Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di will ihre Struktur drastisch ändern (III)

Seit einiger Zeit ist in den Bezirksgeschäftsstellen von ver.di bei den haupt- und ehrenamtlichen Beschäftigten nicht mehr viel von der „geruhsamen Hektik“ der Vergangenheit zu spüren.

Vor allem aber brodelt es in der Mitgliedschaft der Dienstleistungsgewerkschaft.

Der Bundesvorstand hat vor dem Hintergrund von Einsparungen eine Riesenbaustelle eröffnet, auf der daran gewerkelt werden soll, z.B. die Zahl der Fachbereiche von derzeit 13 auf nur noch vier zu reduzieren.

Angedacht ist, ein Fachbereich A, der aus den bisherigen Fachbereichen Finanzdienstleistungen, Ver- und Entsorgung, Bildung, Medien und Telekommunikation bestehen soll. Ein Fachbereich B soll die bisherigen Bereiche Sozialversicherung, Bund und Länder, Gemeinden, Verkehr und Besondere Dienstleistungen umfassen. Der Fachbereich C würde die bisherigen Bereichen Postdienste, Speditionen, Logistik und Handel bündeln. Nur der Fachbereich 3 (Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen) würde künftig als Fachbereich D in der jetzigen Form weiter existieren, auch deshalb, weil er von der Mitgliederanzahl gleich stark ist, wie die drei neu geplanten Fachbereiche jeweils.

Der Bundesvorstand verspricht sich neben den Einsparungen, dass eine „sinnvolle Flächenpräsenz erreicht wird, die in Betreuungsregionen für die jeweiligen Fachbereichssekretär/-innen, mit angemessenen Wegezeiten zu bewältigen sind. Diese Gliederung schafft die Möglichkeit von regionalen Teamstrukturen und bringt eine bessere Vernetzung, eine bessere Aufteilung der Zuständigkeiten sowie Wachstums- und Erschließungsimpulse mit sich.“

Die hauptamtlichen Beschäftigten sollen sich künftig stärker spezialisieren und sich auf Innendienst – also Mitgliederbetreuung in den Büros – oder Außendienst – also Betreuung von Betrieben – konzentrieren.

Nun haben über 20 FunktionsträgerInnen als ErstunterzeichnerInnen einen bundesweiten, offenen Brief veröffentlicht, entstanden auf Initiative aus dem Fachbereich 8 Medien, Kunst und Industrie aus Niedersachen/Bremen, der einen Beitrag zur Diskussion um die Strukturveränderung bei ver.di leisten soll.

 

Bundesweiter offener Brief

Der Umbauplan des Bundesvorstandes – viel Umbau mit wenig Plan

Nicht so. Nicht jetzt. Nicht ohne uns.

ver.dis vielgliedrige Struktur zu vereinfachen ist ebenso naheliegend wie die legendäre Zerschlagung des gordischen Knotens. Die Herausforderung ist daher nicht, das Schwert zu zücken, die Herausforderung liegt darin, das Schwert zu führen. Aufgrund der breiten Aufstellung von ver.di, von UniversitätsprofessorInnen bis zu MüllwerkerInnen, ist eher ein gutes Auge und ein Florett gefordert als die schiere Kraft eines Säbels. Veränderung tut not, aber leider zeigt der Vorschlag des Bundesvorstandes in vielerlei Hinsicht gerade nicht das Köpfchen und die Sensibilität, die ein zukunftsträchtiger Umbau dieses wichtigen gesellschaftlichen Verbandes erfordert. Der Bundesvorstand stellt vielmehr betriebswirtschaftlich wohlklingende Konzepte über selbstbewusste Visionen für die Zukunft.

Der Fachbereich 8 in Niedersachsen/Bremen beispielsweise hat immer wieder darum gebeten, zum richtigen Zeitpunkt Signale zu bekommen, um selbst über einen Neuzuschnitt der Fachbereiche nachzudenken, bevor es ausschließlich andere tun. Er hat wiederholt angeboten, beim Diskussionsprozess konstruktiv mitzuarbeiten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dieses Angebot nicht angenommen wurde. Die Art und Weise, wie das jetzt vorgelegte Thesenpapier des ver.di-Bundesvorstands entstanden ist, der weitere Diskussions- und Entscheidungsfindungsprozess sowie der vorgesehene Zeitplan sind ein Schlag ins Gesicht für alle Beteiligten.

Kapitalistische Brachialästhetik einer Unternehmensberatung

Vieles mutet willkürlich und nassforsch an, fast als sei man eher auf der Suche nach Beifall von UnternehmenslenkerInnen und UnternehmensberaterInnen als von denjenigen, die für eine Umverteilung unseres gewaltigen gesellschaftlichen Wohlstands kämpfen. Warum sollen Fachbereiche in Zukunft 100 Millionen Euro an Beitragseinnahmen jährlich und 400.000 Mitglieder haben? Welche Vorteile hat das außer der kapitalistischen Brachialästhetik von dreistelligen Millionenbeträgen und Mitgliederzahlen in Heeresstärke? Vielsagend auch, dass der Vorschlag zum Grund für diese offensichtlich willkürlichen Festlegungen kein Wort verliert. Die Hoffnung, dass vielleicht keiner fragt, wird doch wohl nicht dahinterstehen?

Apropos „Heer“ – wo sind eigentlich die Mitglieder, die hinter diesem Vorschlag stehen? Wir verstehen uns als „Selbsthilfeorganisation“ und fordern zu Recht den Einsatz eines jeden für seine Rechte. Die Mitglieder, die ehrenamtlichen Gremien ab Landesebene abwärts und nicht einmal die GewerkschaftssekretärInnen vor Ort an dieser Schicksalsfrage nicht teilhaben zu lassen, ist eine schwere Missachtung. Sie ist das Gegenteil von Wertschätzung. Sie gleicht einem Handstreich.

Und: Warum ausgerechnet jetzt? Gutes Handwerk beendet erst die eine Baustelle, bevor es eine neue aufmacht. Niemand wird ernsthaft behaupten, dass die Umstrukturierung unter dem Titel „Perspektive ver.di wächst“ schon jetzt fertig ausgearbeitet ist. Der Rollout über die gesamte Organisation scheint anzustehen – ein Mammut-Projekt, das der Organisation noch viel mehr abverlangen wird als die bisherige Pilotphase in Niedersachsen-Bremen und Bayern. Und die auch in diesen beiden Landesbezirken noch erfolgreicher sein könnte.

Mitsprache der Basis: Fehlanzeige

Unseren selbstbewussten Gremien setzen wir eine Struktur vor, an der sie nicht – gar nicht – mitgewirkt haben. Was können wir dann noch erwarten? Der autoritäre Ruf „Liebe Mitglieder, ihr sollt’s wuppen, aber dabei nach unserer Pfeife tanzen“ weht durch das ganze Papier. Der Verband der SchriftstellerInnen in Niedersachsen-Bremen schreibt treffend, dass es durch seinen „einschüchternden Duktus Zustimmung erzwingt“. Damit ist genug dazu gesagt, wie motivierend dieses Papier für unsere wichtigste Ressource ist.

Ressource? So schnell geht’s, schon hat sich der Geist des Vorschlags Bahn gebrochen und auch in dieser Replik Einzug gehalten. Denn die zweite „Ressource“ ver.dis kommt gleich mal gar nicht darin vor: die Beschäftigten. Welche eierlegenden Wollmilchsäue sollen denn in Fachbereichen arbeiten, die von der Deutschen Telekom zum Staatstheater Celle reichen? Oder von GepäckarbeiterInnen zu Immobilienkaufleuten? Oder soll in den Fachbereichen wieder eine Spezialisierung von MitarbeiterInnen und GewerkschaftssekretärInnen stattfinden? Unabhängig von der Frage, ob das bei Urlaub, Krankheit und anderer Abwesenheit realistisch ist und worin dann der Unterschied zur alten Struktur besteht.

Seelenlose Mammuteinheiten

Genau das ist aber die wichtigste Frage. Wie soll in den neuen Strukturen die kollektive Arbeit stattfinden? In dieser Hinsicht ist das Papier ein Scheinriese. Je näher man ihm kommt, desto weniger bleibt davon übrig. Wie genau sehen die Schnittstellen zu den Mitgliedern aus? Das ist zu Recht auch eine Sorge der Mitglieder. Für kleinere Organisationseinheiten, wie z.B. die Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) mit ihren knapp 20.000 Mitgliedern, wird die Decke immer höher, nach der sie sich strecken müssen, um wahrgenommen zu werden im Konzert großer Einheiten wie etwa dem öffentlichen Dienst.

Leider endet hier der Horizont des Vorschlags. Dabei muss der Blick noch viel weiter reichen, damit ver.di seinen Weg in die Zukunft findet. Denn was wir zuallererst brauchen, ist eine Vision, wie wir uns im neoliberalen Zeitgeist behaupten können. Wie wir die trojanischen Pferde von „Wettbewerbsfähigkeit“ und „freiem Markt“ entlarven können, die die Menschen so erfolgreich verführen. Wie wir vor Ort, im Betrieb, auf der Straße und in der Kneipe ein kollektives Arbeiten schüren können, vielleicht sogar ein kollektives Bewusstsein.

Ein Zukunftspapier in dem das Wort „Tarifvertrag“ nicht vorkommt?

Eine Möglichkeit wäre, die Organisation entlang ihres erfolgreichsten Angebots zu organisieren: den Tarifverträgen. Das ist das Angebot, das den meisten Mitgliedern zugutekommt. Jeder versteht es. Auf der Basis der Fach- und Personengruppen finden sich Menschen zusammen, die sich etwas zu sagen haben, die etwas gemeinsam haben, weil sie dieselben Probleme haben. Seien es ErzieherInnen, ProgrammiererInnen oder ZeitungsausträgerInnen. Eben nicht solche, die vielleicht manchmal noch wenig gemeinsam haben. Was sagt der Bundesvorstand dazu? Es stellt genau die entsprechenden Organisationseinheiten, die Fachgruppen, infrage. Alternativvorschlag? Fehlanzeige! Das Wort „Tarifvertrag“ kommt in dem Papier kein einziges Mal vor!

Ein Umbau ohne breite Unterstützung ist zum Scheitern verurteilt

Lieber Bundesvorstand, was wollt Ihr eigentlich? Ist es Euer Ernst, dass Ihr uns ein Papier vorlegt, das bestenfalls den Mitgliederschwund des letzten Jahrzehnts durch einen Schrumpfkurs verwaltet? Das kein Wort darüber verliert, woran man es messen soll und wo Ihr damit hinwollt? Dabei ist doch nicht einmal die Diskussion geführt, wo wir herkommen: Was haben wir falsch gemacht, dass eine Million Menschen uns seit ver.di-Gründung den Rücken gekehrt haben?

Wie könnt Ihr vorangehen wollen, ohne darüber zu sprechen, wo wir herkommen und wo wir hinwollen? Das geht besser. Viel besser. Schaut nach Hamburg auf das monströse Treffen der Regierungschefs der G20-Staaten, schaut nach Karlsruhe auf das Tarifeinheitsgesetz, schaut Euch die Zusammensetzung des neuen Bundestages an und Ihr seht, aus welcher Richtung der Wind weht. Er kommt von vorne. Gewerkschaften drohen im neoliberalen Konsens zu einer Randnotiz des politischen Fortschritts zu werden. 4

Lieber Bundesvorstand, allein habt Ihr keine Chance. Und schon gar nicht mit einem Umbau, der sich den eben beschriebenen Kräften eher wohlfeil anzupassen scheint als ihnen etwas entgegenzusetzen hat. 

ErstunterzeichnerInnen:

Geschäftsführender Bezirksfachbereichsvorstand FB 8 Hannover / Leine-Weser, Lüneburger Heide

Geschäftsführender Bezirksfachbereichsvorstand Fachbereich 8 Bremen-Nordniedersachsen

Geschäftsführender Bezirksfachbereichsvorstand Fachbereich 8 Weser-Ems

Landesvorstand dju Niedersachsen-Bremen

Ortsvereinsvorstand Fachbereich 8, Hannover

Betriebsrat MM Graphia Innovaprint GmbH (Delmenhorst)

Angela Meyer (Bezirksfachbereichsvorstand FB 8, Hannover / Leine-Weser, Lüneburger Heide)

Bernd Schrader (Senderverbandsvorstand NDR, Hannover)

Bettina Hoffmann (Bezirksfachbereichsvorstand Bremen-Nordniedersachsen)

Björn Siebke (Senderverbandsvorstand NDR)

Christian Fuchs (Vorstandsmitglied Fachgruppe Verlage, Druck und Papier, Bayern)

Daniel Nide (Vorstand dju Hochschulgruppe Hannover)

Dirk Hansen (Gewerkschaftssekretär Fachbereiche 5, 6, Köln)

Georg Huke (Betriebsrat Braunschweiger Zeitung)

Lennart Helal (Landesvorstand dju Niedersachsen-Bremen)

Matthias Büschking (Landesfachbereichsvorstand Niedersachsen-Bremen, Fachbereich 8)

Marco Attenberger (Vorstandsmitglied Fachgruppe Verlage, Druck und Papier, Bayern)

Monika Kludas (Bezirksfachbereichsvorstand Bremen-Nordniedersachsen)

Peter Dinkloh (Gewerkschaftssekretär Fachbereiche 8, Landesbezirk Niedersachsen-Bremen)

Nonni Morisse (Jugendsekretär Bremen-Nordniedersachsen)

Rainer Dankert (Vorsitzender Ortsverein Stade Fachbereich 8)

Rudi Münz (Fachbereich 12 Niedersachsen-Bremen)

Silke Köhler (Vorsitzende Bezirksfachbereichsvorstand Weser-Ems)

Steffen Kappelt (Sprecher Vorstand dju Niedersachsen-Bremen)

Wolfgang Stieler (Ortsvereinsvorstand Fachbereich 8 Hannover)

 

 

Quelle: http://www.labournet.de/

Bild: ver.di