„Ich bin ein deutscher Arbeiter“ – Eine persönliche Reminiszenz

Von Johannes Schillo

Im Sommer 2023 erhielt ich Post von meiner Gewerkschaft. Verdi schrieb mir, dass ich zum Herbst eingeladen sei, an einer „Ehrung für langjährige Mitglieder“ teilzunehmen. Denn: Seit der Gründung vor 25 Jahren hätte ich Verdi „die Treue gehalten“ – wobei ich mich mittlerweile im 49. Jahr meiner Mitgliedschaft in einer DGB-Gewerkschaft (zuerst ÖTV, dann IG Medien) befinde.

Im Blick auf die Feierstunde fiel mir ein, dass ich von meinem Großonkel, der lange Jahre zusammen mit meinem Großvater als Dreher in einer Bad Godesberger Fabrik arbeitete, ein Dokument geerbt habe, und zwar zur Ehrung wegen 25jähriger Mitgliedschaft im traditionsreichen Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV).

Es handelt sich um eine großformatige, in Leinen gebundene Mappe im Schuber, edel gedruckt und mit einem Goethe-Spruch verziert. Sogar das Anschreiben samt Lieferschein („Verlagsgesellschaft des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes GmbH“) wurde aufbewahrt, denn in einem Proletarierhaushalt stellte so etwas eine Kostbarkeit dar – seinerzeit jedenfalls. Jetzt kommt nämlich die Pointe: Geehrt wurde mein Großonkel für seine Verbandstreue 1933/34 von den Nazis!

Genauer gesagt, laut Briefumschlag war die „Deutsche Arbeitsfront – Deutscher Metallarbeiter-Verband im Gesamtverband der Deutschen Arbeiter“ der Absender. Im Briefkopf meldete sich mit Datum vom 20. 7. 1934 die „Deutsche Arbeitsfront – Reichsbetriebsgemeinschaft Eisen und Metall“ und schrieb dem „Volksgenossen Josef Puppe“: „Werter Volksgenosse! Ich freue mich, Ihnen heute die Ehrenurkunde für Ihre 25jährige Mitgliedschaft im Deutschen Metallarbeiter-Verband überreichen zu können. Ich hoffe, daß sie noch viele Jahre als Mitglied unseres Verbandes tätig sein und auch auf Ihrem Arbeitsplatze für eine bessere Zukunft unseres Vaterlandes kämpfen können, so daß sie jederzeit stolz bekennen: ‚Ich bin ein deutscher Arbeiter!‘ Heil Hitler!“ Unterschrieben vom „Verbandsleiter“ (Zusatz: „Überflüssige Höflichkeitsformeln fallen bei dienstlichen Schreiben fort“).

„Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten“ (Goethe)

Zum persönlichen Hintergrund ein kleiner Rückblick auf meine Vorfahren: Von beiden Elternteilen her waren es brave katholische Arbeiter im Rheinland, wobei in der väterlichen Linie vor 1933 sogar mal SPD gewählt wurde. Was die Familie aber einte, war das Bewusstsein, dass man zum Proletariat gehörte und deshalb in eine Gewerkschaft. Mein Großvater, der 1914 an die Westfront abkommandiert wurde, während mein Großonkel anscheinend für die Rüstungsproduktion unentbehrlich war, entschied sich sogar bewusst für die Mitgliedschaft in einer „freien“ Gewerkschaft – gegen das Votum der Kirchenleitung. Denn diese war schon Ende des 19. Jahrhunderts aktiv geworden, nämlich als Reaktion auf die Gründung von Gewerkschaften, die sich als Teil der Arbeiterbewegung verstanden, und hatte eigene konfessionelle Arbeitervereine gefordert, die unter klerikaler Aufsicht zu stehen hatten.

Dabei handelten sich die Kirchenführer noch das zusätzliche Problem ein, dass bei solchen Zusammenschlüssen unterm christlichen Ticket die Gefahr einer interkonfessionellen Mischung entstand. Protestantische und katholische Arbeiter zwar vor schädlichen sozialdemokratischen Einflüssen und vor Klassenkampfdenken geschützt, aber zusammen in einem Verein – kann das gut gehen!? Papst Pius X. musste daher noch vor dem Ersten Weltkrieg mit einer eigenen Enzyklika in den katholischen Gewerkschaftsstreit eingreifen, bei dem die deutschen Bischöfe sich nicht einigen konnten.

Meine katholischen Vorfahren waren insofern Dissidenten, als sie sich bereits vor 1914 dem 1891 gegründeten Deutschen Metallarbeiter-Verband angeschlossen hatten – und ihm dann auch die Treue hielten. Als nach 1918 ein Pater bei der „Volksmission“ in der örtlichen Gemeinde erklärte, katholische Arbeiter müssten in die christlichen Gewerkschaften eintreten, sonst dürften sie bei der Messe nicht zur Kommunion gehen, befolgte mein Großvater die klerikale Anweisung nicht. Bei dieser Entscheidung verließ er sich allerdings auf meine Großmutter, die in weltanschaulichen Fragen das letzte Wort hatte: Sie stammte aus einer Bauernfamilie in der Eifel und war in jungen Jahren als Dienstmädchen zu einer vornehmen Godesberger Familie gekommen, wo sie Zugang zu esoterischen Ideen einer katholischen Subkultur fand – und sich in der Folge selber für eine religiöse Autorität hielt.

Zur besagten Volksmission weiß übrigens Wikipedia mitzuteilen: „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten Volksmissionen gezielt den Kampf gegen Indifferentismus, Alkoholsucht, Sittengefährdung, Kirchenaustritt oder politische Unruhen zum Thema, womit zeitweise der Kampf gegen die Sozialdemokratie gemeint war.“ Das deckt sich mit den Erinnerungen meiner Großeltern.

Was aber Wikipedia über den Metallarbeiter-Verband weiß – „Im Zuge der Gleichschaltung der freien Gewerkschaften nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurde die Gewerkschaft am 2. Mai 1933 zwangsweise aufgelöst“ –, bedarf der Korrektur. Der Verband (Vorläufer der IG Metall) wurde nicht einfach aufgelöst, sondern ging unter Wahrung seiner organisatorischen Identität in einer größeren Einheit auf. Sogar die 25-jährige Mitgliedschaft in dem vormals freien Gewerkschaftsverband wurde – über Kaiserreich, Novemberrevolution und Weimarer Republik hinweg – von den Nazis gewürdigt!

Der deutsche Arbeiter – immer wieder angepisst

Die These von der Unvereinbarkeit der (deutschen) Gewerkschaftsbewegung mit faschistischer Herrschaft, so als seien die Nationalsozialisten kategorische Feinde der Arbeiterbewegung gewesen, hält sich aber immer noch. Zuletzt hat sie Ingar Solty wieder im August 2023 in Konkret (Nr. 8, S. 12) vorgebracht. Solty schreibt mit Blick auf das stets aktualisierte faschistische Alternativangebot zur Demokratie, die kapitalistische Produktionsweise politisch zu managen: der Nationalsozialismus habe die damalige Weltwirtschaftskrise durch „die – auch physische – Vernichtung der Arbeiterbewegung überwinden“ wollen.

Das stimmt nicht! Wie das angeführte Beispiel zeigt, hat man sie, samt ihrer Brauchtumspflege, in Dienst genommen. Das war den Fachleuten nach 1945 auch nicht unbekannt, zumindest in der  gewerkschaftlichen Bildungsarbeit der BRD wurde es – wenn auch mit großer Verzögerung – eingestanden. Zum 80. Jahrestag der „Machtergreifung“ von 1933 schrieb Andreas Michelbrink, Geschäftsführer der einschlägigen verdi-Bildungsorganisation GBP: „Hatte sich die Gewerkschaftsbewegung noch 1920 mit einem Generalstreik vehement und erfolgreich gegen den Kapp-Putsch gewehrt, fehlte ihr 1933 die Macht und der Mut zu einem solchen Schritt.“ (Journal für politische Bildung, Nr. 1, 2013, S. 42ff). Die Führung des Dachverbandes Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund (ADGB) „schwankte“ nämlich, wie der Historiker Michelbrink festhält, „zwischen Anpassung und Widerstand.“

Weiter führt der Verdi-Autor aus: „Während die Gewerkschaftsspitze einen Kurs der Anpassung fuhr und die Nationalsozialisten davon zu überzeugen suchte, dass die Gewerkschaften ein unerlässlicher Bestandteil der sozialen Ordnung seien, spitzte sich in den Betrieben vielfach der Widerstand zu. Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte wurden brutal misshandelt und in die Konzentrationslager eingeliefert. Betriebsräte verloren vielfach ihren Arbeitsplatz. Trotzdem hoffte die ADGB-Führung, durch Kooperation den Bestand der Organisation zu retten. Dies gipfelte im Aufruf des ADGB zum 1. Mai 1933: ‚Der deutsche Arbeiter soll am 1. Mai standesbewußt demonstrieren und ein vollberechtigtes Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft werden.‘ Damit hatte die Anpassung ihren Höhepunkt erreicht. Dass die Nationalsozialisten nicht vorhatten, den gewerkschaftlichen Organisationsgrad in den städtischen Betrieben als sozialdemokratisches und sozialistisches Widerstandspotential zu erhalten, wurde am 2. Mai 1933 deutlich.“

Am Tag nach dem 1. Mai, der noch mit traditionellen Aufmärschen begangen wurde, begann ja die Auflösung der eigenständigen Gewerkschaftsstrukturen und mit der Gründung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) am 10. Mai 1933 wurden sie in einer neuen, Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammenfassenden Dachorganisation verschmolzen. „Der 2. Mai 1933, so resümierten viele Gewerkschafter in der Rückschau, markiert die bitterste Niederlage, die die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland je erlebt hat“, lautet das Fazit Michelbrinks.

Der expressionistische Schriftsteller und Politaktivist Franz Jung hat in seiner Autobiographie „Der Weg nach unten“ (Schriften und Briefe, Band 1, 1981, S. 614ff: „Der letzte Ausmarsch“) übrigens ein eindringliches Bild von diesem Desaster aufbewahrt. Die Gewerkschaftsmitglieder hielten ihrer Führung die Treue, folgten dem Aufruf und marschierten am 1. Mai mit, jetzt unter Naziflaggen und -parolen, „mit Trommeln und Pfeifen, Schalmeien und Marschtrompeten – – – Sie sind marschiert, die Angst im Nacken und bereits die Hosen voll – – – Sieg Heil!“.

Jung berichtet weiter von der Berliner Abschlusskundgebung: „Auf dem Feld waren die Plätze für die Kolonnen vermessen… In den Abtritten hatte sich die Organisation verrechnet. Oder sie sind überhaupt vergessen worden. Zudem waren die Kolonnen der Gewerkschaftler zwischen SA und SS so eingekeilt, daß es unmöglich geworden war, sich aus der Kolonne zu entfernen; die Ordner hätten das auch verhindert. Sehr viele hatten den Abend vorher im stillen Abschied gefeiert, von der Gewerkschaft, von der Partei, vom Sozialismus, mit Bier und Korn, in den Stammlokalen. Das machte sich jetzt bemerkbar. Die Festteilnehmer konnten, vor Kälte schlotternd, das Wasser nicht halten, es ging in die Hosen und in die Marschstiefel, im Lärm der Trommler und Pfeifer, der Schalmeien und der Blockflöten – – – Sieg Heil!!!“.

You don’t get me, I’m part of the union?

Wie gesagt, seit immerhin zehn Jahren gibt es aus der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit das Bemühen, sich dieser Vergangenheit konsequent zu stellen. Michelbrinks Votum, das darauf Nachdruck legte, ließ aber zugleich eine gewisse Skepsis erkennen, ob es den von ihm benannten Initiativen gelänge, „mehr zu werden … als Traditionspflege und ritualisiertes Gedenken“.

Das persönliche Beispiel, das hier beigebracht wurde, kann in diesem Sinne vielleicht als Anregung wirken. Mein Großvater wurde gegen die Franzosen, mein Vater gegen die Russen in den Krieg geschickt – all das nicht zuletzt dank einer Burgfriedenspolitik der Arbeiterbewegung, die 1914 begann und 1933 im Grunde fortgesetzt wurde. Unter Kaiser, Kanzler, Führer standen die Proleten treu zu Deutschland, und unterm Bundeskanzler Adenauer wurde ihnen gleich eine neue, finale Perspektive eröffnet, wie sich die deutsche Nation wieder aus einer „Politik der Stärke“ heraus um globale Ordnungsfragen kümmern könnte.

So haben sich deutsche Arbeiter (wie der Goethe-Spruch in der Urkunde der Deutschen Arbeitsfront lautete) „allen Gewalten zum Trotz“ als das erhalten, was sie als Klasse im Kapitalismus ausmacht und was die jeweiligen Obrigkeiten dann als aktuelle Auftragslage konkretisieren: nationale Ressource zu sein, die die Ökonomie zum Brummen bringt und die Staatsgewalt erst richtig mächtig macht. Bleibt zu hoffen, dass das nächste Mal, wenn das Vaterland zu den Waffen ruft, Arbeiter und ihre Vereine Nein sagen.

 

 

 

 

 

Bilder: Johannes Schillo