»Wer eine vierköpfige Familie hat und arbeitet, kommt erst bei 15,40 Euro Stundenlohn auf Hartz-Niveau. Das zeigen neue Daten.« [1] – Dies zumindest glaubte Dietrich Creutzburg als er Anfang der vergangenen Woche in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) sein politi-sches Credo verkündete: »Hartz IV lohnt sich oft mehr als Arbeit«. Damit sei das »Lohnab-standsgebot« der Fürsorge – das als Rechtsnorm längst nicht mehr existiert – in Gefahr. Zur Untermauerung seiner bösen Ahnungen zitiert er schließlich noch die Kanzlerin mit den Wor-ten: »Wir müssen immer darauf achten, dass derjenige, der arbeitet, mehr hat, als wenn er nicht arbeiten würde.«
Um dem neuen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in dessen verfahrener Hartz-IV-Positionierung zur Seite zu springen, war Dietrich Creutzburg offenbar auf der Suche nach einfach zu kommunizierenden Beispielen für die Belastung der Steuerzahler durch den Sozial-staat. Dabei stieß er auf Berechnungen des Arbeitsministeriums (BMAS) zum durchschnittli-chen Hartz-IV-Bedarf (vgl. Übersicht). [2]
Für eine vierköpfige Familie wird dort beispielsweise ein monatlicher Gesamtbedarf von knapp 1.930 Euro ausgewiesen. Um auf ein Nettoarbeitsentgelt in gleicher Höhe zu kommen, ist bei Steuerklasse III/2 ein monatlicher Bruttolohn von 2.540 Euro erforderlich. Bei einer fünfköpfigen Familie mit einem Bedarf von rund 2.380 Euro steigt der notwendige Bruttolohn auf 3.300 Euro. Ergebnisse, die bei korrekter Eingabe von jedem einigermaßen brauchbaren online-Steuerrechner exakt so ausgeworfen werden. Die FAZ aber ließ sich die Beträge – vermutlich um die Seriosität ihrer Recherche zu unterstreichen – vom Bund der Steuerzahler attestieren, der damit zudem als Datenquelle in Regress genommen werden konnte.
Danach begann die redaktionelle Arbeit des Berliner Wirtschaftskorrespondenten der FAZ. Aus dem ermittelten Bruttolohn und einer unterstellten Arbeitszeit von 38 Stunden pro Woche errechnete er einen Stundenlohn von 15,40 bzw. 20 Euro. Diese Lohnhöhe ist erforderlich, um mit eigener Hände Arbeit auf ein verfügbares Einkommen zu gelangen, das Hartz-IV-Empfänger bei gleicher familiärer Konstellation vom Staat »geschenkt« bekommen? – So jedenfalls der (gezielt) erweckte Eindruck. Hartz IV wird von hart arbeitenden Steuerzahlern finanziert, deren eigenes Einkommen kaum diese Sphären erreicht. Damit hatte die ganze Sache das Zeug für einen medialer Selbstläufer. Die Zahlen wurden von Presse, Funk und Fernsehen ungeprüft übernommen und zweckgerichtet weiterverbreitet.
Einen kleinen Rückschlag hatte die FAZ allerdings doch noch zu verbuchen, denn von mehreren Seiten war umgehend Kritik laut geworden [3]. Beim Arbeitnehmerhaushalt hatte der Wirtschaftsfachmann das Kindergeld schlicht »vergessen« – in den Beispielfälle immerhin 388 Euro bzw. 588 Euro im Monat. So mussten die ermittelten Lohnbeträge für eine vierköpfige Familie am Folgetag um knapp ein Viertel nach unten korrigiert werden – auf 1.935 Euro (Monats-Brutto) bzw. 11,72 Euro (Stundenlohn). [4] – In den Augen des Hauptstadtkorrespondenten Peanuts, denn all das ändere »wenig an den Hürden, die Hartz-IV-Bezieher auf dem Weg in Arbeit überwinden müssen. Zwar sieht das Gesetz schon heute vor, dass sie nicht alles an den Sozialstaat abgeben müssen, was sie durch Arbeit selbst zum Lebensunterhalt beisteuern. Doch werden heute vor allem kleine Hinzuverdienste begünstigt«. [5] – Da plädiert einer, der gerade noch den zur Überwindung von Hartz IV erforderlichen Bruttolohn als viel zu hoch deklariert hat, für die Anhebung des anrechnungsfreien Erwerbseinkommens – zumindest bei größeren Hinzuverdiensten. Weiß der Mann eigentlich wovon er redet bzw. schreibt?
Wer arbeitet hat immer mehr als Hartz IV
Beginnen wir beim letzten Punkt, der zugleich das Ausgangs-Credo ad absurdum führt: Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht und auf die ihm zustehenden Sozialleistungen nicht verzichtet hat stets mehr auf dem Konto als derjenige Hartz-IV-Empfänger, der nicht erwerbstätig ist. Hierfür sorgen die Absetzbeträge nach § 11b SGB II (Erwerbstätigenfreibetrag) . Vom Bruttolohn werden bei einer pauschalen Betrachtung die ersten 100 Euro nicht auf den Hartz-IV-Bedarf angerechnet. Von den nächsten 900 Euro (bis 1.000 Euro) sind 20 Prozent, in der Spitze also zusätzlich 180 Euro, anrechnungsfrei. Liegt der Bruttolohn höher, so bleiben von dem Teil des monatlichen Einkommens, das 1.000 Euro übersteigt und nicht mehr als 1.200 Euro beträgt, zehn Prozent oder weitere 20 Euro unberücksichtigt. Für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die entweder mit mindestens einem minderjährigen Kind in Bedarfsgemeinschaft leben oder die mindestens ein minderjähriges Kind haben, liegt der Grenzbetrag bei 1.500 Euro. Im Maximum sind demnach 300 Euro (ohne Kind) bzw. 330 Euro des Lohns von der Anrechnung auf den Bedarf freigestellt. Die Regelung garantiert Erwerbstätigen also ein Haushaltseinkommen, das immer oberhalb des Fürsorgebedarfs liegt.
Eine Anhebung des Freibetrags vor allem für höhere Niedrigverdienste schraubt die Hürden zur Überwindung der SGB-II-Leistungsberechtigung weiter nach oben; das aber bedeutet eine Verfestigung der Hartz-IV-Abhängigkeit, die zudem einhergeht mit einer Ausweitung des Berechtigtenkreises. Wenn vom Verdienst ein größerer Teil anrechnungsfrei bleibt, dann steigt die Schwelle des Bruttolohns, die erreicht werden muss, um aus der Leistungsberechtigung herauszuwachsen. Gleichzeitig rutschen diejenigen, die gegenwärtig mit ihrem Bruttolohn knapp oberhalb der Schwelle liegen, in die Leistungsberechtigung hinein. Wem die zur Überwindung von Hartz IV erforderlichen Bruttolöhne schon heute zu hoch erscheinen, sollte sich mit einem Plädoyer für die Erhöhung der Freibeträge zurückhalten.
Wie hoch muss der Bruttolohn sein, um Hartz IV hinter sich lassen zu können?
Ausgehend von den Beispielrechnungen des BMAS lassen sich die im Folgenden dargestellten Bruttoschwellen ermittelt, die ein Alleinverdiener im Bundesdurchschnitt erreichen muss, damit der Haushalt gerade keine (aufstockenden) SGB-II-Leistungen mehr beanspruchen kann. Je nach Konstellation sind neben Nettolohn und Kindergeld weitere Sozialleistungen zu berücksichtigen. Neben dem Wohngeld sind dies ein eventueller Kinderzuschlag sowie – bei Alleinerziehenden – Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz.
Alleinstehende. – Der SGB-II-Bedarf setzt sich zusammen aus der Regelleistung (Regelbedarfsstufe 1: 416 Euro) und den Kosten für Unterkunft und Heizung (321 Euro) – zusammen sind das 737 Euro. Da vom Lohn in der Spitze 300 Euro anrechnungsfrei bleiben, muss ein Nettoentgelt von 1.037 Euro erreicht werden; wer weniger verdient hätte einen (eventuell minimalen) Anspruch auf aufstockendes Arbeitslosengeld II. Bei Alleinstehenden liegt die Schwelle des Bruttoentgelts am Ende mit 1.368 Euro so hoch, dass unter den Annahmen des Beispiels kein Anspruch auf Wohngeld mehr besteht.
Ehepaar ohne Kind. – Mit einem Regelbedarf von 748 Euro (zweimal Regelbedarfsstufe 2: 374 Euro) und einer Miete von 412 Euro kommt das Ehepaar auf einen Gesamtbedarf von 1.160 Euro. Wegen des Freibetrags für Erwerbseinkommen muss das Nettoentgelt 1.460 Euro erreichen; der entsprechende Bruttolohn beträgt 1.839 Euro – zu viel, um noch einen Anspruch auf Wohngeld zu haben.
Ehepaar mit einem Kind. – Gegenüber dem kinderlosen Ehepaar erhöht sich der Regelbedarf um 240 Euro (Regelbedarfsstufe 6) für das vierjährige Kind. Zusammen mit 562 Euro Miete beträgt der Gesamtbedarf 1.550 Euro. Da ein Kind zum Haushalt gehört steigt der Freibetrag in der Spitze auf 330 Euro. Das Nettoeinkommen der Familie muss also 1.880 Euro erreichen, um Hartz IV überwinden zu können. Obwohl Kindergeld (194 Euro) und Kinderzuschlag (170 Euro) dabei helfen ist immer noch ein Bruttolohn von 1.904 Euro erforderlich – wie beim kinderlosen Ehepaar zu viel, um noch einen Anspruch auf Wohngeld zu haben.
Haushaltstyp | Bedarfsdeckender Bruttolohn in Euro | |
Monat | Stunde (1) | |
Alleinstehende | 1.368 | 8,31 |
Ehepaar | 1.839 | 11,18 |
Ehepaar mit 1 Kind (4 Jahre) | 1.904 | 11,57 |
Ehepaar mit 2 Kindern (4 und 12 Jahre) | 1.565 | 9,51 |
Ehepaar mit 3 Kindern (4, 12 und 15 Jahre) | 1.475 | 8,96 |
Alleinerziehende mit 1 Kind (4 Jahre) | 1.518 | 9,23 |
Alleinerziehende mit 2 Kindern (4 und 12 Jahre) | 1.366 | 8,30 |
(1) 38 Stunden pro Woche |
Ehepaar mit zwei Kindern. – Der Gesamtbedarf erhöht sich gegenüber dem vorhergehenden Fall auf 1.928 Euro. Zum einen kommt der Regelbedarf für das zwölfjährige Kind (Regelbedarfsstufe 5: 296 Euro) hinzu, zum anderen fällt die veranschlagte Miete mit 644 Euro höher aus. Die Schwelle des Nettoeinkommens liegt unter Berücksichtigung des Freibetrags für Erwerbseinkommen bei 2.258 Euro. Erreicht wird die Schwelle mit einem Bruttoverdienst von 1.565 Euro (1.246 Euro netto), dem Kindergeld (388 Euro), Kinderzuschlag (340 Euro) und Wohngeld (284 Euro). Der erforderliche Stundenlohn liegt am Ende also nicht bei 15,40 Euro und auch nicht bei 11,72 Euro, sondern bei 9,51 Euro.
Ehepaar mit drei Kindern. – Der Gesamtbedarf in Höhe von 2.381 Euro kann bei einem Bruttoentgelt von 1.475 Euro ohne SGB-II-Leistungen gedeckt werden. Zum Nettolohn von 1.174 Euro kommen Kindergeld (588 Euro), Kinderzuschlag (510 Euro) und Wohngeld (436 Euro) hinzu. Der erforderliche Stundenlohn beträgt also nicht 20 Euro, wie von Creutzburg skandalisiert, sondern 8,96 Euro.
Alleinerziehende mit einem bzw. zwei Kindern. – Bei Alleinerziehenden ist für die Bedarfsberechnung ein Mehrbedarf in Höhe von 36 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 zu berücksichtigen (rund 150 Euro) und auf der Einkommensseite sind Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz in den Vergleich einzubeziehen (154 Euro für das vierjährige und 273 Euro für das zwölfjährige Kind). Im Ergebnis belaufen sich die Bruttoschwellen auf 1.518 Euro (Alleinerziehende mit einem vierjährigen Kind) bzw. 1.366 Euro (Alleinerziehende mit zwei Kindern im Alter von vier und zwölf Jahren). – Bei Alleinerziehenden zeigen sich aber auch Ungereimtheiten im Zusammenspiel einzelner Leistungsansprüche: So werden bei der Wohngeldberechnung Kindergeld und Kinderzuschlag zwar nicht als Einkommen anspruchsmindernd berücksichtigt, wohl aber Unterhaltsvorschussleistungen. Diese jedoch mindern als Einkommen des Kindes gleichzeitig im vollen Umfang den Kinderzuschlag, beim vierjährigen Kind um 154 Euro auf nur noch 16 Euro und beim zwölfjährigen Kind entfällt der Anspruch auf Kinderzuschlag gänzlich.
Dennoch bleibt als Fazit: Nicht nur Gutverdiener stehen sich mit Erwerbsarbeit finanziell besser als nicht erwerbstätige Hartz-IV-Bezieher.
[1] Dietrich Creutzburg, Hartz IV lohnt sich oft mehr als Arbeit, FAZ v. 19.03.2018.
[2] BMAS, Grundsicherung für Arbeitsuchende. Sozialgesetzbuch SGB II, Fragen und Antworten, Bonn 2018, S. 101.
[3] Vgl. etwa BIAJ, Bund der Steuerzahler, FAZ, dpa u.a. verbreiten absurden Lohn-Hartz-IV-Vergleich sowie Stefan Sell, Ein schräger Vergleich zwischen Hartz IV und Arbeitseinkommen
[4] Dietrich Creutzburg, Suche nach Wegen aus dem Hartz-IV-System, FAZ v. 20.03.2018
[5] ebd.
Der Artikel »Hartz IV lohnt sich oft mehr als Arbeit«- Dietrich Creuzburgs Kreuzzug gegen die Grundsicherung erschien zuerst auf Portal Sozialpolitik http://www.portal-sozialpolitik.de und wird hier mit freundlicher Genehmigung gespiegelt.