Der 8. Dezember 2024 markiert den Sturz der Assad-Regierung in Syrien, am 10. Dezember wurde Mohamed al-Baschir zum geschäftsführenden Premierminister der syrischen Übergangsregierung ernannt. Am selben Tag gaben die USA bekannt, 75 Luftangriffe auf Ziele in Syrien geflogen zu haben, während von der Türkei unterstütze islamistische Milizen von Kurden kontrollierte Gebiete im Nordwesten Syriens einnahmen. Israel sprach selbstbewusst davon, in den vergangenen 48 Stunden 480 Ziele in Syrien angegriffen und dabei u.a. nahezu die ganze syrische Marine vernichtet zu haben. Regierungschef Netanjahu hatte zuvor das Waffenstillstandsabkommen von 1974 für nichtig erklärt und drohte, „jede Bedrohung für Israel werde unerbittlich bekämpft“.
Die deutschen Medien berichten darüber – überlagert von einer unvorstellbaren Debatte um Abschiebungen von Syrier*innen – ausführlich. Sehr selten wurde dabei jedoch auf völkerrechtliche Einordnungen oder die Stellungnahmen der UN eingegangen. Auch über Opfer der israelischen oder pro-türkischen Angriffe wurde quasi überhaupt nicht berichtet. Gerade die massiven israelischen Luftangriffe wurden überwiegend als eine Art Abrüstungsmaßnahme dargestellt. Insgesamt erscheint es in der deutschen Medienlandschaft als legitim und geradezu normal, dass die eigenen Verbündeten im Zuge von Bürgerkrieg und gewaltsamen Regierungswechsel das betreffende Land mit Luftschlägen überziehen und auch mit eigenen Truppen oder verbündeten Milizen in dessen Gebiet vorstoßen.
Anders als in Bezug auf die Ukraine ist hinsichtlich Syriens in westlichen Medien so gut wie nie von „Souveränität“ oder „territorialer Integrität“ die Rede.
Die Türkei hatte bereits im Zuge des syrischen Bürgerkrieges Teile Syriens mit eigenen Truppen (Afrin) und über islamistische Verbündete (Idlib) de facto besetzt, die Bundesregierung zuvor die politische Führung der mit der Türkei verbündeten Freien Syrischen Armee als Regierung des Gesamtstaates anerkannt. Auch die Stützpunkte der US-Armee auf syrischem Territorium finden hierzulande selten überhaupt Erwähnung und wenn, dann fast nie mit dem Hinweis verbunden, dass sie klar völkerrechtswidrig sind. Dasselbe gilt für die regelmäßigen israelischen und sporadischen US-amerikanischen Luftangriffe auf syrisches Gebiet, wie sie bereits im Vorfeld des jetzigen, erfolgreichen Vormarsches der verschiedenen Rebellengruppen stattfanden – vor allem im Falle Israels häufig nicht nur mit getöteten syrischen Soldaten, sondern auch Zivilist*innen. Das waren ganz klar völkerrechtswidrige Angriffshandlungen der deutschen Verbündeten – auch wenn sie mit der Präsenz der Hisbollah und deren Angriffe auf Israel begründet wurden, die allerdings nicht von Syrien aus erfolgten.
Es wird ganz offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen, denn im Falle der Ukraine, wo man im Westen tendenziell durchaus auf der Seite des Völkerrechts steht, wird dieses nicht nur regelmäßig – geradezu notorisch – zitiert, sondern gar als Verpflichtung umgedeutet, auf Seite der Angegriffenen zu intervenieren. Diese selektive Wahrnehmung und teilweise Umdeutung des Völkerrechts markiert dessen Entwertung und Umdeutung in eine „regelbasierte Ordnung“ nach Maßstäben des globalen Westens. Wer zu den Vergehen der eigenen Verbündeten – USA, Türkei, Israel – schweigt, diese mit Rüstungsgütern und Forschungskooperation sogar unterstützt, der entlarvt im anderen Falle sein Vorgehen als reine Interessenspolitik.
Hier kommen dann auch die Umdeutungen ins Spiel. So wird die Bündnisfreiheit, die natürlich jedem souveränen Staat zusteht, geradezu in eine Pflicht umgedeutet, entsprechenden Wünschen der ukrainischen Regierung nachzukommen – auch wenn sich ein Nachbarstaat dadurch bedroht fühlt. Im Falle Syriens hingegen nahm man keinen Anstoß daran, dass Israel in Reaktion auf das Bündnis mit dem Iran und der Hisbollah regelmäßig deren (mutmaßliche) Stellungen in Syrien bombardierte – wie gesagt auch mit Opfern unter der syrischen Armee und Zivilbevölkerung. Das ebenfalls unzweifelhaft bestehende „Selbstverteidigungsrecht“ jedes Staates wird im Falle der Ukraine geradezu in eine Pflicht umgedeutet, dessen Armee – koste es, was es wolle – mit allen nur geforderten Waffensystemen auszurüsten. Das Selbstverteidigungsrecht Israels wird gar so ausgelegt, dass es Angriffe auf die Nachbarstaaten, militärische Offensiven und Landnahmen und z.B die jüngsten Drohungen gegen Syrien rechtfertigt, während ein Selbstverteidigungsrecht Syriens oder des Libanon schlicht nicht zur Debatte steht. In Analogie zum Falle der Ukraine würde das (ungeachtet der im Raum stehenden, plausiblen Vorwürfe eines Völkermordes) in der Konsequenz bedeuten, massive Sanktionen gegen Israel und alle seine Verbündeten zu verhängen und die von ihm angegriffenen Länder (146 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben den Staat Palästina einschließlich des Gaza-Streifens anerkannt) – was immer es koste – mit Waffen (Geld, Aufklärungsdaten, …) zu versorgen.
Auch das wäre natürlich ein Rezept fürs Desaster. Die einfache Lösung dieses Dilemmas bestünde im schlichten Grundsatz, gar keine Waffen in Krisen- und Konfliktregionen zu exportieren und z.B. die Forschungskooperation im militärisch nutzbaren Bereich einzuschränken, wenn eklatante Verstöße gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte vorliegen; eben nicht mit zweierlei Maß zu messen und das Völkerrecht nicht als Deckmäntelchen eigener Interessen und geopolitischer Ambitionen zu missbrauchen.
Quelle: https://www.imi-online.de/ Bild: Symbolbild