Das Lohnabstandsgebot als Nebelkerze

Von Inge Hannemann

Das Bürgergeld ist das monatliche Überlebensgeld, wenn jemand keine Chance auf eine Erwerbstätigkeit bekommt oder eine Tätigkeit ausübt, die so schlecht bezahlt ist, dass ergänzend Sozialleistungen bezogen werden müssen. Wer Kinder erzieht oder seine Angehörigen pflegt, kann ebenso Bürgergeld beziehen. Es ist ein Existenzminimum. Dieses Existenzminimum ist ein Grundrecht. Und Grundrechte kann man eigentlich nicht kürzen.

Und trotzdem sind wir wieder an dem Punkt angekommen, wo bei solchen Grundrechten gekürzt werden darf. Wer erwerbslos ist und nicht spurt, spürt die Jobcenter-Peitsche. Bis zu zwei Monate kein Geld für Essen, Trinken, Medikamente, Hygiene oder Sonstiges, wenn eine zumutbare Arbeit abgelehnt wird. Nur: Was ist zumutbar?

Ist es zumutbar, wenn eine alleinerziehende Mutter einen 1,5- stündigen Fahrtweg zur Arbeit auf sich nehmen muss, um für den Mindestlohn zu arbeiten? Oder eine ungelernte Kraft mit Rückenleiden acht Stunden in der Produktion Akkord arbeiten muss? Meine Erfahrung sagt mir, dass diese Menschen nach kurzer Zeit erneut im Jobcenter stehen. Frustriert, krank und demotiviert. Wir erinnern uns: 2019 urteilte das Karlsruher Bundesverfassungsgericht, dass Vollsanktionen rechtswidrig sind.

CDU und FDP treten Neiddebatte los

Der Weg zu den erneuten Vollsanktionen wurde durch unsägliche Diskussionen um das höhere Bürgergeld in Verbindung mit dem Lohnabstandsgebot vorbereitet. Die CDU und die FDP haben es geschafft, dass erneut eine Neiddebatte entstanden ist, besonders innerhalb der niedrigen Lohngruppen. Ja, es stimmt, dass diese Gruppen für wenig – viel zu wenig – Geld malochen. Es stimmt aber nicht, dass die Erwerbslosen per se mit Sozialleistungen faul in der Hängematte liegen. 800 000 der Bürgergeldberechtigten arbeiten bereits. Sehr viele sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht vermittelbar. Ihr Alter, ihre Erkrankungen, die Erziehungszeit oder die Vollzeitpflege ihrer Angehörigen sind gute Gründe, die einer Erwerbstätigkeit entgegenstehen. Ungesehen bleibt, dass das Gros der Erwerbslosen täglich um Arbeit, Respekt, Anerkennung und mit der Bürokratie des Jobcenters kämpft.

Ist es jetzt politische Unwissenheit, Dummheit oder gewollte Stimmungsmache, dass mit dem Lohnabstandsgebot argumentiert wird? Ich tippe mal auf Letzteres. Das Lohnabstandsgebot gibt es nämlich seit 2011 nicht mehr. Zuvor war es eine Regelung im Sozialrecht, die sicherstellen sollte, dass Sozialleistungen nicht höher sind, als eine Vollzeittätigkeit. Heute müssen die Sozialleistungen ohne diesen Hintergrund berechnet werden. Und zwar so, dass sie das physische Existenzminimum und ein Mindestmaß an kultureller, politischer und sozialer Teilhabe ermöglichen. Dass die Sozialleistungen bis heute viel zu knapp an Kante berechnet sind, ist bekannt. Jüngst sind die neuen Armutszahlen veröffentlicht wurden.

Jeder fünfte Haushalt lebt in Armut

Demnach lebten 2023 laut Angaben des Statistischen Bundesamtes 17,7 Millionen Menschen in Deutschland in Armut oder waren armutsgefährdet. Damit war jeder fünfte Haushalt von Armut betroffen. Gleichermaßen sieht es bei den Kindern und Jugendlichen aus. Unter dem Aspekt, dass die Armut ein mehrdimensionales Phänomen ist, und sich nicht nur in finanziellen, sondern auch in sozialen Faktoren niederschlagen, hat das Statistisches Bundesamt für 2022 eine Armutsgefährdungsquote von 24 Prozent errechnet. Damit war sogar jedes vierte Kind und Jugendliche unter 18 Jahren in Deutschland „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht“, so das Statistisches Bundesamt weiter. Statt darüber zu sprechen, wird darüber diskutiert, wie man sogenannte „Totalverweigerer“ härter anpacken kann. Schließlich muss das arbeitende Volk beruhigt werden. Wenn der Arbeitslohn nicht ausreicht, können schließlich Kinderzuschlag und Wohngeld zusätzlich beantragt werden.

Auf die Idee, eine höhere Tarifbindung und höhere Löhne zu fordern, wartet man politisch vergebens. Lieber subventioniert man indirekt die Betriebe, indem man die niedrigen Löhne aus dem Staatssäckel unterfüttert und gleichzeitig die Menschen dafür moralisch abstraft, die diese Leistungen in Anspruch nehmen. So wird es nie wirklich höhere Sozialleistungen geben, da das Schwert des Lohnabstandsgebots reflexartig gezückt wird, anstatt die Diskussion um anständige Löhne zu führen und die Arbeitgeber:innen in die Pflicht zu nehmen, um der Ausbeutung ein Ende zu setzen.

 

 

 

 

 

 

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Bild: paritätischer / Tim Reckmann