Das Märchen vom Fachkräftemangel wird auch in Dortmund wieder einmal erzählt

In Dortmund wurde und wird immer  wieder einmal das Märchen vom Fachkräftemangel erzählt und die Krokodilstränen der organisierten Unternehmerschaft sollen davon ablenken, dass sie selbst seit Jahren immer weniger bis gar keine Fachleute mehr ausbilden, sondern diese möglichst billig einkaufen und befristet einstellen. Besonders peinlich ist, dass die Dortmunder DGB-Vorsitzende das Märchen vom Fachkräftemangel auch immer wieder erzählt und vielleicht hofft, dass ein Märchen, wenn es nur oft genug erzählt wird, einmal wahr wird.

Die wunderbare Geschichte vom Fachkräftemangel wird nicht nur in den Betrieben geschrieben, sondern vor zig Jahren haben sich Politiker und Lobbyisten diese Märchengeschichte ausgedacht. Aber anhand einfacher Logik und simpelster Ökonomie kann man den Fachkräftemangel schnell als Manipulation entlarven. Denn wenn der deutschen Wirtschaft in bestimmten Bereichen tatsächlich ein großer Schaden durch Personalengpässe drohen würde, würde sie ja ohne mit der Wimper zu zucken gemäß der simplen Regel von Angebot und Nachfrage die entsprechenden Löhne erhöhen.

Dennoch bejammern und beklagen die Lobbyverbände der deutschen Wirtschaft und auch die Bundesagentur für Arbeit seit Jahren einen bedrohlichen Fachkräftemangel. Die Demografie sei schuld, immer weniger Kinder und zu wenig Jugendliche stünden als zukünftige Arbeitskräfte zur Verfügung. Die Politik reagiert und beseitigt schnell alle bürokratischen Hürden.

Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Paul Krugmann sagte einmal, wann immer sich ein Arbeitgeber beklagt, dass er kein Personal mit der notwendigen Qualifikation findet, frage ihn welches Gehalt er anbietet. Fast immer kommt heraus, dass Arbeitgeber eigentlich hoch ausgebildete (und teure) Arbeitnehmer für einen Lohn für manuelle Tätigkeiten haben will. Kein Wunder, dass Facharbeiter knapp werden…“ Das Zitat von Paul Krugmann ist 10 Jahre alt und ist scheinbar noch nicht in die westfälische Provinz vorgedrungen.

Unter der Überschrift: „Der Fachkräftemangel bleibt in allen Branchen das Problem“ hatte die Lensing-Presse dem Märchen über den Fachkräftemangel in Dortmund im Lokalteil eine ganze Seite eingeräumt, um es wieder einmal erzählen zu können. Doch, auch wenn man ein Märchen immer öfter hört, bleibt es ein Märchen.

Über den Sinn und Zweck dieser Fehlinformation kann nur spekuliert werden, wahrscheinlich soll über den hohen Sockel der langzeitarbeitslosen Menschen in der Stadt hinweg geschaut werden, deren „mindere Qualifikation“ kein Platz auf dem Zukunftsarbeitsmarkt in Dortmund bietet.

Dabei hätten die Arbeitsmarktakteure in Dortmund auch die sogenannte Fachkräfteengpassanalyse der Agentur für Arbeit, die selbst gern den Fachkräftemangel beschwört, lesen können, dass „aktuell sich nach der Analyse der Bundesagentur für Arbeit kein flächendeckender Fachkräftemangel in Deutschland zeigt.“

In dem Artikel der Lensing Lokalpresse mit der Überschrift „Der Facharbeitermangel bleibt in allen Branchen das Problem“ kommen nur Vertreter der privaten Unternehmerschaft zu Wort, die ihre derzeitige Geschäftslage loben, nicht ohne den Fachkräftemangel als mögliche Wachstumsbremse darzustellen. Doch waren sie es selbst, die seit Jahrzehnten kontinuierlich keinen Nachwuchs ausbilden und Berufsausbildungsplätze abgebaut haben und nun wie die NRW Bauindustrie klagen, dass jährlich 100 Auszubildende fehlen würden. Auch in der Dortmunder Gastronomie, in der Ausbildungsverhältnisse abgebaut wurden, nennt man scheinheilig es als größte Herausforderung für das neue Ausbidlungsjahr, „die Gastronomie für junge Leute attraktiver zu machen“. Dabei wird verschwiegen, dass in diesem Bereich nach Untersuchungen der Böckler-Stiftung 38 Prozent der Beschäftigten ganz brutal um den Mindestlohn geprellt werden und diese Berufe somit auch für junge Leute völlig unattraktiv sind.

Obwohl die meisten der Erwerbstätigen in Dortmund, nämlich 109.600 an der Zahl, im Bereich Öffentlicher Dienst beschäftigt sind, werden sie im Bericht gar nicht erwähnt. Dort fehlen die Fachkräfte in den Pflege- und Bildungseinrichtungen wirklich. Aber dieses Problem ist hausgemacht, weil dort die Fachkräfte aufgrund von Überlastung und grottenschlechter Bezahlung ihren einst geliebten Beruf an den Nagel hängen und sich damit davor schützen, nicht langzeitkrank zu werden. Wer kann, wechselt ins Ausland, wo ihm um gute Arbeitsbedingungen und Auskommen erwarten.

Dann wird in einem weiteren Artikel auf dieser Zeitungsseite die DGB-Vorsitzenden interviewt und sie darf Lösungen für den Facharbeitermangel vorschlagen. Sie nennt da „gute Löhne“, was immer man auch darunter verstehen mag, die die Unternehmen zahlen sollen, um Fachkräfte zu finden. Auch sollten die Beschäftigten „selbstbestimmt zeitlich flexibel arbeiten können“, auch das würde den Fachkräftemangel beheben. Dann lobt sie den Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie als „einen wegweisenden Tarifabschluss“ und plappert das nach, was die meisten Medien verbreitet haben. Sie scheint nicht mit bekommen zu haben, dass auf das Jahr umgerechnet etwa eine 3,5 prozentige Erhöhung der Entgelte herausgekommen ist, die gerade mal die Teuerungsrate und einen Teil des Produktivitätsfortschritts abdeckt.

Die erreichte, befristete Arbeitszeitabsenkung auf bis zu 28 Stunden, ohne irgendeinen Lohnausgleich zu erhalten, lobt sie über den Klee. Sie vergisst dabei aber, dass mit dem “Modell des Kollektiven betrieblichen Arbeitszeitvolumens“ die Unternehmensleitung im Gegenzug für jeden Teilzeitbeschäftigten mit anderen Beschäftigten eine Verlängerung auf 40 Stunden vereinbaren kann. Wenn ein Arbeitnehmer auf 20 Stunden reduziert, kann die Arbeitszeit von drei anderen auf 40 Stunden verlängert werden. Faktisch bedeutet das eine Abkehr vom Ziel des Lohnausgleichs und öffnet weitere Türen für die Differenzierung der Beschäftigtengruppen und vor allem die Öffnung der Arbeitszeiten nach oben.

Die DGB-Vorsitzende hat da scheinbar etwas nicht ganz mitbekommen, da sollte sie vielleicht sich doch einmal sachkundig machen.

Völlig unterschlagen wird bei dem Vorstoß in der Lensing-Presse die im internationalen Vergleich schlechte Entwicklung der hiesigen Arbeitnehmereinkommen und die Verschlechterung der Qualität der Arbeitsplätze sowie die Zersplitterung des Arbeitsmarktes:

  • Ein hoher Sockel von langzeitarbeitslosen Menschen und der massive Ausbau des Niedriglohnbereichs sowie die prekäre, ungesicherte Beschäftigung haben dazu geführt, dass ein großer Teil der Marginalisierten sich abgehängt und überflüssig fühlt.
  • Mittlerweile arbeiten rund 20 Prozent der Beschäftigten in Deutschland für einen Niedriglohn von unter zehn Euro in der Stunde. In Ostdeutschland liegt ihr Anteil sogar bei 30 Prozent.
  • Minijobs sind mit derzeit rund 7,5 Millionen geringfügig entlohnten Beschäftigten im Arbeitsmarkt fest verankert.
  • Inzwischen gibt es 50.000 Sklavenhändler, die rund eine Million Arbeitskräfte verleihen, so viele, wie noch nie. Für Migranten steht auf dem Arbeitsmarkt fast nur der Niedriglohnsektor offen. Der Niedriglohnsektor ist ein geschlossener Arbeitsmarkt, in dem die Beschäftigten kaum eine Chance haben, jemals eine Anstellung mit besseren Bedingungen zu erhalten. Viele hangeln sich von einem miesen Job zum nächsten, gelegentlich unterbrochen von Arbeitslosigkeit, bis man in der nächsten trostlosen Klitsche wieder von vorn anfängt.
  • Es gibt auf der einen Seite die Stammbeschäftigten, darunter die befristet Beschäftigen, unbefristet Beschäftigten und geringfügig Beschäftigten und auf der anderen Seite arbeiten die Leiharbeiter, Dienstleistungsbeschäftigten und Werkvertragsbeschäftigten.
  • Die Spaltung der Beschäftigten führt zu einem massiven Verlust an Legitimität bei den Betriebsräten und der Gewerkschaft. Ein größer werdender Teil der Belegschaft ist in den Betriebsräten gar nicht mehr vertreten und die Spaltung in Stammbeschäftigte und Fremdbeschäftigte führt zur Spaltung der Tariflandschaft. So werden auch Arbeitskämpfe, aus denen die Gewerkschaftsorganisationen Honig ziehen, praktisch gar nicht mehr möglich. Dabei ist es völlig egal, ob Leiharbeiter als Streikbrecher eingesetzt werden können oder nicht.
  • Es ist eine Wechselwirkung: dort, wo es keine Tarifverträge gibt, ist auch das Interesse für die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft gering. In Branchen, in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad hoch ist, gibt es tendenziell häufiger tarifvertragliche Regelungen. Zum Beispiel hat der öffentliche Dienst, die Automobil- und Chemieindustrie oder der Maschinenbau noch recht gute Werte vorzuweisen. Dagegen sieht es in der Logistik, im Gastgewerbe und im Einzelhandel besonders düster aus. So hatte der Einzelhandel noch bis zur Jahrtausendwende ein nahezu flächendeckendes Tarifsystem, da dort fast alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt waren. Doch bereits 2015 waren in Westdeutschland nur noch 42 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel nach Tarif angestellt (2000: 70 Prozent), in Ostdeutschland lediglich 30 Prozent (2000: 43 Prozent). Die Folge davon ist eine ungleiche Lohnverteilung mit zunehmend „Aufstockern“, sozialer Ungleichheit und immer mehr Beschäftigten, die schutzlos der Willkür der Unternehmer ausgeliefert sind.

All diese Fakten scheinen für die Lensing Presse nicht relevant zu sein. Dafür wird wieder einmal das Märchen vom Fachkräftemangel erzählt.

Die DGB Vorsitzende sollte einmal darüber nachdenken, dass bei einer von ihr favorisierten Individualisierung kollektiver Rechte die Gewerkschaft sich selbst aushebelt und schwächt die kollektive Gegenmacht immens. Ganz deutlich wird dies bei den individuellen Zielvereinbarungen, wobei die Gehaltsbestandsteile zur Förderung der Motivation und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten individuell festgelegt, die kollektiven Interessenvertretungen entmachtet werden und gewerkschaftliches Bewusstsein völlig auf der Strecke bleibt.

 

 

  • Quelle: New York Times, Fachkräfteengpassanalyse der Agentur für Arbeit, WAZ, Böckler-Stiftung
    
    Bild: ard.de