Wahlen – eine Angelegenheit der Reichen? Grenzen der repräsentativen Demokratie bei der Kommunalwahl in einem „abgehängten“ Stadtteil

In Nordrhein-Westfalen werden am 14. September 2025 die kommunalen Vertretungen für 396 Städte und Gemeinden neu gewählt. Nach landläufiger Meinung ist in der repräsentativen Demokratie die Kommunalwahl die höchste Form der Partizipation für den einzelnen Bewohner in der Stadt oder Gemeinde.

Während die Wohlhabenden mitgestalten möchten und wählen gehen, koppeln sich die Ärmeren immer mehr ab, sie stellen den übergroßen Teil der Wahlverweigerer. Dementsprechend haben die reichen Teile der Gesellschaft deutlich mehr Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundes- und Landtages und der Kommunalparlamente genommen als die ärmeren.

Die armen Menschen haben gute Gründe nicht zur Wahl zu gehen. Sie finden keine Partei mehr, die ihnen ein Angebot macht, niemand fragt sie nach ihren Interessen und keiner setzt sich für ihre Belange ein. Hinzu kommt, dass in den „Problemstadtteilen“ eine riesige Anzahl von Menschen erst gar nicht an dieser Demokratieveranstaltung teilnehmen darf.

So entsteht ein Kreislauf, der nur den konservativen und rechten Parteien nützt, die ganze Gesellschaft weiter nach rechts ausrichtet und den Menschen das parteipolitische Interesse raubt.

Am Beispiel der Dortmunder Nordstadt sollen die letzten Kommunalwahlen von 2020 einmal genauer betrachtet werden.

In dem statistischen Bezirk Innenstadt-Nord

  • lebten am Jahresende 2019 dort 59.604 Menschen, 27.739 von ihnen hatten einen deutschen Pass und 31.865 besaßen eine andere als die deutsche Staatsbürgerschaft. Von den EU-Bürgern einmal abgesehen, konnte fast die Hälfte der Gesamteinwohner der Nordstadt erst gar nicht an der Kommunalwahl teilnehmen,
  • hatten hier von den 31.255 Wahlberechtigten nur 7.663 Wähler ihre Stimme abgeben, das macht eine Wahlbeteiligung von nur 24,52 Prozent,
  • im Wahlbezirk 3 hatte der neu gewählte Ratsvertreter von den 9.983 abgegebenen Stimmen nur 650 erhalten, das reichte für einen Sitz im Rat der Stadt Dortmund, einer Stadt mit 600.000 Einwohnern

und

im Wahlkreis 3106 wurden den 919 Wahlberechtigten die Unterlagen zugesandt. 111 Menschen haben dort an der Wahl teilgenommen, das sind 12,08 Prozent.

Insgesamt gesehen hatten rund vier Fünftel aller Einwohner der Nordstadt mit der Zusammensetzung ihrer Vertretung rein gar nichts mehr zu tun oder wollten nichts damit zu tun haben.

In den „westlichen“ Gesellschaften läuft seit einigen Jahrzehnten ein fataler Trend ab, der darin besteht, dass die Eliten sich von der Bevölkerung absondern und sich in ihrem eigenen Milieu einkapseln. Zwischen den „die da oben“ und „die da unten“ ist eine Kluft der Entfremdung angewachsen, die mit einem massiven Verlust von Vertrauen in die Herrschenden einher geht.

Die „Leute da unten“ nehmen das Scheitern ihrer Interessen so wahr, dass ihre Nöte und Sorgen durch die Regierungen nicht mehr berücksichtigt werden. Das zeigt sich auch bei den Wahlen, bei denen große Teile der Wähler inzwischen der Eliten aus Politik, Kapital und Medien angehören und sich eine „straffe Führung“ wünschen, die die nationalen Interessen stärker durchsetzt, vor allem gegen die weltweiten Opfer der Staatenkonkurrenz bzw. Kriege, wie den zugewanderten Menschen oder denjenigen, die auf der Flucht sind.

Dennoch zeigen aktuelle Umfragen, dass 90,4 Prozent der Befragten der Demokratie als Idee zustimmen. Eine große Mehrheit lehnt nicht die Demokratie ab, sondern die Art und Weise, wie sie derzeit im Kapitalismus umgesetzt wird. Mehr als die Hälfte fühlen sich von der „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“ nicht mehr vertreten. Gleichzeitig sind sehr viele Menschen politisch engagiert. Während nur knapp 2 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung, – das sind 1,2 Millionen Menschen – in den Parteien organisiert sind (also 98 Prozent sind keine Parteimitglieder), ist etwa jeder zweite Bundesbürger in einer der 657.000 Nichtregierungsorganisationen engagiert.

Trotzdem hat sich der einzelne Mensch, wie auch Teile des Volkes, entfremdet und ist auch zunehmend aus den Entscheidungsprozessen bereits vollkommen ausgeschlossen. An seiner Stelle stehen reiche und superreiche Einzelpersonen, Konzerne und internationale Organisationen, die im globalen Maßstab Gesetze schreiben und dafür sorgen, dass diese von den Regierungen der einzelnen Nationen dann nur noch durchgewunken werden. Dabei wird nur noch locker dafür gesorgt, dass zumindest formal die Voraussetzungen der jeweiligen Verfassung erfüllen werden und sie nur zum Schein demokratisch agieren.

Mitspracherecht hat die einzelne Person immer weniger; sie wird vor vollendete Tatsachen gestellt, ihre Zustimmung zur Not auch mit Zwangsmaßnahmen eingebracht und ihre Opposition wird erst gar nicht wahrgenommen oder gänzlich zerbrochen.

Über alledem steht das Schlagwort Demokratie, allerdings Demokratie im Sinne der Herrschenden als Elitenherrschaft.

Unter diesen Rahmenbedingungen darf sich niemand mehr wundern, wenn die Wahlbeteiligung sinkt und immer mehr Menschen rechtlich von Wahlen ferngehalten werden.

Kommunalwahlen 2020 in der Dortmunder Nordstadt

Die Wahlbeteiligung zur Kommunalwahl im Stadtteil ist kontinuierlich gesunken. Lag sie im Jahr 2004 noch bei 32,6 Prozent, stürzte sie 2009 auf 27,4 Prozent ab. Bei den Wahlen 2014 sank sie weiter auf eine Beteiligung von 25,3 Prozent um jetzt bei 24,52 Prozent zu landen.

Wahlkreise 3106

Im Gebiet rund um die Stahlwerkstraße in der Nähe des Borsigplatzes ist der Wahlkreis 3106. Hier wurde den 919 Wahlberechtigten die Unterlagen zugesandt. 111 Menschen haben dort an der Wahl teilgenommen, das sind 12,08 Prozent. Interessant wäre einmal zu rechnen, wie hoch der Anteil der 111 Wähler an der Gesamtbevölkerung über dem 16. Lebensjahr im Wahlkreis 3106 ist.

In diesem Wahlkreis wurde auch noch einmal deutlich, dass man mit wenigen Stimmen eine hohe Prozentzahl erreichen kann. Die CDU kam hier mit nur 15 Stimmen auf etwas über 14 Prozent.

Wahlbezirk 3

Um ein Ratsmandat oder einen Sitz in der Bezirksvertretung zu erlangen, braucht es gar nicht so viele Stimmen, wie man sich vielleicht von außen betrachtet, vorstellt. Der Borsigplatz ist der Mittelpunkt des Wahlbezirks 3. Der dort neu gewählte Ratsvertreter hat von den 9.983 abgegebenen Stimmen nur 650 erhalten, das reicht für einen Sitz im Rat der Stadt Dortmund, einer Stadt mit 600.000 Einwohnern. Die Wahlbeteiligung im Borsigplatzviertel betrug nur 21,95 Prozent. Das neu gewählte Mitglied des Stadtrats erklärt sich das so: „Die Leute haben die Einstellung, dass sich eh nichts ändert“

Ergebnisse in den wohlhabenden Wohngebieten

Die Wahlbeteiligung ist in den wohlhabenden Wohngebieten von Dortmund eine ganz andere, in Kirchhörde/Lücklemberg lag sie bei 64,84 Prozent, der Spitzenwert in Dortmund. Diese Beobachtung lässt sich auf die gesamt Stadt übertragen. In den wohlhabenden Stadtteilen im Süden, Südosten und der Innenstadt Süd haben durchweg rund 60 Prozent gewählt.

Hier noch einmal die Wahlergebnisse Bezirksvertretungswahl Dortmund Innenstadt Nord 13.09.2020

Wahlberechtigte 31.255, Wahlbeteiligung 24,52 Prozent,

SPD absolut 1.964 // macht 26,10 Prozent,

CDU absolut 729 // macht 9,69 Prozent,

Grüne absolut 2.033 // macht 27,02 Prozent,

Linke absolut 1.099// macht 14,61 Prozent,

FDP absolut 177// macht 2,35 Prozent,

Bürgerliste absolut 38 // macht 0,51 Prozent,

Die Rechte absolut 130 // macht 1,73 Prozent,

DKP absolut 57 // macht 0,76 Prozent,

AfD absolut 386// macht 5,31 Prozent,

BVT absolut 354 // macht 4,70 Prozent,

Die Partei absolut 379 // 5,28 Prozent,

Piraten absolut 91 // macht 1,21Prozent,

DOS absolut 69 // macht 0,92 Prozent.

Niedrige Wahlbeteiligung und prekäre soziale Situation

Das neu gewählte Mitglied des Stadtrats aus dem Wahlbezirk 3, Sohn von Zuwanderern, der in der Nordstadt aufgewachsen ist, weiß wohl gut, warum in seinem Wahlkreis die Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten dramatisch sinkt und er erklärt sich das, wie schon erwähnt, so: „Die Leute haben die Einstellung, dass sich eh nichts ändert“, er wird wohl richtig liegen. Die Menschen stimmen sehr wohl ab, aber mit ihren Füßen und nicht mit dem Wahlzettel.

Sie wissen genau, wie sie als Nordstädter in den Augen der „leistungstragenden” Besserverdiener und Wohlhabenden gesehen werden, nämlich als Hartz-IVer, Prekär-Beschäftigte, Zuwanderer, Obdachlose, Langzeitarbeitslose, Behinderte etc.

Sie haben erfahren, dass sie nicht mehr mit der Selbstoptimierung im beinharten Konkurrenzkampf mithalten können, in dem alles zur Ware geworden ist.

Sie leben in einem Umfeld, in dem die monetäre Bewertung des Menschen das ganze Alltagsleben bestimmt und derjenige überhaupt noch etwas zählt, wenn er etwas leistet, nützlich und effizient ist.

Sie haben ein Bildungssystem erlebt, das sie schon früh ausgesondert hat.

Sie werden von den Behörden schikaniert und bekommen nicht einmal das Lebensnotwendige zugestanden, auf das sie ein Recht haben. Die gesetzlich vorgeschriebene Beratungs- und Auskunftspflicht gilt für sie nicht, sie werden einfach von den Securitys aus den Ämtern hinausgeworfen.

Sie werden schon bei geringen Vergehen von der Polizei und den Ordnungskräften verfolgt und von der Justiz drakonisch bestraft.

Sie wissen, dass in den Kommunalparlamenten Leute sitzen, die studiert haben, reich sind und nicht die Bevölkerung widerspiegeln, die sie vertreten sollen.

Sie wissen, es bestimmen Wähler mit ihrer Wahl über Menschen, die sie verachten.

Niemand interessiert sich dafür, dass sie sorgende Väter, liebevolle alleinerziehende Mütter, fleißige, schlaue und hilfsbereite Menschen sind.

Was sie nicht wissen, aber vielleicht erahnen, ist die große Angst der besser situierten Menschen aus den anderen Stadtteilen davor, morgen auch schon nutzlos zu sein und ebenfalls abzustürzen. Diesen Menschen geht es noch gut, sie werten die Schwächeren ab, um sich damit zu beweisen, dass noch jemand unter ihnen auf der Treppe steht.

 

 

 

 

 

Quellen: WAZ, Stadt Dortmund, Wilhelm Heitmeyer, Die „Leipziger Autoritarismus-Studie 2024“, Renate Dillmann, Berichte und Erzählungen von armen Menschen

Bild: Symbolbild