörden stark eingehegten Protestgeschehens mit minimierter Autonomie für die Ausgestaltung durch Anmelder*innen oder Teilnehmende. So konnten Versammlungen zwar stattfinden, wurden allerdings durch Auflagen und Kontrollen stark reguliert und eingeschränkt. Demonstrierende, aber auch die interessierte Öffentlichkeit wurden durch massive Polizeipräsenz, mehrreihige Polizeibegleitung im Spalier sowie Zugangs- und Personenkontrollen eingeschüchtert. Ein öffentlichkeitswirksames Vorbringen der Protestinhalte war so kaum möglich. Besonders junge Menschen, nach unserer Einschätzung viele unter 18 Jahren, waren überdurchschnittlich oft von Polizeimaßnahmen betroffen.
Gipfeltreffen finden inzwischen seit mehreren Jahren stark abgeschottet statt. Protest gegen das Gipfeltreffen auf Schloss Elmau war dementsprechend nicht in unmittelbarer Nähe des Ortes des Geschehens erlaubt – eine in sich bereits völlig undemokratische Maßnahme, die inzwischen zur Regel geworden scheint. Als einzige „Ausnahme“ durften einmalig 50 Personen für 30 Minuten am 27. Juni in Sichtweite des Tagungsortes protestieren – unter strengsten Auflagen: Alle 50 Teilnehmenden mussten sich im Vorfeld namentlich anmelden sowie Taschenkontrollen und Leibesvisitationen über sich ergehen lassen. Die An- und Abreise wurde engmaschig durch die Polizei begleitet. Gipfel der Einhegung war, dass sie sich auf ein kleines Areal beschränken sollten, um eine etwaige Evakuierung nicht zu behindern – auf einem viele Hektar großen, leeren Gelände. Dass das BVerfG mit seiner Entscheidung vom 27.6.2022[6] den zugewiesenen Versammlungsort in 520 Meter Entfernung zum Tagungshotel noch als in „Hör- und Sichtweite“ wertete, bewerteten wir in unserem Abschlussbericht mit dem Titel „Versammlungsfreiheit wird zur Farce“[7] als versammlungsrechtlich höchst problematisch.
Bei der Beobachtung anlässlich der Proteste von „Rheinmetall Entwaffnen“ waren Protestort und -zeit frei gewählt und ohne äußeren Anlass. Wir waren vom 1. bis 3. September 2022 mit vier Beobachter*innen in Kassel und haben vier Versammlungen beobachtet. Eine Herausforderung für die Beobachtung war, dass es zu einigen spontanen und nicht angekündigten Versammlungen gekommen ist, sodass wir bei einigen Situationen zeitverzögert oder gar nicht zugegen waren. Aber spontane Aktionen sind Teil einer gelebten Ausübung des Versammlungsrechts, welche wir sehr begrüßen.
In unserem Abschlussbericht mit dem Titel „Polizei.Macht.Eskalation“[8] beschreiben wir u. a. unsere Beobachtung, dass das Verhalten der Polizei mehr von der jeweiligen Einsatzstrategie und der Art der bereitgestellten Einheiten der Polizei beeinflusst war als vom Verhalten der Demonstrierenden. Mindestens eine kurzfristig angemeldete Demonstration wurde nur von wenigen Polizist*innen durch eine belebte Straße begleitet, obwohl vereinzelt Rauchtöpfe gezündet wurden und Personen auch sogenannte Vermummung trugen. Andere Demonstrationen, die ein ähnliches Bild zeigten, wurden massiv von der Polizei in ihrer Versammlungsfreiheit eingeschränkt, auch mit Gewaltmitteln. Bei der Hauptdemonstration, die lange im Vorfeld angemeldet war, beobachteten wir ein beachtliches Aufgebot an BFEs, die die Demonstration die ganze Zeit begleiteten und von Beginn an abfilmten. Der Demonstrationszug war laut und kämpferisch, aber zu keiner Zeit eskalierend oder bedrohlich. Vermutlich als Reaktion auf das Abbrennen einzelner Rauchtöpfe eskalierte die Polizei inmitten der Fußgängerzone und schlug mit rund 15 behelmten Beamt*innen mittels Schlagstöcken auf Demonstrierende ein. Nachdem die Abschlusskundgebung beendet war und die Teilnehmenden abreisten, wurden zwei Personen brutal festgenommen, einer von ihnen gegen einen Polizeiwagen geschubst, ein weiterer durch eine Einkaufspassage gejagt – ein gewaltvolles Vorgehen in einer vollkommen überschaubaren Situation. Es erhärtete sich der Eindruck, dass die vielen BFE-Einheiten zum Schluss ganz unabhängig von einer objektiven Notwendigkeit meinten das machen zu müssen, wozu sie ausgebildet sind: Personen festnehmen.
Bei der Beobachtung rund um die Räumung von Lützerath war der äußere Anlass eindeutig gegeben. Wir beobachteten vom 11. bis 22. Januar 2023 mit insgesamt 14 Beobachter*innen. Besondere Herausforderungen waren hier für uns die Größe des Areals, die Vielzahl an parallel stattfindenden Versammlungen sowie die Länge der Beobachtung. Wir waren sowohl bei der Räumung in Lützerath zugegen als auch bei den Versammlungen, die in der Nähe stattfanden. Dabei haben wir eine lebensbedrohliche Räumung beobachten müssen. Tag und Nacht wurde gearbeitet, was eine Belastung für alle Beteiligten war. Die zentrale Versorgungsinfrastruktur wurde zerstört, Demosanitäter*innen weggeschickt. Zudem wurden in unmittelbarer Nähe zu noch besetzten (Baum-)Häusern von RWE Rodungs- und Abrissarbeiten durchgeführt, was die Personen in den besetzten Strukturen massiv gefährdete.
Mit einer Allgemeinverfügung wurde das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (mal wieder) massiv eingeschränkt. Der Aufenthalt und das Betreten von Lützerath wurde verboten und somit auch das Recht auf freie Ortswahl für Versammlungen außer Kraft gesetzt. In der Praxis wurden auch Versammlungen außerhalb Lützeraths in ihrer Ausgestaltung hinsichtlich der Route massiv eingeschränkt. Hinzu kamen Verletzungen der Pressefreiheit und der freien Religionsausübung sowie ein enormes Ausmaß an Polizeigewalt – vor allem gegen unangemeldete Versammlungen, die immer wieder versuchten, sich Lützerath zu nähern. In mehreren Fällen wurden Journalist*innen weggeschubst. Auch kann die Akkreditierung als Einschränkung gewertet werden. Die freie Religionsausübung wurde gestört, indem Andachten an der „Eibenkapelle“ in Lützerath verhindert und in einem Fall durch tätliche Angriffe der Polizei auch gewaltsam angegangen wurden. Nachdem die Gebetsgruppe im Anschluss zur Mahnwache in Holzweiler zurückgekehrt war, wurde der im Rollstuhl sitzende Priester von der Polizei gekesselt und mit einer Anzeige wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz NRW konfrontiert. All diese Beobachtungen haben wir in unserem Bericht „Entscheidung für Gewalt“ festgehalten, welchen wir am 15. März 2023 – dem „Tag gegen Polizeigewalt“ – veröffentlicht haben.[9]
Obwohl die Grundgegebenheiten der Beobachtungen sehr verschieden waren, haben wir neben daraus folgenden Unterschieden auch Gemeinsamkeiten bzgl. der Polizeieinsätze beobachten können: Immer wieder wurden die geringsten vermeintlichen Vergehen dazu genutzt, Demonstrationszüge aufzuhalten oder brutal in sie hineinzuprügeln, vorgeblich um Einzelpersonen herauszulösen und festzunehmen. Häufig konnten wir beobachten, dass – unverhältnismäßige – polizeiliche Maßnahmen zum Ausgangspunkt für Konflikte und Eskalationen im Versammlungsgeschehen wurden. Das Aufgebot an Polizei, ihre Ausrüstung und ihr Auftreten wirkten auf Teilnehmende wie Außenstehende einschüchternd und abschreckend. Politische Botschaften konnten der Öffentlichkeit nur schwer kommuniziert werden, weil die Polizei die Demonstrationen im engen Spalier begleitete. Der rechtliche Rahmen wurde von Versammlungsbehörden ausgereizt und das Recht auf Protest in „Hör- und Sichtweite“ teilweise ins Absurde getrieben. Bei spontanen Versammlungen in Form von Sitzblockaden hielten sich Beamt*innen nicht immer an das Gebot der Wahl des mildesten Mittels, also das Wegtragen der Demonstrierenden, sondern gingen schlagend oder mit Schmerzgriffen gegen diese vor.
POTENZIALE UND GRENZEN VON BEOBACHTUNGEN
Wie bereits zu Beginn dargestellt, liegt die Stärke der Demobeobachtungen im genauen Hinsehen und Dokumentieren. Die Beobachter*innen sind dabei außenstehend und nicht Teil der Versammlung.
Im zusammenfassenden, sachlichen Bericht, der sowohl die vielen Facetten aus der Beobachtung zusammenfasst als auch die Einordnung in die öffentliche Wahrnehmung ermöglicht, erkennen wir viel Potenzial. Bereits unsere Ankündigung einer Beobachtung erregt mitunter Aufmerksamkeit bei den Versammlungs- und Polizeibehörden, welche sie eventuell schon darauf besinnen lassen, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ernst(er) zu nehmen. Zudem bieten wir denen, die ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nachgehen wollen, durch unsere Anwesenheit auch während der Demonstrationen einen gewissen Schutz. Und natürlich werten wir unsere Veröffentlichungen im Nachgang einer Beobachtung als zentralen Bestandteil einer fundierten Gegendarstellung zu Polizeiberichten. Zwar wäre es oft wünschenswert, diese könnten noch schneller erfolgen, aber das Zusammenführen der vielen Berichte von verschiedenen Orten braucht Zeit. Das hat zur Folge, dass wir keine schnelle Kommentierung aller Vorfälle liefern und während einer Beobachtung nur eingeschränkt soziale Medien nutzen können, auch wenn wir sehen, dass für eine Darstellung jenseits von Polizei und Politik schnell veröffentlichte Fotos und Videos, die Demonstrierende oder zufällig Anwesende erstellen, hilfreich sein können. Auch kommentieren wir nur in Ausnahmefällen bereits während einer Beobachtung, das was geschieht.
Es ist wichtig, die Ausgestaltung der Demonstrationsbeobachtungen immer wieder auf sich verändernde Entwicklungen anzupassen. Dass es als radikal-demokratisches Werkzeug zur Verteidigung der Versammlungsfreiheit weiterhin notwendig bleibt, steht für uns – auch nach dieser Bestandsaufnahme – außer Frage.
Anmerkungen:
[1] Reality-Check zu G20-Polizeigewalt, www.taz.de v. 19.7.2017
[2] Grenzkontrollen zum G7-Gipfel 2022. Wo wird kontrolliert? www.augsburger-allgemeine.de v. 14.6.2022
[3] Bundesverfassungsgericht: Beschluss vom 14.5.1985, Az.: 1 BvR 233, 341/81, www.uni-trier.de/fileadmin/fb5/prof/OEF003/Alexandra_Seuser/BVerfGE_69__315ff.-_Brokdorf-Beschluss.pdf
[4] a.a.O. Rn. 62
[5] a.a.O. Rn. 67
[6] Bundesverfassungsgericht: Beschluss vom 27.6.2022, Az.: 1 BvQ 45/22, www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/06/qk20220627_1bvq004522.html
[7] Grundrechtekomitt: Versammlungsfreiheit wird zur Farce v. 29.7.2022, www.grundrechtekomitee.de/details/versammlungsfreiheit-wird-zur-farce
[8] Grundrechtekomitee: Polizei.Macht.Eskalation. v. 10.10.2022, www.grundrechtekomitee.de/details/polizeimachteskalation-bericht-zur-demonstrationsbeobachtung-der-aktionstage-von-rheinmetall-entwaffnen-in-kassel
[9] www.grundrechtekomitee.de/fileadmin/user_upload/Entscheidung_fuer_Gewalt._Bericht_Demobeobachtung_Luetzerath_2023.pdf
Der Beitrag erschien auf https://www.cilip.de/ und wird mit freundlicher Genehmigung hier gespiegelt. Bild: Demonstranten und Polizisten in Garmisch-Partenkirchen geraten bei der Demonstration aneinander. (dpa / Marc Müller / Deutschlandfunk)