Als der DGB Ende September 2016 die Ergebnisse seiner Untersuchung über die Arbeit auf Abruf vorstellte, wunderten sich alle Beteiligten über das Ausmaß, die dieser Beschäftigungsbereich mittlerweile bei uns erreicht hat. Bis zu 1,9 Millionen Menschen arbeiten in solchen Arbeitsverhältnissen. Sie sind zwar festangestellt, aber den Beschäftigten reicht ihr Entgelt nicht aus. Sie haben einen Arbeitsvertrag mit flexiblen Einsatzzeiten. Der Arbeitgeber sichert den Beschäftigten nur eine Mindeststundenzahl zu. Gleichzeitig müssen sie sich jedoch dafür bereithalten, jederzeit mehr zu arbeiten.
Diese aus den USA übernommene Form der Teilzeitarbeit wird KAPOVAZ (Kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit) genannt und wurde bisher vor allem im Einzelhandel angewandt.
Die offiziell niedrigeren Arbeitslosenzahlen wurden dadurch erkauft, dass die Arbeitsmarktpolitik einen Graubereich im Niedriglohnsektor offenlässt, in dem Menschen auf Arbeitsplätzen zweiter und dritter Klasse arbeiten. So kann man auf sie auch komplett das betriebswirtschaftliche Risiko abwälzen.
Von einer Gegenwehr hat man bislang erstaunlich wenig gehört.
KAPOVAZ ist eine Sonderform der Teilzeitarbeit, die aber nicht an ein bestimmtes Arbeitszeitmodell geknüpft ist. Am Beispiel dieser Sonderform von Arbeit kann die existenzielle Gefährdung in der Arbeits- und Lebenssituation der Beschäftigten deutlich gemacht werden, die kurzfristige Arbeitseinteilungen oder Abrufarbeit auslösen können. Gegenüber der klassischen Variante der Teilzeitarbeit wird hier dem Unternehmen mehr Flexibilität verschafft und gegenüber der klassischen Variante der Teilzeitarbeit werden Beschäftigten mehr und mehr an den Rand des Existenzminimums drängt und können sich wegen der Arbeitszeit keinen Zusatzjob suchen.
So profitiert das Unternehmen von der Flexibilität, da es die Lage als auch die Dauer der geleisteten Arbeitszeit seiner Mitarbeiter an den jeweiligen Bedarf anpassen kann. Im Einzelhandel z.B. muss es seine Angestellten nur bezahlen, wenn der Laden voll Kunden ist, sind keine Kunden da, wird eben nicht gearbeitet und nicht entlohnt.
Weil es so gut läuft und die Politik der Entwicklung tatenlos hinterher schaut, wird dieses Modell auch überall dort übernommen, wo die Auslastung stark schwankt, wie in der Gastronomie, dem Tourismus und der Pflege.
Mittlerweile sind im Einzelhandel rund zwölf, im verarbeitenden Gewerbe elf, im Gesundheits- und Sozialwesen neun, im Baugewerbe acht und in der Gastronomie sieben Prozent der Beschäftigten „auf Abruf“ beschäftigt. Die Dunkelziffer ist genau so groß wie der Übergangsbereich zwischen Legalität und Illegalität. Der Anteil der Betroffenen ist umso höher, je kleiner der Betrieb ist und in ländlichen Regionen mit hoher Arbeitslosenquote ist die Zahl derjenigen, die so um ihren Lohn betrogen werden, besonders groß.
Gängige Praxis ist es in manchen Friseurgeschäften, dass die Angestellten sich mehr als acht Stunden lang im Laden aufhalten, alle möglichen Arbeiten verrichten, aber nur für die Zeit bezahlt werden, in der sie Kunden die Haare schneiden oder der Koch, der sich dann wieder an der Zeituhr einloggt, wenn er tatsächlich mit der Zubereitung der bestellten Speise beginnt und sich wieder ausloggt, wenn die Speise zubereitet ist.
Als Hebel dafür wird das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz – TzBfG) aus dem Jahr 2001 genutzt.
In § 12 Arbeit auf Abruf heißt es:
(1) Arbeitgeber und Arbeitnehmer können vereinbaren, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat (Arbeit auf Abruf). Die Vereinbarung muss eine bestimmte Dauer der wöchentlichen und täglichen Arbeitszeit festlegen. Wenn die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit nicht festgelegt ist, gilt eine Arbeitszeit von zehn Stunden als vereinbart. Wenn die Dauer der täglichen Arbeitszeit nicht festgelegt ist, hat der Arbeitgeber die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers jeweils für mindestens drei aufeinander folgende Stunden in Anspruch zu nehmen.
(2) Der Arbeitnehmer ist nur zur Arbeitsleistung verpflichtet, wenn der Arbeitgeber ihm die Lage seiner Arbeitszeit jeweils mindestens vier Tage im Voraus mitteilt.
(3) Durch Tarifvertrag kann von den Absätzen 1 und 2 auch zuungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden, wenn der Tarifvertrag Regelungen über die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit und die Vorankündigungsfrist vorsieht. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen über die Arbeit auf Abruf vereinbaren.
Diese gesetzliche Grundlage ermöglicht es, Arbeitsplätze mit „flexibler Teilzeit“ einzurichten, in denen die Beschäftigten vom Arbeitgeber nur eine Mindeststundenzahl zugesichert bekommen und gleichzeitig sich dafür bereithalten müssen, jederzeit mehr zu arbeiten.
Wenn der Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht tarifgebunden sind, k ö n n e n die Anwendung der tariflichen Regelungen über die Arbeit auf Abruf vereinbart werden… oder auch nicht.
Der Paragraph 12 des TzBfG muss schnellstens ersatzlos gestrichen werden und es muss mehr Flexibilität im Sinne der Beschäftigten geben. Sie sollen es sein, die ihre Arbeitszeiten lebenslauforientiert entsprechend ihrem persönlichen Bedarf anpassen können.
Quelle: DGB
Bild: DGB