Der Dortmunder SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow hat in den letzten Jahren Gespräche, Treffen und Veranstaltungen mit Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen, Sozialverbänden und anderen Expertengremien durchgeführt.
Das Ergebnis wird nun in einem Dossier herausgegeben, in dem er Fakten aufführen, Anstöße geben und mithelfen will, das Thema der sozialen Ungleichheit in Deutschland endlich ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung zu befördern.
Einen Schwerpunkt legt er aber besonders auf die Vorschläge und Maßnahmen, die wieder zu mehr Gerechtigkeit und besseren Aufstiegschancen führen sollen.
Da das Thema Ungleichheit ist bislang in der öffentlichen Debatte zu sehr vernachlässigt worden ist, will er das mit der Herausgabe des Dossiers ändern. Adressaten sind neben der Öffentlichkeit auch seine eigene Partei.
In folgendem wird das Fazit des Dossiers von Marco Bülow abgedruckt:
Fazit: Sozialwende
Abstiegsgesellschaft
Die soziale Marktwirtschaft gibt es nicht mehr. Aus der Aufstiegs- wird immer mehr eine Abstiegsgesellschaft. Nur 36 Milliardäre vereinigen auf sich ein Vermögen, welches sich ansonsten 41 Mio. Menschen in Deutschland teilen müssen.195 Egal wie liberal oder konservativ man sein mag, für wie wichtig man Vermögensunterschiede als Anreiz hält, diese abstrus hohe Ungleichheit kann niemand rechtfertigen. Es geht nicht um Neid oder Gleichmacherei. Im Gegenteil: Jeder müsste begreifen, dass es längst nicht mehr „nur“ eine Frage der Moral oder der unterschiedlichen politischen Bewertung ist. Es geht um die Gefährdung des sozialen Friedens und unseres Wohlergehens. Reichtum und Armut haben sich so stark manifestiert, sind so undurchlässig geworden, dass vor allem die Herkunft über Wohlstand entscheidet und sich Leistung allein eben nicht mehr lohnt! Es ist fast absurd, dass gerade die größten Befürworter der Marktwirtschaft eigentlich dafür sorgen müssten, die Ungleichheit abzubauen – wenn sie ihr System retten wollen.
Woher kommt die groteske Ungleichheit? Wie konnten wir das zulassen? Gerecht ging es noch nie zu, aber jahrzehntelang und nach vielen sozialen Kämpfen gab es eine Zeit, in der auch ärmere Bevölkerungsschichten ihren Anteil am Wachstum hatten – oder zumindest hoffen durften, dass ihre Kinder vom Bildungsversprechen profitieren würden. Als die Ostblockstaaten erodierten, die Finanzmärkte zusammenbrachen, da entfiel der Druck, die Markwirtschaft sozialverträglicher zu gestalten. Die ökonomischen Grundlagen von Keynes und Co wurden eingemottet und die Politik von Thatcher und Reagan, die nur einer Elite nutzen, eroberten die westliche Welt. Der Neoliberalismus infizierte nicht nur die konservativen und liberalen, sondern auch mehrheitlich die sozialdemokratischen Parteien.
Es gab keine gute, sondern nur noch modere Wirtschaftspolitik: eine Politik des ruinösen Wettbewerbs um die niedrigsten Unternehmenssteuern und ein Steuerabbau für die Reichsten, der teilweise mit dem Anstieg von Verbrauchssteuern erkauft wurde. Lohnsenkungen, Ausweitung prekärer Beschäftigung und Einschränkung der Arbeitsnehmerrechte. Sozialabbau einhergehend mit Deregulierung, Privatisierungen und einer Freihandelspolitik, die die Märkte der armen Länder für die wachsende Überproduktion der reichen Länder geöffnet hat. Lascher Umgang und kaum Kontrollen bei Steuerflüchtlingen und Steueroasen. Sich anheizende Spekulationsgeschäfte wurden weder ausreichend eingeschränkt noch bekämpft.
Nach einem kurzzeitigen Aufschwung, von dem aber immer weniger Menschen profitierten, überkam die westliche Welt eine Dauerschwäche der Wirtschaft mit in der Regel abgeflachten Wachstumsraten und einer Krisenanfälligkeit, weil Spekulation und Erwartungen längst Investition und Innovation abgelöst hatten. 2007 mündete der Turbokapitalismus mit dem Platzen der Immobilienblase in eine ausgewachsene Finanzkrise, über die schon sehr lange nicht mehr gesprochen oder geschrieben wird, deren Auswirkungen aber noch gegenwärtig sind und welche die Ungleichheit noch einmal vergrößert haben.
Absurde Marktwirtschaft
Die Marktwirtschaft wurde dagegen ad absurdum geführt. Statt es „den Markt regeln zu lassen“ – wie dies der liberale Ökonomiecharakter ja meist vorgibt – wurden mit Billionen Euro und Dollar Steuergeldern die Banken gerettet. Wir mussten lernen, dass Versagen bei den „Großen“ nicht bestraft wird wie bei jedem Selbstständigen oder kleinerem Unternehmen, sondern zur Not der Staat einspringt. Gewinne werden privatisiert und Risiken vergesellschaftet – das ist das endgültige Aus für eine Marktwirtschaft, die den Menschen, der breiten Masse dienen sollte. Im Ergebnis verschuldeten sich viele Staaten zusätzlich und nur durch große Investitionsprogramme konnte die Krise halbwegs überwunden werden. In der Folge gerieten viele Länder wegen der zusätzlichen Schulden noch stärker unter Druck, massiv sparen zu müssen. Auch hier obsiegte die Absurdität, dass die neoliberale Politik, welche die Krise erst ermöglichte, nicht verändert, sondern auch noch zum Gewinner der Krise wurde. Alle Beteiligten mussten massive Einbußen hinnehmen, aber viele finanzstarke Player erholten sich schnell wieder, während die Staaten und die Öffentliche Hand die Verlierer blieben.
Schnell konzentrierte sich die Diskussion aber auf die „faulen“ Südeuropäer und darauf, die massiven Schulden mit den alten neoliberalen Mitteln abzubauen. Verschlankung der Bürokratie, Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Verkaufen von öffentlichem Eigentum, Kürzung der Sozialausgaben und so weiter. Alles Maßnahmen, welche die Ungleichheit vertiefen. Verstärkt dadurch, weil den anfänglichen Investitionsprogrammen, die während der Krise ihre Wirkung entfalteten, die Luft ausging. Heute fallen selbst in Deutschland notwendige Investitionen der Heiligen Kuh der schwarzen Null zum Opfer. In Europa dominiert trotz niedrigster Zinsen der Sparzwang, der vor allem die ärmeren Bevölkerungsteile trifft. Austeritätspolitik statt Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, Investitionen in Infrastruktur oder andere soziale Maßnahmen.
Ungleichheit als Wachstumsrisiko
Die Politik hat vor lauter „Sorge“ um das Finanzsystem die Brennpunkte im sozialen Gefüge aus den Augen verloren. Sie hat Kapitalinteressen höher gestellt als das Wohl von Menschen. Wir, die Politik und die Gesellschaft, haben zugeschaut, vor allem wenn es nicht um unser Land ging. Dass Südeuropa ein wichtiger Abnehmer unserer Importe ist und dass die Verarmung ganzer Regionen auch unserer Wirtschaft schadet, sollte jeder nicht erst im Nachhinein begreifen. Kein Wunder, dass viele internationale Ökonomen – wie der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und selbst der konservative IWF – Deutschland regelmäßig zur Umkehr auffordern und dafür verantwortlich machen, dass Europa sich ruiniert. Ausgerechnet auf dem elitären Treffen in Davos kommen im Januar 2017 die reichsten Wirtschaftsführer zu dem Urteil, dass die „Ungleichheit zum Wachstumsrisiko“ wird. Stiglitz kommentiert dies damit, dass „die Zukunft der Marktwirtschaft in seiner jetzigen Form auf dem Spiel steht“, wenn die Ungleichheit nicht entschieden bekämpft würde
Das ist – zugegeben in Kurzform – die Beschreibung der Entwicklung und die Antwort darauf, wie es dazu kommen konnte und wo wir stehen.
Dennoch müsste man gerade in Deutschland genügend finanzielle Ressourcen haben, um die Ungleichheit zu bekämpfen. Das Volkseinkommen, die Summe der Erwerbs- und Vermögenseinkommen, ist sogar zwischen 2012 und 2015 um 10% gestiegen und die Steuereinnahmen steigen weiter an.197 Ich habe beschrieben, wie obszön reich wir sind und wieviel Geld eigentlich da wäre. Umso absurder, dass nicht eine Mehrheit davon profitiert. Die Statistiken zeigen nur die Gesamtzahlen und nicht die Tatsache, dass der Profit nur sehr wenige Menschen bereichert.
Die wirkliche Situation habe ich im Dossier deutlich gemacht:
- vom Wachstum profitiert nur der kleinste Teil der Bevölkerung
- die Spreizung der Einkommen hat zugenommen
- die Mittelschicht schmilzt
- die Aufstiegsmöglichkeiten und die Chancengleichheit reduzieren sich zunehmend
- das Armutsrisiko hat zugenommen
- einige Regionen und bestimmte Gruppen sind besonders stark betroffen.
Ungleichheit stärkt Nationalismus
Die Vergrößerung der Ungleichheit der Vermögen und der Einkommen ist zu einer gesellschaftlichen Gefahr geworden. Bereits 2010 hat Wilhelm Heitmeyer in einer Studie198 festgestellt, dass Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness in der Mitte der Gesellschaft immer weniger Anklang finden. Gerade bei Menschen aus der unteren Soziallage sei die Bereitschaft stark gesunken, sich überhaupt noch aktiv an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Nur wenige Jahre später bekommen wir heftig zu spüren, wer die eigentlichen Krisengewinner und Profiteure der Ungleichheit sind: Rechtsextreme, Nationalisten und Opportunisten, die mit einfachen Parolen gegen Minderheiten und das Establishment hetzen. Sie nutzen die Stimmung und das Bauchgefühl von immer mehr Menschen, die sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten, vielleicht sogar verraten fühlen. Dies gelingt vor allem deshalb so gut, weil auch linke Parteien selten wirklich umfassende Alternativen angeboten haben, geschweige denn wirksame Veränderungen durchsetzen konnten. Damit steht mittlerweile neben dem sozialen Staat nun immer mehr auch unsere Demokratie auf dem Spiel.
„In der Abstiegsgesellschaft entzündet sich der Konflikt in der Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie, zwischen Freiheit und Gleichheit. Es zeichnet sich ein neues Aufbegehren ab, ein demokratischer Klassenkonflikt, der in seinem Kern vom Kampf um politische und soziale Bürgerrechte getrieben wird. Neue Bürgerproteste sind ein Nebenprodukt der politischen Entfremdung in der Postdemokratie. Allerdings, und hier besteht eine große Gefahr, breiten sich auch Apathie, soziale Abgrenzung und antidemokratische Affekte aus.“199 Oliver Nachtwey
Sozialwende
Man könnte jetzt in epischer Breite die Schuldfrage besprechen, aber ich glaube, es ist wichtiger, jetzt die Forderungen zu diskutieren und klarzumachen, dass es hier nicht um Pflaster oder Reparaturen geht. Es geht darum, einen wirklichen Umbruch herbeizuführen: Die Sozialwende.
Egal, wo man ansetzt, wenn man erfolgreich sein will, muss man den Kampf gegen besonders einflussreiche Lobbyisten aufnehmen. Dies ist auch der eigentliche Grund, warum gerade in Deutschland eine so hohe Ungleichheit herrscht. Einige wenige Lobbyisten bestimmen zu sehr, wofür der Staat Geld ausgibt und wo Besteuerungen heruntergefahren und wo Subventionen ausgeweitet werden. Meist läuft es dann parteipolitisch: „wenn euer Klientel, eure Lobby hier mehr bekommt, wollen wir da aber im Gegenzug was bekommen.“ So verlieren immer mehr diejenigen, die keine starke Lobby haben. Endlich müsste eine Politik vorherrschen, welche die Bedürftigen nicht zurücklässt, aber gleichzeitig die Leistungsträger und die Mittelschicht stärkt. Jeder verdient zudem Chancengleichheit und Aufstiegschancen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder auch davon, wie vermögend die Eltern sind. Dazu müssen Privilegien angetastet werden und wirklich Vermögende ihren Beitrag leisten. Dazu müssen nicht nur Mittelständler, sondern vor allem Amazon und Co angemessene Steuern zahlen. Dies bedeutet, sich mit den Mächtigen anzulegen, aber genau dafür sollten Politiker da sein. Und es ist eine Politik für 90% der Menschen.
Wir müssen die Verringerung von sozialer Ungleichheit zur Hauptaufgabe des nächsten Jahrzehnts machen. Insbesondere die Kommunen müssen mehr Hilfe erhalten, um Maßnahmen vor Ort zu finanzieren. Geld ist genug da. Es gibt viele Möglichkeiten – ohne höhere Gesamtsteuern, aber durch Subventionsabbau, Steuerumverteilung und andere Elemente – Maßnahmen zu finanzieren, die uns wirtschaftlich voranbringen, die Chancengleichheit erhöhen und die Ungleichheit vermindern. Viele mögliche Maßnahmen habe ich konkret in diesem Dossier beschrieben. Aber wie immer geht es nicht allein um Fakten und auch nicht um einleuchtende Forderungen, sondern darum, endlich zu handeln. Nur Mut!
Herunterladen des Dossiers:
Bild: dgb