Dienstag 14. Mai 2024 – Im Stuttgarter Gewerkschaftshaus treffen sich Aktivist:innen aus dem Streik vor 40 Jahren. Veranstalterin ist die Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg. Die Idee zu der Veranstaltung wurde Anfang des Jahres am Rande der Trauerfeier für Sybille Stamm verabredet, einer engagierten ehemaligen Sekretärin der Stuttgarter IG Metall Bezirksleitung, deren plötzlicher Tod sie auch aus den Vorbereitungen für eben diese Streikerinnerung herausgerissen hatte.
Es ist eine Handvoll ehemaliger Aktiver, die die Idee für die Veranstaltung umsetzen.
Neben dem umtriebigen »Rosa-Lux«-Büro, Christa Schnepf und Martin Storz, die den Streik fotografisch für die IGM- Streiknachrichten begleiteten und ihre beeindruckenden Aufnahmen für eine Fotoausstellung zur Verfügung stellten (Klasse Gestaltung: Filippo Capezzone). Heidi Scharf, 1984 IGM-Gewerkschaftssekretärin in Heilbronn, mit einem launigen Beitrag zur Historie des Kampfes um die 35-Stunden-Woche und ich mit einem Bühnenprogramm, das die Stimmung und die kulturelle Durchdringung des damaligen Arbeitskampfes mit Live-Musik, Texten, Projektionen, Einspielern und Tondokumenten widerspiegelt, wozu ich neben Musikern aus dem ewo2-Projekt auch kulturell Aktive von damals, wie Margit Romeis oder Einhart Klucke gewinnen kann.
Es gibt ein Leben vor der Rente
Mit Einhart, Margit und anderen war ich im Vorfeld des damaligen Streiks mit der Revue »Es gibt ein Leben vor der Rente« eineinhalb Monate durch die Republik getourt. In Gewerkschaftshäusern, Bürgersälen oder vor Betriebsversammlungen brachten wir einen heißen Ritt durch die Geschichte der Arbeiterbewegung auf die Bühne, der mit der Forderung nach der 35 endete. Es war keine offizielle Tour der IG Metall und vielleicht ergab sich auch der Erfolg und die Intensität der Aufführungen daraus, dass die örtlichen Gewerkschaften aus eigenem Antrieb auf diese kulturelle Unterstützung gesetzt und und uns engagiert hatten.
Die Erfahrung mit Kultur in gewerkschaftlichen Kämpfen hatte damals schon einen längeren Vorlauf, war aus der Politisierung seit den 60er Jahren erwachsen, als viele Gewerkschaftsmitglieder nicht nur durch die betriebliche Wirklichkeit, sondern auch über außerparlamentarische Aktivitäten (selbstverwaltete Jugendzentren, Aktionen gegen Rechts, Anti-AKW-Bewegung) oder linkspolitische Organisationen zur Gewerkschaftsarbeit kamen. So auch wir Kulturleute. Und es waren kluge Gewerkschafter:innen, die uns damals den Weg in die Organisation öffneten, allen Vorbehalten und Widerständen zum Trotz.
Den gefesselten Prometheus befreien
Auf Fotos vom Streik sind Kollegen und Kolleginnen mit einem grünen Liederbuch zu sehen. Das Bilder-Lieder-Lesebuch von Karl Adamek, das 1981 bei der Büchergilde Gutenberg erschienen und über den Vorstand der IG Metall finanziert worden war.
500.000 dieser Bücher wurden über die Bücherpakete der IG Metall im Anschluss an Bildungs-Seminare in Umlauf gebracht, sorgten für ein breites historisches Verständnis für die Geschichte und die Kultur der Arbeiter:innen-Bewegung und machten Lust auf das gemeinsame Singen der alten oder aktuellen Lieder.
Hinzu kam, dass es der Abteilung Kulturpolitik beim damaligen DGB-Bundesvorstand unter der Brecht-Zeile: »Unsere Zuschauer müssen nicht nur hören, wie man den gefeselten Prometheus befreit, sondern auch sich in der Lust schulen, ihn zu befreien.« gelang, die breite Szene von Liedermacher:innen, politischen Theatergruppen, Chören und Songgruppen zusammenzubringen und auf eine aktive Unterstützung der Auseinandersetzungen vorzubereiten.
»Damals waren Kulturschaffende und Musiker:innen an unserer Seite. (…) Der Streik begann im Regen und endete nach vielen Wochen im Regen. Schlecht für die Stimmung. Was wäre gewesen, wenn nicht Lieder und Musikant:innen für gute Laune gesorgt hätten, zum Mut machen, zum Aufheitern, zum Mitsingen, aber auch, um dem Bedürfnis nach Schulterschluss und Solidarität musikalischen Ausdruck zu verleihen. In den langen Streikwochen wurde vieles wieder und vieles neu gelernt. Eine ganz wichtige Rolle spielten bei diesem Lernprozess unsere ausländischen Kolleginnen und Kollegen. Italienische, türkische und griechische Lieder gehörten zum Repertoire unserer Liedermacher:innen und Songgruppen, Texte machten die Runde und irgendwann wurden diese Lieder mitgesungen von allen – auch den Deutschen. Das war eine wunderbare gemeinsame Erfahrung.«, schrieb Sybille Stamm in einem Nachklang zum Streik.
Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse
Die Gewerkschaftsforderung nach der 35-Stunden-Woche ging weit über den Horizont klassischer Tarifrituale hinaus. Der Ruf nach mehr Zeit für Kultur, Bildung, Erholung, Sport und Familie traf den Nerv der politisch und kulturell hochsensiblen, gut organisierten außerparlamentarischen Bewegung und er fand auch vielfältige prominente Unterstützung. (Siehe Kasten mit Solidaritätsaufruf.)
»Durch die Verkürzung der Arbeitszeit werden nicht nur Arbeitsplätze geschaffen und gesichert, sondern gleichzeitig durch Erweiterung der arbeitsfreien Zeit die Beziehungen der Menschen untereinander verändert. Mehr Zeit für uns selbst, die Familie, mehr Zeit für Freunde, für gesellschaftliche Aufgaben und für Politik ist für die Qualität des Lebens ebenso unabdingbar wie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie der Handlungs- und Entscheidungskompetenz durch mehr Selbstbestimmung innerhalb des Arbeitsprozesses« so Klaus Zwickel, damaliger erster Bevollmächtigter der IG Metall in Stuttgart, zu den Zielen des Arbeitskampfes.
Um eine tarifpolitische Forderung ging es also, die das Leben in seiner Gesamtheit berührte. Es ging um die Verfügungsgewalt über die Zeit, um Machtfragen und um die Frage, wer kann sich was leisten und warum nicht. Es ging, so scharf und ehrlich wurde das damals formuliert, auch um die Überlebensfrage der Gewerkschaften, die sich einer bis dahin noch nicht da gewesenen konzertierten Aktion von Kapital, Regierung und Medien ausgesetzt sahen. Legendär die Ansage des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, der die Forderung der Gewerkschaften als »dumm, absurd und töricht« angegriffen hatte.
»Der Kampf um die 35-Stunden-Woche ist weit mehr als ein ‚nur ökonomischer‘ Kampf. Er ist ein Kampf um die Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Er muss geführt werden von einer durch Arbeitslosigkeit und Krise bereits geschwächten und uneinigen Gewerkschaftsbewegung gegen ein durch die Arbeitslosigkeit bereits gestärktes und einig und geschlossen handelndes Kapital und seiner politischen Verbündeten,« formulierte 1983 Franz Steinkühler, damals 2. Vorsitzender der IG Metall, in einem Papier mit zehn Thesen zum Arbeitskampf.
Für diesen Kampf gab es unterschiedlichste unterstützende gestalterische Aktivitäten von Laienkünstler:innen und Profis (Filme, Bücher, Lieder, kreative Großtransparente, Plakate, Kunstausstellungen) und es gab einen allgemeinen Boom zu Kulturseminaren. Gewerkschaftsmitglieder jeden Alters drängelten sich unter der Losung: »Leben, lieben, lachen, kämpfen«.
Diese Losung aus dem Frauenbereich der IG Metall entsprach nicht dem offiziellen Duktus, aber sie wurde übernommen. Der Funke sprang über, ein kreativer Dialog entstand, in dem Künstler:innen und Funktionäre sich gegenseitig qualifizierten, gegenseitig forderten und förderten.
Diese fruchtbare Beziehung endete und hinterließ Ernüchterung, als nach sieben Wochen Streik der umstrittene Etappenplan zur Einführung der 35-Stunden des Schlichters Georg Leber, abschätzig LeberKäs genannt, verabschiedet wurde.
Eine vertane Chance?
Es gab kein Konzept über den Tag X hinaus, keine Rahmenbedingungen, die das kulturelle Feuer am Glimmen hätten halten können. Die gewerkschaftlich orientierte und kulturelle Bewegung lief sich tot.
Eine vertane Chance? Oder hat es nie eine Chance gegeben? War das Süppchen, das da für eine gewerkschaftliche Forderung zu brodeln begonnen hatte, von Anfang an schon zu scharf gewürzt für die Befindlichkeit des Apparats? Die Fragestellung »wer?, wen?«, die die meisten kulturellen Beiträge durchdrang, die klassenkämpferische Forderung nach grundsätzlich anderen Lebens- und Verwertungsbedingungen, die Sinnfrage, die eine Kunst hervorbrachte, die sich fundamental mit den herrschenden Zuständen auseinandersetzte… Ich weiß nicht, ob solche Überlegungen in den Vorstandsetagen der Gewerkschaften je eine Rolle spielten, ob Debatten dazu im Nachklang je geführt wurden oder ob sich das pragmatisch von selbst erledigte, zum Beispiel über den Bericht zur Kassenlage.
40 Jahre danach findet die Ernüchterung ihre Fortsetzung. Die offizielle Erinnerungsarbeit an diese bedeutende Zeit bundesdeutscher Gewerkschaftsbewegung fand auf äußerster Sparflamme statt. Die damalige Haltung und inhaltlichen Positionen passten nicht in das allgemeine Wegducken gegenüber der mal wieder alles beherrschenden krisengeschüttelten Kapitallogik.
Sowas hatte ich das letzte Mal Anfang der 90er Jahre erlebt, als nach dem Kollaps des realsozialistischen Modells auch der sozialkritische oder antikapitalistische Kulturansatz mit in den Strudel gerissen wurde. Die kämpferische Kultur und Historie der Arbeiter:innen-Bewegung mutierte auch in den Gewerkschaften zum Schamobjekt. Es folgte eine bleierne Zeit von rund zehn Jahren, nicht nur für die gewerkschaftliche Kultur, die erst durch den breiten außerparlamentarischen Widerstand gegen die Schrödersche HartzIV-Politik wieder aufgebrochen wurde.
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Der Autor:
Bernd Köhler, Mitbegründer von Lunapark21, war früher unter dem Namen »Schlauch« als politischer Liedermacher unterwegs. Heute setzt er diese Tradition mit der Mannheimer Gruppe »ewo2 – das kleine elektronische weltorchester« fort. Mehr unter: www.bernd-koehler-live.de
Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Lunapark21, Heft 63 (Winter 2024) www.lunapark21.net und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt. Bild: IG Metall