Gibt es eine linke Gewerkschaftsdebatte ?

Von Rolf Geffken 

Die jüngste Tarifauseinandersetzung der IG Metall hat wieder einmal grundsätzliche Fragen nach der Richtung künftiger Arbeitskonflikte aufgeworfen. Dies nicht wegen der berechtigten Lohnforderungen der IG Metall, auch nicht so sehr wegen der (angeblichen) Forderung der IG Metall nach „Arbeitszeitverkürzung“ sondern vor allem wegen der weitestgehend kritiklosen Begleitung der Forderung in der gewerkschaftlichen Debatte und in der Linken. Man bedenke: Die Forderung nach einem reinen Individualanspruch (!) auf befristete (!) Verkürzung der Arbeitszeit für bestimmte Beschäftigtengruppen (!) o h n e vollen Lohnausgleich (!) i s t keine allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit, ja es ist noch nicht einmal ein Beitrag zur allgemeinen Verkürzung der Arbeitszeit, zumal ihr beschäftigungspolitischer Effekt gleich Null sein dürfte. Hinzu kommt, was merkwürdigerweise von Vielen völlig ignoriert wird: Die „Randgruppen“ der industriellen Produktion, wie Leiharbeiter, Projektarbeiter (zB Autovision bei VW), Werkvertragler und andere „Fremdbeschäftigte“ (die allesamt etwa 50 % der Beschäftigten ausmachen) werden weder in die Tarifforderungen noch in den „Arbeitskampf“ mit einbezogen. Wie kann eine echte Gewerkschaftsdebatte dazu schweigen ?

Wir meinen: Das geschieht nicht zufällig, denn insgesamt hat die sog. Gewerkschaftsdebatte ein Niveau erreicht, das im Vergleich zu den Debatten der 1970er und 1980er Jahre seines gleichen sucht. Selbst zahlreiche vermeintlich kritische Beiträge in der Debatte um die aktuelle Gewerkschaftspolitik sind durch ein hohes Maß an Realitätsverweigerung ebenso wie durch ein massives Theoriedefizit und eine Ignorierung der jüngeren Geschichte der Arbeit sowie der Gewerkschaftsbewegung gekennzeichnet.

Es steht zu befürchten, dass solche Beiträge die allgemeine Defensive, in der sich die Gewerkschaften hier zu Lande in ihrer Tarifpolitik befinden, noch verstärken werden.

Beispielhaft sei hier auf drei Beiträge der jüngeren Zeit verwiesen:

Zum einen die Vorschläge des Gewerkschaftsfunktionärs und Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE Bernd Riexinger1, zum anderen auf den Beitrag des Rechtsschutzverantwortlichen der IG Metall Berlin Damiano Valgolio zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen2 und schließlich auf das Plädoyer für einen Pfadwechsel in der Tarifpolitik aus dem „Forum Gewerkschaften“ der Zeitschrift „Sozialismus“3.

Allen Beiträgen gemeinsam ist die völlige Verkennung der Ausgangslage jeder aktuellen Gewerkschaftspolitik: Die „außerökonomische“ Spaltung der Belegschaften in Stammbeschäftigte und Fremdbeschäftigte, die Verwechselung von Ursache und Wirkung dieser Spaltung und die Mitverantwortung für eine defensive Tarifpolitik der Gewerkschaften.

Natürlich ist allen „Konzepten“ gemeinsam, dass sie die Spaltung der Arbeiterklasse bzw. der Beschäftigten zurückdrängen oder gar aufheben wollen. Allerdings: Welche Spaltung wird von den Autoren wahrgenommen? Die Spaltung in unterschiedliche Standards zwischen einzelnen Branchen? Die Spaltung zwischen Tarifbindung und tariflosen Zuständen? Die Spaltung der Beschäftigten in unterschiedliche Gruppen und Hierarchien? Die Spaltung in der Binnenstruktur der Arbeitsverhältnisse in Vollbeschäftigte, befristete Arbeitsverhältnisse und Teilzeitbeschäftigte?  Nicht oder kaum wahrgenommen und erst recht nicht verarbeitet wird die externe Spaltung ganzer Belegschaften in Stammbeschäftigte, Leiharbeiter und Werkvertragsbeschäftigte. Und dieses, obwohl in den großen Unternehmen, vor allem in der Industrie, bereits bis zu Hälfte der Fertigung von „Fremdbeschäftigten“ vorgenommen werden.7

In dem Papier des „Forums“ ist viel von Empirie die Rede. Mangelnde Tarifbindung, Lohndifferenzen, Lohnzuwächse usw. werden ebenso ausgemacht und bewertet wie unterschiedliche Grade der Tarifbindung. Doch alle Argumentationen, alle Untersuchungen und Bewertungen bewegen sich innerhalb der Landschaft der Stammarbeitsverhältnisse, sei es derjenigen von Vollbeschäftigten, von Teilzeitbeschäftigten oder von befristeten Beschäftigten. So heißt es lapidar z. B.: Tarifanhebungen seien „nicht für alle beschäftigten Gruppen in allen Branchen gleich“.8 Doch es kann nicht darum gehen, einfach nur die unterschiedlichen Beschäftigtengruppen innerhalb   e i n e s   Tarifvertrages zu betrachten, wenn zugleich die Wertschöpfung durch Fremdbeschäftigte innerhalb der Unternehmen aber außerhalb der klassischen Tarifverträge erbracht wird. Dass diese Spaltung außerökonomischer Natur ist, kann kein Grund dafür sein, dass Ökonomen diese Spaltung einfach vernachlässigen. Im Gegenteil: Diese Vernachlässigung führt automatisch zu falschen Schlussfolgerungen und Bewertungen. Zur Wahrnehmung der ebenso einfachen wir brutalen Realität gehört auch die Tatsache, dass z. B. die IG Metall in ihrem Organisationsbereich mit zahlreichen „Werkvertragsunternehmen“ eigene Tarifverträge abgeschlossen, ja sogar die Bildung von Betriebsräten bei Werkvertragsfirmen gefördert hat.9 Damit hat sie Strukturen abgesichert, deren Überwindung sie angeblich anstrebt. Sie hat darüber hinaus auch vielfach gemeinsam mit Betriebsräten einzelne Initiativen auf Festanstellung unterlaufen oder konterkariert.10 Deshalb ist auch die Forderung von Riexinger in seinem Papier nach Mitbestimmung (!) des Betriebsrats beim Einsatz von Werkvertragsbeschäftigten naiv und realitätsfern.11 Denn Mitbestimmung ist eines nicht: Abschaffung.

Ebenso gravierend ist die Absicherung der Leiharbeit durch Tarifverträge der IG Metall und anderer Gewerkschaften   g e g e n   (!) gesetzliche (!) Standards. Es muss doch wohl auch Ökonomen und Gewerkschaftsfunktionären klar sein, dass beispielsweise die Durchsetzung des Equal Pay in den Betrieben   m e h r   Chancen hat, wenn es gar keinen Tarifvertrag (!) gibt, als einen, wie den der DGB Tarifgemeinschaft Zeitarbeit, welcher den Equal Pay verhindert. Es hilft auch wenig, wenn man – wie etwa dem Autor dieser Zeilen – wegen der Benennung dieser Wahrheit „Gewerkschaftsbashing“ vorwirft. Es ist schlimm genug, dass vermutlich erstmals in der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung von massiven Absenkungen von gesetzlichen Standards durch Tarifverträge statt von der „Förderung von Arbeitsbedingungen“  über gesetzliche Standards hinaus die Rede ist. Allerdings wird man den Verdacht nicht los, dass es exakt diese tarifvertraglichen Fehlleistungen sind, die dazu führen, dass diese entweder nicht wahrgenommen werden oder aber verharmlost oder vernachlässigt werden.

Auch die Autoren des „Forums“ tun dies, wenn sie Leiharbeit und Werkverträge in einem Atemzug mit anderen Methoden der Lohnsenkung erwähnen und dies als „Hierarchie in der Unternehmenslandschaft“ bezeichnen.12 Nein: Diese Spaltung hat mit der unternehmensinternen Spaltung und Hierarchie nichts zu tun. Sie teilt die Belegschaft in Beschäftigte mit unterschiedlichen „Arbeitgebern“ und Tarifverträgen. Auf diese Weise werden etwa die Werkvertragsbeschäftigten vollständig aus der Belegschaft herausgenommen, so dass sie definitiv an Streiks nicht teilnehmen können, selbst wenn sie es wollten. Von den sonstigen Gefahren dieser Spaltung, wie etwa der politischen Verunsicherung und der Verhinderung gewerkschaftlichen Bewusstseins wollen wir hier erst gar nicht reden. Dass aber die Qualität dieser Spaltung von den Protagonisten der aktuellen Debatte gar nicht erkannt wird, offenbart Riexinger, wenn er „effektive Maßnahmen gegen Tarifflucht durch Werkverträge“ verlangt.13 Werkverträge sind nicht Ausdruck von Tarifflucht. Sie existieren    i n   den Betrieben. Sie betreffen die jeweilige konkrete Belegschaft. Eben deshalb hätten sie auch bei konsequenter und offensiver Tarifpolitik verhindert werden können und verhindert werden müssen. Ganz gewiss aber können Tarifverträge mit Werkvertragsunternehmen, wie sie die IG Metall etwa bei VW Wolfsburg abgeschlossen hat,  k e i n   Mittel gegen diese Spaltung sein. Im Gegenteil: Eine solche Politik   v e r t i e f t   diese Spaltung. Es ist deshalb einfach grotesk, wenn Riexinger aber auch Valgolio ausgerechnet durch gesetzgeberische Maßnahmen den Geltungsbereich der Tarifverträge ausdehnen wollen. Was soll die Forderung von Valgolio nach „Ausweitung des Tarifschutzes auf Werkverträge“?14 Betriebsräte sollen „mitbestimmen“ und der Gesetzgeber soll Tarifverträge auf Werkverträge erstrecken, während gleichzeitig eine defensive Tarifpolitik der Gewerkschaften, die Werkverträge duldet und sogar absichert, fortbesteht? Es wäre und es   i s t   Aufgabe der Gewerkschaften selbst, endlich einen Kurswechsel in der verhängnisvollen Duldung von Werkverträgen vorzunehmen und jede noch so kleine Initiative gegen Werkverträge und Leiharbeit zu unterstützen. Daran aber mangelt es. Und zwar seit geraumer Zeit und vor allem weil selbst den Protagonisten der hier geschilderten Debatte offensichtlich der Mut fehlt, die Realität dieses Missstandes anzuerkennen. Nur wer die beschriebene Realität systematisch ignoriert, kann zu solchen Forderungen gelangen, wie sie Riexinger aufstellt:

„gleicher Lohn und gleiche Rechte für WerkvertraglerInnen und LeiharbeiterInnen!“15

Nein: Keine Werkverträge und keine Leiharbeit!   S o   lautet die richtige aus der Funktion von Gewerkschaften abgeleitete Forderung. Und sie ist keineswegs illusorisch wie die Geschichte zeigt, denn vor gar nicht so langer Zeit waren weder Werkverträge noch Leiharbeit in Deutschland zulässig. Wer aber die umgekehrte Forderung erhebt, liefert der Gegenseite gleich noch das Argument für die Ablehnung mit:

„Wir gleichen die Löhne an, aber der unterschiedliche Status bleibt erhalten!“

Leitenden Gewerkschaftsfunktionären sollte dieser Argumentationsmechanismus eigentlich bekannt sein.   N u r   eine prinzipielle Ablehnung der Spaltung von Belegschaften kann und muss die gewerkschaftliche Position sein, nicht aber deren graduelle Abstufung.

Erst recht aber ist die sogenannte Allgemeinverbindlichkeits-Erklärung von Tarifverträgen alles andere als ein Beitrag zur „Stärkung des Tarifsystems“, wie Valgolio meint. Die – nebenbei völlig illusorische – Forderung an den Gesetzgeber kommt einer Bankrotterklärung gewerkschaftlicher Politik gleich.

  1. Mit einer solchen Forderung erklären die Gewerkschaften sich für dauerhaft unfähig, Tarifbindungen durch eigene Kampfkraft durchsetzen zu können.
  2. Die Vorstellung, durch einen solchen Gesetzestrick das verschlechterte Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit auszugleichen, ist eine „juristische Illusion“ (Friedrich Engels).
  3. Aber selbst auf juristischer Ebene bleibt diese Forderung sehr kurzsichtig: Es sind gerade die Großgewerkschaften des DGB, die versuchen, ihren Monopolanspruch bei Gewerkschaftsneugründungen mit Hilfe von Statusverfahren dadurch durchzusetzen, dass sie sich auf ihre kollektive „Durchsetzungsfähigkeit“ berufen. Wenn sie allerdings selbst anerkennen, dass es diese Durchsetzungsfähigkeit nicht mehr gibt (wofür in der Tat viele Indizien inzwischen sprechen)16, dann widersprechen sie damit ihrem eigenen politischen Anspruch.

Bezeichnend scheint, dass Valgolio bar jeder Erfahrung nur den Glaubenssatz formuliert, die Allgemeinverbindlichkeits-Erklärung „könne“ ein Gegengift sein.17 Etwas kurios ist, dass Valgolio diesen Satz in demselben Heft der Zeitschrift der Zeitschrift „Sozialismus“ formuliert, in dem der Verfasser dieser Zeilen unter dem Titel „Recht als Politik“18 den Satz formulierte:

„Die Ablehnung einer Politikverhinderung durch Rechtsgläubigkeit und Rechtsnihilismus, die entweder das Recht völlig ignoriert oder aber das Recht auf die Ebene künftiger Gesetzgebung transportiert, ist gleichermaßen notwendig, wenn die politische Option aufrecht erhalten bleiben soll.“19

Natürlich erwächst die sprichwörtliche Perspektivlosigkeit der vorgestellten Konzepte nicht nur etwa aus vagen Zukunftsvorstellungen und aus der Negierung der bitteren tarifpolitischen Realität, sondern auch aus der Unkenntnis der Geschichte der Gewerkschaften und des Arbeitslebens. Denn deutlich wird dies vor allem bei dem Konzept eines „Neuen Normalarbeitsverhältnisses“, welches Riexinger meint vorgestellt zu haben. Er konstatiert zunächst richtig, dass prekäre Arbeit und zurückgehende Tarifbindung die Gewerkschaften geschwächt haben.20 Doch sein „Gegengift“ ist wieder eine – ziemlich fehlerhafte – Rechtsillusion: Ziel seines „Neuen Normalarbeitsverhältnisses“ soll sein, „dass alle Beschäftigten durch Tarifverträge geschützt sind und die Verhandlungsposition der Gewerkschaften in den Tarifauseinandersetzungen gestärkt wird.“21

Die Weiterentwicklung des Individualarbeitsrechts als Krücke für die geschwächten Gewerkschaften? In einer solchen Forderung spiegelt sich noch nicht einmal die alte – juristische – Erkenntnis wieder, dass   n u r   Tarifautonomie, Tarifverträge, kollektives Arbeitsrecht und starke Gewerkschaften die individuelle Rechtsposition der Beschäftigten stärken können und nicht etwa umgekehrt. Das einzige „praktische“ Ergebnis der Forderung von Riexinger ist wieder einmal, dass als „Gegengift“ zur Schwäche der Gewerkschaften nicht eine offensive Gewerkschaftspolitik und ein radikaler Verzicht auf eine Politik der Anpassung angesehen wird, sondern die Hilfe des Gesetzgebers für (offensichtlich gar nicht aktionsbereite) Gewerkschaften gefordert wird.

Doch Riexinger hat größere Ansprüche. Er will nicht einfach „zurück“ zum alten Normalarbeitsverhältnis. Nein, er will ein   g a n z   „Neues Arbeitsverhältnis“, das z. B. auf die „lebenslange Zugehörigkeit zu einem Betrieb“ und auf „die Orientierung an einem Männer-dominierten Familienmodell verzichtet.22 Ist mit dieser Abgrenzung etwa das „alte“ Normalarbeitsverhältnis beschrieben? Größte Zweifel sind angebracht. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, einmal zu analysieren oder mindestens zu beschreiben,  w i e   dieses Normalarbeitsverhältnis im Laufe der letzten 20 bis 30 Jahre neoliberal zerstört und demontiert wurde, und dabei auch zu analysieren,   w i e   eine defensive und konzeptionslose Tarifpolitik der Gewerkschaften daran mitgewirkt hat? Es ist einfach, Wunschzettel zu schreiben und sich daraus ergebende Forderungen an den Gesetzgeber zu richten. Oder vielleicht doch nicht? Ist es wirklich einfacher, in der Realität die politischen Kräfteverhältnisse bis hin zum Bundestag zu ändern, als in den Betrieben endlich bessere Tarifverträge durchzusetzen? Ja und Nein: Es ist einfacher, die Frage zu umgehen, warum eine solche Tarifpolitik bisher gescheitert ist und Kampfforderungen in Wunschzettel an den Gesetzgeber zu verwandeln. Aber es ist weitaus schwerer, einer solchen Verwandlung reale Politik folgen zu lassen. Auch hier ist wieder die Ignorierung der sozialen Realität Ausgangspunkt völlig falscher und illusionärer Forderungen: Die Realität und damit die Geschichte der Arbeit ist dadurch gekennzeichnet, dass es die „Vielfalt der Spaltungen“ der Arbeitsverhältnisse in dem heutigen Maß vor 20 bis 30 Jahren noch nicht gab. Vorherrschend war das Regelarbeitsverhältnis. Alles andere waren überschaubare Ausnahmen. Anders als von Riexinger behauptet, gehörte zum Kern dieses Arbeitsverhältnisses auch nicht die lange Betriebszugehörigkeit wohl aber gehörten dazu relativ klar fixierte Arbeitszeiten, die nur durch Überstunden durchbrochen werden konnten. Ebenso gehörten dazu grundsätzlich Löhne, die jedenfalls Doppelarbeitsverhältnisse nicht notwendig machten.

An der Existenz solcher – relativ – stabilen Normalarbeitsverhältnisse hatten natürlich auch die Gewerkschaften seinerzeit einen hohen Anteil. Doch die Erosion dieser Arbeitsverhältnisse begann nicht erst mit der Spaltung der Belegschaften in Fremdbeschäftigte und Stammbeschäftigte. Sie begann vielmehr mit der Aufweichung gesetzlicher Arbeitszeitvorschriften und deren späteren Vollzug durch Tarifverträge. Die Antwort der Unternehmer auf den Kampf der IG Metall um die 35-Stunden-Woche bestand zunächst in dem Arbeitszeitgesetz der Regierung Kohl vom 06.09.1994. Mit diesem Gesetz wurden nicht etwa tarifvertraglich erreichte Arbeitszeitverkürzungen abgesichert oder nachvollzogen. Vielmehr wurde dieser durch die Absicherung der 48-Stunden-Woche und die Ermöglichung einer 60-Stunden-Woche (bei Ausgleich innerhalb eines halben oder eines ganzen Jahres) entgegengewirkt. Zugleich führte das Gesetz das unselige System der Verschlechterung gesetzlicher Standards durch Tarifverträge ein.23 Danach konnte die vom Gesetz ermöglichte „Flexibilisierung“ der Arbeitszeit durch Tarifverträge weiter zu Lasten der Beschäftigten verschärft werden. Es war die Geburtsstunde der „Arbeitszeitkonten“, die inzwischen eine völlige Erosion des Arbeitszeitsystems zur Folge gehabt haben und die heute fast in keinem Tarifvertrag mehr fehlen!  Diese Arbeitszeitkonten haben dazu geführt, dass in der betrieblichen Praxis immer mehr das Betriebsrisiko des Arbeitgebers auf die Beschäftigten abgewälzt wird. Während früher und an sich auch heute noch bei vorübergehenden Arbeitsmangel der Arbeitgeber trotzdem den Lohn zahlen muss, werden Arbeitszeitkonten heute dazu benutzt, wie „selbstverständlich“ den Beschäftigten „Freizeit“ zu gewähren und mit Hilfe von Minusstunden Zahlungsverpflichtungen des Arbeitgebers zu umgehen. Ein noch höherer Grad von schleichender Enteignung der Beschäftigten wurde durch das Teilzeit- und Befristungsgesetz erreicht, das mit der „Arbeit auf Abruf“ das Beschäftigungsrisiko der Arbeitgeber vollständig auf die Beschäftigten abwälzte.

Inzwischen ist es bereits üblich, dass Beschäftigte selbst ihren Urlaub in das Arbeitszeitkonto „einrechnen“ und wie selbstverständlich bei Arbeitsmangel auf Vergütung verzichten. Die „Flexibilisierung“ hat einen Zustand der Nachhaltigkeit auch in den Köpfen der Beschäftigten erreicht. Tarifverträge und Betriebsräte begegnen dem nicht mehr grundsätzlich, sondern allenfalls nur noch durch sogenannte „Ampelregelungen“. Auf diese Weise werden den Unternehmen jährlich Milliarden Euro an Überstundenvergütungen und Personalkosten erspart, während die Beschäftigten immer mehr unter Druck geraten.

D a s  ist inzwischen aus dem Normalarbeitsverhältnis geworden. Und zwar völlig unabhängig von anderen Formen der Prekarisierung durch Befristung, geringfügige Beschäftigung und Zielvereinbarungen.24 Vor diesem Hintergrund ist es pure Polemik, ja Apologie, wenn Riexinger ein „Zurück zum alten Normalarbeitsverhältnis“ unter Hinweis auf angebliche Arbeitnehmerinteressen an einer Flexibilisierung ablehnt.

Nein! Die Forderung nach einem „Zurück“ würde wenigstens die Ablehnung der jahrelangen Fehlentwicklung zu Lasten der Beschäftigten beinhalten und auf diese Weise zugleich klarmachen, was denn das Interesse der Beschäftigten ist: Berechenbare, klare und kurze Arbeitszeiten. Gegen das Unwesen der Arbeitszeitkonten kann nur kämpfen, wer grundsätzlich gegen die sogenannte Flexibilisierung antritt. Dem Interesse nach mehr Freizeit wird man am ehesten durch eine Verkürzung der Normalarbeitszeit mit vollem Lohnausgleich gerecht,  n i c h t   aber durch eine Kompromisslinie nach dem Motto „mehr Flexibilisierung, aber im Interesse der Beschäftigten“. Das System und das Konzept der Flexibilisierung liegen   n i c h t   im Interesse der Beschäftigten. Riexinger hätte diese grundlegende Erkenntnis gewinnen können, wenn er einfach nur die letzten 30 Jahre Arbeitszeitpolitik und die darauffolgende gewerkschaftliche Tarifpraxis zur Kenntnis genommen hätte.

Übrigens ist auch genau deshalb die von Klaus Pickshaus aufgestellte Forderung „Hände weg vom Arbeitszeitgesetz“25 falsch. Auch sie ist unhistorisch   u n d   ohne Zukunftsperspektive, denn sie verkennt die oben beschriebene Rolle des alten Arbeitszeitgesetzes, mit dem das Tor zur unseligen Flexibilisierung aufgestoßen wurde. Sie ignoriert im Übrigen auch, dass die Gewerkschaften damals zumindest offiziell gegen diese Gesetzesnovellierung antraten. Übrigens auch die SPD, die stattdessen – völlig zu Recht – die gesetzliche 40-Stunden-Woche forderte.

Nein. Wir brauchen das, wofür die Gewerkschaften einmal gekämpft haben und was sie ansatzweise auch erreicht hatten: Eine klare Begrenzung des Arbeitstages und der Arbeitswoche. Eine gesetzliche Grenze von 40 Stunden pro Woche. Eine tarifvertragliche von 30 Stunden und weniger. Durchgesetzt werden kann alles das   n u r   durch die Beschäftigten selbst und ihre Kampfkraft, am besten im Zusammenwirken mit den Gewerkschaften. Forderungen an den Gesetzgeber, mit dessen Hilfe die Untätigkeit von Gewerkschaften kompensiert werden soll, verbreiten und verstärken nur „juristische Illusionen“, solange die Gewerkschaften   s e l b s t   nicht aktiv geworden sind. Sobald sie aktiv geworden sind (und dazu muss man zunächst einmal die gegenwärtige Realität zur Kenntnis nehmen und Kritiker diese Realität nicht diffamieren), mag man auch ergänzend politische Forderungen erheben. Entscheidend aber bleibt die gewerkschaftliche Aktivität selbst.

Doch es sind nicht nur die Forderungen an den Gesetzgeber, die den Blick für die zentrale Rolle aktiver Gewerkschaften versperren. Ähnlich verhält es sich mit der immer mehr um sich greifenden Delegierung gewerkschaftlicher Kompetenz an Betriebsräte. Diese auf die Zeit „betrieblicher Bündnisse“ (zur Senkung von Tarifstandards) zurückzuführende Praxis wird inzwischen auch in den Debatten um die gewerkschaftliche Tarifpolitik kaum noch problematisiert. Und dies, obwohl das Problem dieser Delegierung auf der Hand liegt: Betriebsräte können und dürfen keine Arbeitskämpfe durchführen. Sie werden im Regelfall, bezogen auf „ihren“ Betrieb, Tarifstandards immer absenken helfen und tun dies aufgrund der von Unternehmensseite gepriesenen „Sachnähe“ auch und zwar seit langem. Dadurch wird die Tarifbindung innerhalb ihrer selbst aufgeweicht und marginalisiert. Inzwischen werden von den Tarifvertragsparteien ganze Regelungsgegenstände an Betriebsräte abgetreten und noch nicht einmal Sorge dafür getragen, ob diese die Gegenstände überhaupt regeln. So wurde z. B. in einem Manteltarifvertrag für die chemische Industrie geregelt, dass Umkleidezeiten dann vergütungspflichtig sind, wenn dies in einer Betriebsvereinbarung geregelt ist. Ergebnis: Das Arbeitsgericht Düsseldorf wies die Klage eines Betroffenen mit der Begründung zurück, es gäbe in dem betreffenden Betrieb entgegen dem Manteltarifvertrag keine Betriebsvereinbarung und deshalb (!) auch keine Vergütungspflicht.26 Während das Gesetz Vergütungen grundsätzlich vorsieht, erklärt der Tarifvertrag das Gesetz nicht für anwendbar, macht aber die Regelung von der Existenz einer Betriebsvereinbarung (!) abhängig. Die Frage, warum ein Betriebsrat eine solche Betriebsvereinbarung „vergessen“ (?) hat, spielt dann keine Rolle mehr. So absurd es erscheint: Dies ist das Ergebnis der Selbstentmachtung der Gewerkschaften „zugunsten“ von Betriebsräten: Rechtsfreie Räume!

Nichts davon wird von unseren hier zitierten Autoren in den Blick genommen. Existiert diese Realität für sie überhaupt? Zweifel sind angebracht.

Es gab eine Zeit, innerhalb der es in den Gewerkschaften noch ein Allgemeinplatz war, dass Betriebsräte niemals Gewerkschaften ersetzen können. Dies nicht etwa nur deshalb, weil Betriebsräte permanent einer Friedenspflicht unterliegen, sondern vor allem auch deshalb, weil sie ursprünglich vom Gesetzgeber selbst   g e g e n   die Gewerkschaften in Stellung gebracht wurden: Das Betriebsverfassungsgesetz wurde gegen den Willen der DGB-Gewerkschaften durch die Regierung Adenauer auf den Weg gebracht und zwar mit dem Ziel einer Spaltung der betrieblichen Interessenvertretung. Doch selbst diese einfache historische Wahrheit, die 1952 zum ersten und einzigen politischen Streik in der westdeutschen Gewerkschaftsgeschichte führte, ist heute   k e i n   Allgemeinplatz mehr. Es ist auch keine Erkenntnis, die etwa in Betriebsräteschulungen noch vermittelt wird.27 Nein: Es ist eine Erkenntnis, die in manchen Bereichen – z. B. in Ostdeutschland – innerhalb der Gewerkschaften sogar geleugnet wird: Man   w i l l   sie nicht wahrhaben. Auf Konferenzen betonen „ungläubige“ Gewerkschaftsfunktionäre bereits das „zum ersten Mal“ gehört zu haben.28 Ist schon die Leugnung einfacher historischer Erkenntnisse von verheerender Auswirkung auf die betriebliche Gewerkschaftspraxis, so muss dies erst recht gelten, wenn es um die Gestaltung zentraler Zukunftsfragen geht: So sind die Forderungen, die die IG Metall in Bezug auf die Digitalisierung der Arbeitswelt unter dem Stichwort „Arbeit 4.0“ erhebt, einfach nur noch grotesk: Auch unter diesem Label wird – ganz so wie bei dem von Riexinger beschworenen „Arbeitnehmer-Interessen“ an der Teilzeitgewährung – eine vermeintliche Arbeitszeitsouveränität im Rahmen einer angeblichen „Wahlarbeitszeit“ beschworen. Tatsächlich fordern die Arbeitgeberverbände unter Berufung auf die Digitalisierung bereits die systematische „Deregulierung der Arbeitswelt“. Ermöglicht werden soll dies durch Änderungen des Arbeitszeitgesetzes und – natürlich – durch Tarifverträge, die dann bisherige Standards, wie z. B. Ruhepausen und Ruhezeiten abschaffen.29 Weil Bundesregierung und Unternehmerverbände wissen, dass das Projekt „Arbeit 4.0“ ohne Zustimmung der Gewerkschaften und Betriebsräte nicht durchsetzbar ist, organisieren sie einen angeblichen „Dialog“, an dem sich übrigens nicht nur die IG Metall beteiligt. Auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist mit eigenen Beiträgen dabei.30 Angeblich wieder einmal, um etwas „mitzugestalten“. Für das IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban hängt der Erfolg des Projekts davon ab, wie sich Betriebsräte und Gewerkschaften als „Humanisierungsaktivisten“ in diesem angeblichen Dialog durchsetzen.31 Botollo und Engel kritisieren zu Recht in diesen Zusammenhang die „Lobbyarbeit der IG Metall für die Kapitalseite“.32 In der Tat stellt sich die Frage, wie Betriebsräte in einem solchen „Dialog“ mit Regierung und Arbeitgebern das Projekt Arbeit 4.0 „mitgestalten“ könnten. Die Tatsache, dass Betriebsräte bei einzelnen Maßnahmen ein Mitbestimmungsrecht haben, sagt bekanntlich nichts über ihren wirklichen Gestaltungsspielraum aus. Die Erfahrungen etwa bei der Einführung von Zielvereinbarungen sprechen eine ganz andere Sprache. Auch dort hatten und haben die Betriebsräte Mitbestimmungsrechte. Aber haben sie diese nachhaltig genutzt oder nutzen können? Nein. Wurden sie – wie in solchen Fällen dringend notwendig – von den Gewerkschaften angeleitet oder auch nur beratend unterstützt? Nein. Die Folge: Die Praxis der Zielvereinbarungen führte sogar zu einem schwerwiegenden Macht- und Legitimitätsverlust der Betriebsräte.33

Warum aber – so ist zu fragen – wurden und werden diese Erfahrungen selbst aus der jüngsten Vergangenheit in den oben beschriebenen Debattenbeiträgen ignoriert und warum wird wieder nur abstrakt eine angebliche „Mitgestaltung“ propagiert, um dann aber konkret nur eine weitere Anpassung an die Bedürfnisse des Kapitals vorzubereiten?

Warum werden von den hier kritisierten Autoren und auch manchen Einzelgewerkschaften Chimären errichtet, an die man glauben muss und darf, die aber wenig mit der betrieblichen Realität zu tun haben?

Die Antwort lautet: Weil dann wenigstens noch der Schein einer Debatte um die Zukunft der Gewerkschaften gewahrt werden kann. Tatsächlich ist nämlich die Sackgasse, in der sich die Gewerkschaften durch ihre jahrelange Politik der Anpassung und Selbstentmachtung begeben haben, eine desillusionierende Realität. Überwunden werden kann sie  n u r  durch die Rückbesinnung auf die Gewerkschaftsgeschichte und die Funktion der Gewerkschaften. Doch auch insoweit sind die oben beschriebenen Debattenbeiträge nur ein Symptom. Sie eröffnen eine Scheindiskussion gerade deshalb, weil echte Grundsatzdiskussionen unerwünscht sind. Was der Verfasser dieser Zeilen seit Erscheinen seines Buches „Legende & Wirklichkeit“ insoweit erlebt hat, spottet teilweise jeder Beschreibung. Die Diffamierungen durch Anhänger der IG Metall-Politik in den sozialen Medien reichen von der Beschimpfung als „Gewerkschaftsfeind“ bis zum angeblichen „Gewerkschaftsbashing“. Argumente werden nicht zur Kenntnis genommen. Kritik wird mit Hochmut und aller Arroganz der Macht begegnet. Dabei ist diese Macht keineswegs etwa jene kollektive Gegenmacht, die Gewerkschaften als Vertretung der Interessen der Beschäftigten auszeichnet, sondern nur die Verteidigung einer Politik der Selbstentmächtigung gegenüber den Unternehmern. Einer Politik, die die Gewerkschaften immer weiter in die Sackgasse führt und keine Wege daraus aufzeigt.

Anmerkungen:

1 Riexinger/Becker, For the many, not the few: Gute Arbeit für alle! – Vorschläge für ein Neues    Normalarbeitsverhältnis, Supplement der Zeitschrift Sozialismus Nr. 9/2017, Hamburg 2017 (zitiert: Riexinger)

2 Valgolio, Zeit für Verbindlichkeit – zur Stärkung des Tarifsystems müssen mehr Tarifverträge    allgemeinverbindlich werden, in: Sozialismus Nr. 5/2017, S. 37 ff. (zitiert: Valgolio)

3 Forum Gewerkschaften, Pfadwechsel in der Tarifpolitik, Supplement der Zeitschrift Sozialismus Nr. 5/2017,    Hamburg 2017 (zitiert: Forum)

4 Forum, S. 9

5 Riexinger, S. 12

6  Valgolio, S. 39

7  Geffken, Legende & Wirklichkeit – Die IG Metall in der Automobilindustrie, Cadenberge 2018, S. 8

8  Forum, S. 10

9  Geffken, a.a.O., S. 9

10 a.a.O., S. 9 f.

11 Riexinger, S. 13

12 Forum, S. 30 1

13 Riexinger, S. 12

14 Valgolio, S. 39

15 Riexinger, S. 13

16 Geffken, Streikrecht-Tarifeinheit-Gewerkschaften, Cadenberge 2015, S. 75 f.

17 Valgolio, S. 39

18 Geffken, Recht als Politik?, in: Sozialismus Heft 5/2017, S. 53 ff.

19 ders., S. 56

20 Riexinger, S. 7

21 Riexinger, S. 12

22 Riexinger, S. 4

23 vgl. im Einzelnen Geffken, Das Arbeitszeitgesetz – Handlungsmöglichkeiten für Betroffene und Betriebsräte,  Hamburg 1994

24 ders., Der Kampf ums Recht, Hamburg 2016, S. 26 ff.

25 www.klaus-pickshaus.de/haende-weg-vom-arbeitszeitgesetz/

26 ArbG Düsseldorf vom 24.08.2017, 7 Ca 1349/17

27 Geffken, Schulungsopfer Betriebsräte – Arbeitsrecht I, II, III, in: Kampf ums Recht – Beiträge zum      komplizierten Verhältnis von Politik, Arbeit und Justiz, S. 70

28 so der Bericht des Verfassers über die Tagung „Ostwind“ ostdeutscher Betriebsräte in Berlin vom 23. bis 24.06.2017: Gewerkschaftlicher Kampf und Ostwind, in: ZME, 2017, S. 88 ff., 94 ff.

29 Geffken, Chance Arbeit 4.0? – eine aktuelle Bedrohung des Arbeitsrechts, in: Kampf ums Recht, S. 174 ff., 176

30 Carstensen u.a., Digitalisierung der Arbeit, 2016 

31 isw-Analysen vom 29.06.2016

32 Florian Botollo – Thomas Engel, Industrie 4.0 – arbeits- und gesellschaftspolitische Perspektiven, in: ZME 2015 (Heft 103), S. 29 ff., 29

33 Geffken, Gegen die schleichende Individualisierung des Arbeitsrecht, in: Arbeitsrecht im Betrieb (AiB) 2007 (Heft 9), S. 514 ff.

 

 

 

 

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