Am 25. November 2023 trafen sich Nazis, AfD-Funktionäre und zwei CDU-Mitglieder in einem Hotel bei Potsdam und schmiedeten Deportationspläne gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Als dies im Januar 2024 ans Licht kam, antwortete eine breite Welle von Demonstrationen gegen die AfD.
Baerbock, Habeck, Lindner, Scholz, Söder und Steinmeier begrüßten das, auch der Oppositionsführer Merz.
In der Frage der Immigration besteht zwischen der AfD einerseits, CDU/CSU, FDP, den Grünen und der SPD andererseits verstohlene Einigkeit. Die EU, die Großen Koalitionen unter Merkel und die Ampel-Regierung von Scholz haben den Schengen-Raum so abgeschottet, dass Zehntausende im Mittelmeer zu Tode kommen. Auch darüber, dass künftig mehr abgeschoben werden soll, gibt es wenig Streit. In der Potsdamer Tafelrunde wurde daraus allerdings völkische Politik.
Seit Jahren bekämpfen antirassistische, antifaschistische und humanitäre Bewegungen die Abschließungs- und Abschiebepolitik der EU und der deutschen Regierungen. Damit standen und stehen sie ziemlich allein. Plötzlich sehen sie sich vom Mainstream erfasst. Befinden sie sich im falschen Film?
Offensichtlich haben die neuen Demonstrationen „gegen rechts“ zwei Komponenten.
Eine Minderheit ist für eine humane Migrationspolitik. Ihren neuen Freunden aus der so genannten Mitte geht es darum, im politischen Wettbewerb eine Konkurrentin zu schwächen: die AfD. Schließlich stehen 2024 mehrere Wahlkämpfe an.
In einem Kommentar stellte die „FAZ“ klar: Diese schönen Demonstrationen seien für die Katz, so lange Ampel und Union nicht die Sache durchsetzen, in der sie mit der Konkurrentin einig seien: mit eiserner Hand abschieben und aussperren. Bei der Landratswahl im thüringischen Saale-Orla-Kreis taten sich gegen den aussichtsreichen Kandidaten der AfD alle anderen Parteien zusammen und verhalfen einem CDU-Mann zum Sieg. Er nahm sofort die Bezahlkarte für Asylbewerber in Angriff.
Tatsächlich ist seit den Demonstrationen in den Umfragen der Zuspruch für die AfD etwas zurückgegangen. Was sie verlor, landete im gleichen Umfang auf dem Konto des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“ (BSW), das ebenfalls für Migrationsbeschränkung eintritt. Es wird als Teil der doppelten Brandmauer gern genommen: gegen abzulehnende Wirtschaftsflüchtlinge und gegen die AfD.
In Demonstrationsreden wurde auf Parallelen zum Jahr 1933 hingewiesen. Es bestehen aber deutliche Unterschiede. Die Machtübertragung an Hitler fand statt, nachdem die Interessenvertreter des deutschen Großkapitals sie befürwortet hatten. Davon kann heute keine Rede sein. Die Unternehmer warnen vor der AfD. Von deren Erfolgen befürchten sie Nachteile bei der Gewinnung von Fachkräften und Investitionen sowie für das Image auf Exportmärkten.
Wer nach Parallelen zwischen Einst und Jetzt sucht, findet sie nicht 1933, sondern drei Jahre früher, ab 1930. Am 27. März jenes Jahres brachte die Deutsche Volkspartei, die politische Interessenvertreterin des Großkapitals, eine von der SPD geführte Große Koalition, der sie selbst angehört hatte, zum Scheitern. Es ging um die Kosten für die Arbeitslosenversicherung. Bei der Reichstagswahl am 14. September 1930 stieg die NSDAP von 2,6 auf 18,3 Prozent. Von da an konnte keine Koalition mehr gebildet werden, die eine Mehrheit im Reichstag hinter sich gehabt hätte. Die Reichskanzler – Brüning, v. Papen, v. Schleicher – regierten mit Notverordnungen nach Artikel 48 der Verfassung, zu denen sie der Reichspräsident ermächtigte. Das war (im Rückblick betrachtet) der Übergang zu Hitler. Zeitgenossen sahen es als Versuch, ihn von der Macht fernzuhalten, bis sich vielleicht doch noch einmal eine republikanische Mehrheit herstellen ließe (andernfalls temporale Inkongruenz zum Präteritum „sahen“) – vergleichbar aktuellen und geplanten Anti-AfD-Notmaßnahmen in ostdeutschen Landtagen.
Im August 1931 trafen sich auf dem Boxheimer Hof in Südhessen Mitglieder und junge Aktivisten der NSDAP unter der Führung des Rechtsreferendars Werner Best. Sie planten die ersten Maßnahmen nach einem künftigen Umsturz – Aufhebung der Verfassungsordnung, Todesurteile und Konzentrationslager inbegriffen. Als das ruchbar wurde, war die öffentliche Erregung ähnlich groß wie nach dem Thing nahe Potsdam.
Das sind halt so Sturmvögel in Zeitenwenden.
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Der Beitrag erschien auf LunaPark21 • zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie und wird mit freundlicher Genehmigung hier gespiegelt. Bild: rbb-audio-rbb