Griechenland extra

In diesen Tagen endet das dritte Kreditprogramm für Griechenland – aber die Krise ist noch längst nicht vorbei. Die Gläubiger haben bis weit in die Zukunft Auflagen festgeschrieben, die ökonomische und soziale Lage ist durch die Austeritätspolitik der vergangenen Jahre verschärft worden, die Staatsschulden sind immer noch dramatisch hoch. Auch wenn sich die wirtschaftliche Situation langsam bessert – die Herausforderungen bleiben groß, zumal für eine linke Regierung.  Was ist seit dem ersten Kreditprogramm von 2010 passiert? Und was lässt sich daraus lernen?

In den 7 folgenden Beiträgen wollen wir Antworten auf diese Fragen geben.

1.   Über eine Ent-Täuschung und ein paar Lehren für Europas Linke
2. Es ging niemals um die Rettung Griechenlands
3. „Klar, dass wir nicht ins Jahr 2008  zurückwollen“
4. Die Logik einer Hilfe, die keine war
5. Ist linke Politik in der Eurozone möglich?
6. Ist das Streikrecht gefährdet?
7. Auswertung der Antwort der Bundesregierung (PDF) vom 29.06.2018 auf die Kleine Anfrage „ESM-Griechenlandprogramm – Abschluss und Bilanz“ (BT-Drs. 19/2781) von Fabio De Masi u.a. und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

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1.   Über eine Ent-Täuschung und ein paar Lehren für Europas Linke

Als Anfang 2015 eine linksgeführte Koalition in Athen die Regierung übernahm, rollte eine Welle von Hoffnung und Solidarität durch Europa. SYRIZA war praktisch über Nacht zu dem geworden, wovon Linke immer wieder gern träumen: Ausgangspunkt für einen Politikwechsel, Gegenmodell zum Europa der Austerität.

Oder doch nicht? Es dämmerte angesichts der unmittelbar eskalierenden Konflikte zwischen den Gläubigern und Athen vielen schnell, dass hier keine roten Teppiche für Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis ausgerollt worden waren. Der institutionelle Beton einer EU, die nach Berliner Kriterien konstruiert wurde und auf einem neoliberalen Fundament steht, ist hart – zumal dann, wenn die Hoffnung von einer kleinen linken Partei in einem ökonomisch und politisch als weniger bedeutend angesehenen Land getragen werden muss, weil größere linke Strömungen in als wichtiger geltenden Ländern gerade nichts zur Veränderung der Kräfteverhältnisse in Europa beitragen können.

Der Autor dieser Zeilen formulierte sechs Wochen nach Beginn des „Griechischen Frühlings“ im Jahr 2015: „SYRIZA wird Fehler machen, es wird Diskussionen geben und auch Niederlagen. Kompromisse werden nötig sein, die schmerzhaft sind.“ Und weiter: „Nein, das hier ist kein ›Schuldenstreit‹. Man wird nicht damit aufhören dürfen, den Kern der Auseinandersetzung freizulegen: Am Exempel Griechenland geht es um die Zukunft Europas – soll es eines der Menschen sein, oder eines des Kapitals. Auch wir haben die Wahl.“

Dreieinhalb Jahre später ist dieses Europa ein anderes, aber die Herausforderung ist im Grunde immer noch dieselbe. Wer über den Rechtsruck, die autoritären Tendenzen, die Radikalisierung der öffentlichen Debatte, die Sündenbockpolitik, die geschürte Ablehnung von Geflüchteten, das Erodieren der Solidarität reden will, kann über die ökonomischen Asymmetrien in Europa und weltweit, die politisch beförderte Ungleichheit zwischen Menschen, Ländern, Regionen, kann über das „befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ (Colin Crouch) im institutionellen Gebälk von Währungsunion und EU sowie im Denken vieler Regierungen nicht schweigen.

Der Fall Griechenland war nie nur ein solcher, sondern immer und vor allem ein Fall Europa. Das soll niemanden von Verantwortung freisprechen, die er trägt. Es soll nur klarmachen, dass diese Verantwortung auf SYRIZA abzuladen allenfalls zum Selbstfreispruch führen könnte, nicht zur Erkenntnis und schon gar nicht zum Bessermachen. Wir haben in den vergangenen Jahren hier und da über das Dilemma einer Solidarität gesprochen, die zu mehr als zu Appellen kaum in der Lage war. Als andere Mehrheiten am nötigsten waren, saßen die Vertreter Griechenlands allein in der Eurogruppe. Als es darum hätte gehen können, die Fackel von Athen auch in andere Länder zu tragen, weil nur veränderte Kräfteverhältnisse in Europa auch eine andere europäische Politik möglich machen, blieben Linke in den meisten Ländern weit unter ihren Möglichkeiten.

Nun heißt es unter anderem aus Frankreich, SYRIZA und Tsipras seien „das Synonym für Austerität“. Wer so spricht, mag seine internen politischen Beweggründe haben, aus der Erfahrung der vergangenen Jahre will er aber nichts lernen. Die Frage ist doch nicht, ob SYRIZA von ihren Wahlversprechen abgerückt ist und ob sie die viel und zu recht kritisierten Auflagen der Gläubiger akzeptiert hat. Das ist so, und man könnte klüger dadurch werden, dass man sich ansieht, welche bestehenden Spielräume nicht genutzt oder wo unterhalb des ungewollten Dachs der Spardiktate falsche Prioritäten gesetzt wurden.

Entscheidend aber ist die Frage, welche anderen Möglichkeiten es für SYRIZA gab und welche Folgen es gehabt hätte, einen anderen Weg einzuschlagen. Grexit? Ausstieg aus der EU? Wo stünde Griechenland heute – ein Land, das mit abgewerteter Währung nötige Importe nicht zahlen könnte, das noch tiefer in soziale Katastrophe rutschen würde, dessen zugrundereformierte Wirtschaft nicht viel zum Exportieren hätte, dessen Menschen zum ganz überwiegenden Teil zwar gegen die Krisenpolitik der Gläubiger sind, aber nie für einen Ausstieg aus dem Euro, aus der EU waren?

Wer vom Spielfeldrand aus auf die Entwicklung in Griechenland schaut, sollte sich die Antworten nicht zu leicht machen. Eine vielleicht noch größere Gefahr für progressive Kräfte aber wäre Desinteresse. Es hat sich mit Blick Griechenland auch unter Linken eine Haltung des Abwinkens ausgebreitet, die aus verständlicher Enttäuschung gespeist wird, die aber das Paradigmatische an dem Fall verkennt. Die europäische Politik gegen Griechenland, die als europäische Politik für Griechenland verkauft wurde, ist der Knoten, den progressive Kräfte lösen müssen, wenn sie – in ihren Ländern, in Europa ingesamt – über einen echten Kurswechsel nicht bloß reden, sondern auch in die Lage kommen wollen, diesen durchzusetzen. Was, wenn Jeremy Corbyn in Großbritannien die Wahlen gewinnt? Dann wird man sehen, wie wirksam die institutionelle Schwerkraft der EU-Regeln selbst noch für ein Land auf dem Weg in den Brexit ist. Vor allem, wenn dort jemand einen linken Kurswechsel anpackt.

Griechenland hat die Symptome einer falschen Politik kenntlich gemacht, so gesehen ist vor allem die Zeit seit Regierungsantritt von SYRIZA eine der Ent-Täuschung in dem Sinne des Wortes gewesen: Die Bewertung der Möglichkeiten für progressive Politik, die Auswahl von Strategien, die Vorbereitung auf Herausforderungen unter den gegeben Verhältnissen wird heute anders ausfallen, weil man sich nicht mehr über die tatsächliche Länge der politischen Hebel in einem Land täuscht. Dies geht nur, wenn man sich nicht mit einfachen Schuldzuweisungen aus der Affäre zieht. „Überwinden heißt verstanden haben“, hat der italienische Marxist Antonio Labriola einmal gesagt. Das ist furchtbar lange her, stimmt aber immer noch: gerade auch in Sachen Griechenland.

SYRIZAs Aufstieg war ein Produkt des Unmuts und des Widerstandes gegen die Auflagen der Gläubiger, die Athen immer neue Kredite aufzwangen, damit alte Verbindlichkeiten bezahlt werden konnten. Heute wird, und es gibt Gründe dafür, gegen SYRIZA demonstriert, weil das Versprechen, es könnte einen einfachen Ausweg geben, nicht eingehalten wurde. Der Sprung aus den real existierenden Verhältnissen – er wird immer eine Fiktion bleiben, sicher auch ein Treiber von Hoffnung sein, aber letzten Endes doch eine gefährliche Sache, weil mit dem Traum vom erlösenden Sprung auch der Frust über sein Misslingen gleichsam mitproduziert wird.

Das ist keine Aufforderung, nicht trotzdem immer wieder Anlauf zu nehmen. Gerade auch aufgrund der Erfahrung aus acht Jahren europäischer Krisenpolitik gegen Griechenland.

Erstens, die ökonomische Seite: Die schon immer falsche Behauptung, man könne eine Ökonomie damit wieder auf die Beine bringen, indem man einer Gesellschaft bleischwere Fesseln der Austerität anlegt, wird inzwischen selbst von früheren Befürwortern kritisiert. Nun ginge es darum, dies zur Grundlage europäischer Wirtschafts- und Finanzpolitik zu machen. Dazu sind radikale Reformen in der EU nötig, jeder Schritt in diese Richtung ist wichtig und wird denen, die sie fordern, nicht in den Schoß fallen. Zumal angesichts der aktuellen EU-Krise.

Zweitens, die demokratiepolitische Seite: Die EU und in dieser vor allem Berlin haben sich angemaßt, Wahlentscheidungen in Griechenland über die Auflagen der „Anpassungsprogramme“ und die offene Drohung mit dem Rauswurf praktisch auszuhebeln. Damit kommen sie nicht mehr so leicht durch, wie man nach den Wahlen in Italien sehen konnte. Aber lag das nur an der relativen ökonomischen Bedeutung des Landes? Gerade in Zeiten, in denen der nationalistische Rückzug als Alternative angepriesen wird, ist die Demokratisierung Europas, die Europäisierung der Demokratie dringend – auch das eine Herausforderung, die nicht in einem Land oder von einer Partei zu bewerkstelligen sein wird.

Drittens, die Frage der Solidarität. In Griechenland und in vielen anderen Ländern sind Netzwerke der Kooperation entstanden, deren gemeinsamer Geist darin besteht, das gesellschaftliche Interesse vor das private Streben nach Profit zu stellen, neue Formen der Zusammenarbeit und des Produzierens zu praktizieren. Man wird nicht darauf setzen können, dass das allein reicht. Aber ohne diese gelebte Solidarität bleibt auch das Reden über transnationale Politik bloß leere Phrase.

Viertens und lange noch nicht der letzte Punkt: Das Beispiel Griechenland kann dabei helfen, progressive Politik wieder zu einer klügeren, differenzierteren Bearbeitung von gesellschaftlichen Widersprüchen zu machen, die ja nicht schon deshalb verschwinden, dass man sie einfach ignoriert oder mit lauten Parolen über sie hinwegredet. Die Wirklichkeit entspricht nicht einer einfachen Figurenaufstellung auf dem Schachbrett der politischen Konflikte. Die Guten da, die Bösen hier?

Es ist komplizierter. Eine wirksame progressive Wende in Griechenland scheiterte zum Beispiel nicht nur an der EU, dem Internationalen Währungsfonds oder den Gläubigern und ihren neoliberalen Bauchrednern in den Medien, sondern auch an Korruption, Steuerflucht, einer teils unfähigen Bürokratie, mangelhaften öffentlichen Strukturen sowie klientelistischen Traditionen, die zu sozialen Asymmetrien und ökonomischen Disproportionalitäen geführt haben. Diese Herausforderung – eine grundlegende Reform des Staates – fand bei linken Beobachtern nicht so viel Berücksichtigung, wie es sinnvoll gewesen wäre. Eine wirksame progressive Wende in Griechenland scheiterte auch daran, dass in anderen Ländern die Linken zu schwach blieben, um die Kräfteverhältnisse in Europa zu verschieben und den neoliberalen Beton in den Regeln und Strukturen der EU aufzubrechen.

Und ist nun alles verloren? Keineswegs. Vielleicht versuchen wir es mit etwas mehr dialektischer Gelassenheit. Klar, es ist nicht einfach, die zu bewahren, wenn die Gründe für Veränderung so dringlich sind und die Hürden, diese zu erreichen, so unüberwindlich hoch erscheinen. Es wird dauern, es wird wieder Fehler geben, neue Debatten, falsche Kursentscheidungen. Aber ist die radikale Pose ohne Wirkung denn wirklich besser, oder die völlige Anpassung mit falscher Wirkung? Griechenland kann auch lehren, sich Zweifel zu erlauben, den Mut zum Bekenntnis eigener Schwäche, nicht immer schon endgügltige, richtige Antworten parat zu haben.

Tom Strohschneider arbeitet unter anderem für die linke Wirtschaftszeitung „OXI“.

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2. Es ging niemals um die Rettung Griechenlands

Als vor wenigen Wochen im Bundestag erneut über „Finanzhilfen zugunsten Griechenlands“ abgestimmt wurde, forderte der Linkspartei-Abgeordnete Fabio De Masi, es sei „Zeit, sich ehrlich zu machen! 95 Prozent der Griechenland-Kredite in Höhe von 274 Milliarden Euro flossen in den Schuldendienst, auch an deutsche und französische Banken, nicht an griechische Krankenschwestern oder Rentner.“

Wohin gingen also die Kredite, wem kamen sie zugute, wo entfalteten sie ihre hauptsächliche Wirkung? 2016 rechnete eine Studie der privaten Hochschule ESMT vor, dass „nur 9,7 Milliarden Euro und damit weniger als fünf Prozent“ aller Kredite aus den „Rettungsprogrammen“ im griechischen Haushalt landeten und somit irgendwie den Bürgern, der Infrastruktur, den Regierungsvorhaben „direkt zugute“ kommen konnten. ESMT-Präsident Jörg Rocholl, der bis heute dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfinanzministerium angehört, wurde damals mit den Worten zitiert: „Mit den Hilfspaketen wurden vor allem europäische Banken gerettet.“ Mit zu diesem Zeitpunkt 86,9 Milliarden Euro wurden „alte Schulden abgelöst, 52,3 Milliarden Euro gingen für Zinszahlungen drauf und 37,3 Milliarden Euro wurden für die Rekapitalisierung der griechischen Banken genutzt“. Die europäischen Steuerzahler hätten „die privaten Investoren herausgekauft“.

Bereits im Juli 2015, also auf dem Höhepunkt des Streits zwischen der SYRIZA-geführten Regierung und den Gläubigern, hatte Olivier Blanchard, der bis 2015 Chefökonom des IWF war, deutliche Kritik daran geäußert, dass „die Finanzhilfe für Griechenland… zur Bezahlung ausländischer Banken genutzt“ worden sei. Blanchard pochte allerdings darauf, dass die Kreditprogramme „nicht nur ausländischen Banken, sondern auch griechischen Einlegern und Haushalten zugute“ gekommen seien, „da ein Drittel der Schulden von griechischen Banken und anderen Finanzinstitutionen Griechenlands gehalten wurde“.

Ein paar Monate vorher hatte sich der griechische Ökonom Yanis Mouzakis die Geldflüsse genauer angesehen und für den damaligen Zeitpunkt festgestellt: 81,3 Milliarden Euro an Kreditzahlungen wurden für die Ablösung von Altschulden und 40,6 Milliarden Euro für Zinszahlungen verwandt. 48,2 Milliarden Euro flossen in die Bankenrettung und 34,6 Milliarden Euro in die Finanzierung des Schuldenschnitts von 2012. Für staatliche Ausgaben, wie Gehälter von Beamten oder Investitionen in die Infrastruktur, wurden nur rund 27 Milliarden Euro verwendet. Die „Zeit“ schrieb damals: „Das Klischee geht so: Die Rettungsmilliarden helfen Griechenland vor allem dabei, Ärzte und Polizei zu bezahlen, einen aufgeblähten Staatsapparat am Leben zu erhalten und Rentnern einen schicken Lebensabend zu ermöglichen. Die Wahrheit ist: Athen steckt in diese Bereiche nur einen Bruchteil der Finanzhilfen.“

Damals lag eine Studie von Attac Österreich schon rund zwei Jahre vor, in der die globalisierungskritische Organisation bereits zu demselben Ergebnissen auch schon gekommen war: Ein großer Teil der „Hilfskredite“ floss in den Finanzsektor, um die Folgen privater Spekulation zu sozialisieren. Das Ziel sei „nicht die Rettung der griechischen Bevölkerung, sondern die Rettung des Finanzsektors“ gewesen, so damals Lisa Mittendrein von Attac. „Sie haben Hunderte Milliarden an öffentlichen Geldern eingesetzt, um Banken und andere Finanzakteure und vor allem deren Eigentümer vor den Folgen der von ihnen verursachten Finanzkrise zu retten.“

Die Attac-Zahlen wurden 2013 bekannt, aber auch damals konnte man eigentlich nicht behaupten, dass die Botschaft völlig neu war. Selbst aus unerwarteter Richtung war schon länger Klartext gesprochen worden, zum Beispiel von Hans-Werner Sinn in einer TV-Runde im Januar 2012. Der Ökonom verwies auf das seiner Meinung nach bestehende „Grundproblem“, sprach sogar ausdrücklich von einem „harten Verteilungskampf“: Die Finanzmärkte würden angesichts toxischer Staatsanleihen „Druck machen und in Richtung der Notenbanken sagen, ihr müsst jetzt Geld drucken und die Zentralbank soll die toxischen Papiere kaufen, damit die Steuerzahler Europas die Lasten übernehmen“, und, auch das sagte der Ökonom klar und deutlich, „die jetzigen Vermögensbesitzer da fein rauskommen“.

In der Sendung saß als Gesprächspartner auch der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen. „Wir sollten uns mal keine Illusionen machen, worum es bei der Griechenland-Rettung wirklich geht“, sagte der Sozialdemokrat: „Der Begriff ist vollkommen falsch, es ging niemals um die Rettung Griechenlands, es ging immer um die Rettung bestimmter europäischer Banken. Bis auf den heutigen Tag.“

Vincent Körner ist Autor unter anderem für  die Common Verlagsgenossenschaft.

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3. „Klar, dass wir nicht ins Jahr 2008  zurückwollen“

Gläubigern und der griechischen Regierung im Juni steht fest: Das dritte Kreditprogramm für Griechenland endet im August. Der politische Wermutstropfen für die von SYRIZA geführte Linksregierung: Im Rahmen eines Überwachungsmechanismus wird weiterhin kontrolliert, ob sich Griechenland an den Reform- und Sparkurs hält. Mit Schuldenerleichterungen soll sichergestellt werden, dass der griechische Bruttofinanzierungsbedarf mittelfristig unter 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes jährlich und danach unter 20 Prozent bleibt. Das Land soll auf diese Weise in die Lage versetzt werden, seine Schulden jederzeit bedienen zu können.

Die Berechnungen basieren darauf, dass Griechenland bis 2022 einen Primärüberschuss von 3,5 Prozent des BIP und danach bis 2060 im Durchschnitt von 2,2 Prozent erreicht. Die Eurogruppe hat sich verpflichtet, zum Ende der Stundungsperiode im Jahr 2032 auf Basis einer Analyse der Schuldentragfähigkeit zu prüfen, ob zusätzliche Schuldenerleichterungen nötig sind. Nach wie vor bestreiten viele Kritiker dieser Konzeption, darunter der Internationale Währungsfonds oder der frühere Finanzminister Yanis Varoufakis, dass Griechenland über einen so langen Zeitraum einen solchen Primärüberschuss erwirtschaften kann.

Der Internationale Währungsfonds IWF wird zwar an der wirtschaftspolitischen Überwachung Griechenlands beteiligt bleiben, er wird sich aber nicht mehr finanziell engagieren. Die 2017 „im Grundsatz“ genehmigte Kreditlinie wird nicht aktiviert. Der Währungsfonds hatte in den letzten Monaten auf mehr Schuldenerleichterungen gedrängt, als vor allem Deutschland zu gewähren bereit war. IWF-Chefin Christine Lagarde unterstrich, man sei angesichts der nun beschlossenen Maßnahmen zwar zuversichtlich bezüglich der mittelfristigen Tragfähigkeit der griechischen Schulden – in der sehr langen Frist habe man aber Vorbehalte.

Der griechische Finanzminister Efklidis Tsakalotos verweist zu Recht auf die massiven gesellschaftlich-sozialen Folgen der unter dem Druck der Finanzgeber – also der so genannten Troika – erzwungenen „innere Abwertung“. Als Mitglied der Währungsunion ist Athen die Möglichkeit einer Währungsabwertung versperrt, mit der die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft verbessert werden könnte. Die von den Vorreitern einer harten Austeritätspolitik in Europa ausgegebene Strategie, mit der Griechenland seine Wettbewerbsfähigkeit entwickeln solle, lautete: Löhne senken und Kaufkraft reduzieren.

Diese Lösung ist Wahnsinn. Sie führte direkt zu einer gesellschaftlichen Verwüstung. Heute sagt sich leicht: Die Verarmung der Schwächsten kann nicht das europäische Ziel sein. Die gute Lösung wäre eine mutige Lösung gewesen: Die stärksten Mitgliedsstaaten, mit Deutschland an der Spitze, investieren mehr, um das Wachstum zu unterstützen, und schaffen Haushaltsressourcen, um Innovationen und Investitionen in der Eurozone zu fördern – im Dienste des Wohlstands aller. Diesen Weg durchzusetzen, gab es aber in der Vergangenheit keine politischen Mehrheiten.

Wenn nun in Brüssel und Berlin von einem „erfolgreichen Abschluss“ des Kreditprogramms die Rede ist, sollte auch die Sichtweise von Tsakalotos nicht unterschlagen werden: „Wir sind die einzige Gesellschaft, die in Friedenszeiten 25 Prozent ihrer Wirtschaftskraft verloren hat. Wie kann das ein Erfolg sein?“, fragte der Finanzminister in einem Interview. „Letztlich haben wir als Regierung versucht, Reformen umzusetzen und die Gesellschaft dafür zu gewinnen. Aber es wäre anmaßend, hier von einem Erfolg zu sprechen, angesichts des Elends und der humanitären Krise. Andererseits war seit der Parteigründung von SYRIZA klar, dass wir nicht ins Jahr

2008 zurückwollen. Und das ist auch der Kern unserer Wachstumsstrategie. Ein Rückschritt wäre das Letzte, das wir möchten.“

Griechenland hatte die weltweite Wirtschaftskrise von 2008ff. mit voller Kraft abbekommen. Und warum? Weil sich hinter der Fassade des „ordentlichen Regierens“ in den vorangegangenen Jahren in vielen Teilbereichen der Gesellschaft enorme wirtschaftlich-soziale Fehlentwicklungen ausgebreitet hatten: signifikante makroökonomische und soziale Ungleichgewichte, die durch Schuldenaufnahmen überdeckt worden waren.

Kredite und Haushaltsüberschüsse allein reichen nicht, um eine solche Krise zu überwinden. Giannis Dragasakis, der Vizepremier der Linksregierung, konstatiert rückblickend: Es habe die Auffassung vorgeherrscht, mit günstigem Geld, mit Krediten, hätte man den damaligen Wohlfahrtsstaat verteidigen können. „In Griechenland wurde das bis zum Exzess betrieben. Als das Land der Euro-Zone beigetreten ist, wurde versäumt, die Wirtschaft stärker auf die Produktion und den Export auszurichten“, so Dragasakis.

Der frühere sozialdemokratische Ministerpräsident Giorgos A. Papandreou hatte im Mai 2010, als das erste Kreditprogramm startete, die griechische Mythologie beschworen, um den Ernst der Lage zu illustrieren. Griechenland stehe am Beginn einer neuen „Odyssee“, die es aber bestehen werde: „Wir kennen den Weg nach Ithaka.“ Dieser Hinweis auf die Irrfahrt des Odysseus bedeutete nichts Gutes.

Nach dem Sieg über Troja, dem zehn Jahre Krieg vorangegangen waren, begab Odysseus sich mit seinen zwölf Schiffen auf die Heimreise. Odysseus und seine Mannschaft hatten auf ihrer Reise zahlreiche Abenteuer zu bestehen und Unglücksschläge zu erleiden. Für einige waren sie selbst verantwortlich, andere hatten sie der Feindseligkeit namentlich des Meeresgottes Poseidon zu verdanken. Erst nach zehnjähriger Irrfahrt kehrte Odysseus nach Verlust aller Begleiter allein nach Ithaka zurück.

Papandreou führte das Land nicht nach Ithaka, er verschwand wenig später samt der sozialdemokratischen Partei Pasok von der politischen Bühne. Neuwahlen brachten den Konservativen Andonis Samaras von der Nea Dimokratia ins Ministerpräsidentenamt, aber die soziale und ökonomische Irrfahrt ging weiter. Als das linke Bündnis SYRIZA dann Anfang 2015 die Aufgabe übernahm, in Regierungsverantwortung Wirtschaft und Staat zu reformieren, bestanden alle Herausforderungen immer noch: der Kampf gegen die Oberschicht, gegen den Klientelismus, gegen die Korruption und die Steuerhinterziehung.

Statt von den Vielen massive Opfer abzuverlangen, sollte es andere Möglichkeiten geben. Die Vorstellung, dass „faule Griechen“ für die Krise verantwortlich sind und nicht die Machtverhältnisse und die Politik, war falsch. Sie führte dazu, dass die Eliten aus der Schusslinie verschwinden konnten. Das Land war von zwei Parteilagern regiert worden, die wie Machtkartelle funktionierten. Und Europas Politiker hatten weder den politischen Willen noch die Instrumente, um mit einer solchen Krise umzugehen. Griechenland wurde zu einem Experiment, zur „Laborratte“ – so sieht es im Rückblick Dragasakis.

Griechenland hängt seit 2010 am Tropf der Allianz der europäischen Staaten samt Europäischer Zentralbank EZB, der EU-Kommission und des IWF. Etliche kritische Ökonomen und linke Politiker rieten der linksgeführten Regierung in Athen zu einem Kurs der Ablehnung der Memoranden, obwohl offensichtlich war, dass ohne die Kredite dieser Allianz, im Gegenzug zu Sanierungsmaßnahmen und gesellschaftliche Strukturreformen das Land, in einen Staatskonkurs gerutscht wäre. Ohne Aussicht auf weitere Kredite und Finanzdienstleistungen sollte das Land seine Strukturreformen umsetzen: Aber wie sollten Steuerreformen, die Beseitigung von Klientelismus und Korruption, der Aufbau eines modernen öffentlichen Sektors, eines solidarischen Gesundheitssystems und eine grundlegende Renovierung der sozialen Sicherheitssysteme so möglich sein? Die reformorientierte Mehrheit in SYRIZA lehnte einen solchen Kurs als sozial und politisch unverantwortlich ab. Dagegen verweisen linke Kritiker immer wieder darauf, dass SYRIZA seine Versprechen preisgegeben habe. Zugespitzt wird der Partei und Alexis Tsipras vorgeworfen, die Systemfrage nicht gestellt zu haben.

In einer Gesellschaft, die bereits von einer sehr großen Schattenwirtschaft geprägt war, und in einem Staat, in dem der Klientelismus tief verwurzelt ist, hätte ein Grexit das soziale Chaos verschärft und die Korruption auf ein Niveau gebracht, das selbst Griechenland bisher noch nicht gekannt hatte. Dies wäre verbunden mit einer sozialen, humanitären Katastrophe.

„Diejenigen, die sich auf das revolutionäre Erbe berufen und die Parteiführung von SYRIZA so lauthals verdammen, weil sie“, wie damals zu Recht der kanadische Marxist Leo Panitch warnte, „nicht den Bruch gewählt haben, müssten eigentlich wissen, dass weder in Deutschland noch in Mittel- oder Nordeuropa in absehbarer Zeit für solch einen Bruch eine Aussicht besteht.“ Und der Politikwissenschaftler mahnte, „es wäre aber besser, wenn Möchtegern-Revolutionäre, die zum Bruch mit dem Kapitalismus beim schwächsten Kettenglied rufen, ihre Fähigkeiten zur Geltung bringen würden, um zumindest dort, wo sie zu Hause sind, das Gleichgewicht der Kräfte zu verschieben.“

Mittlerweile ist Griechenland wieder auf Wachstumskurs: Die Wirtschaft ist im ersten Quartal dank steigender Exporte deutlich gewachsen. Das BIP legte von Januar bis März 2018 im Vergleich zum Schlussquartal 2017 um 0,8 Prozent zu. Die Ökonomie wächst bereits seit fünf Quartalen ununterbrochen. Während die Warenexporte diesmal um 5,1 Prozent zulegten, nahm der Konsum um 0,1 Prozent zu.

Im Vergleich zum Auftakt des Vorjahres expandierte die Wirtschaftsleistung in den ersten drei Monaten 2018 um 2,3 Prozent. Das stützt die optimistischen Prognosen der Industriestaaten-Organisation OECD. Diese traut Griechenland 2018 ein Wachstum von 2,0 Prozent zu, das 2019 sogar auf 2,3 Prozent steigen soll.

Die SYRIZA-geführte Regierung hat die Einigung der Euroländer auf die Bedingungen für den Abschluss des dritten Kreditprogramms begrüßt. Nach acht Jahren Reformen und Entbehrungen unter den Auflagen der Gläubiger müssten die Griechen „die Veränderung nun in ihren Taschen spüren“, sagte Finanzminister Tsakalotos. Man selbst werde „niemals vergessen, was das griechische Volk in den vergangenen acht Jahren durchmachen musste“. Damit „sich das lohnt, müssen wir dafür sorgen“, dass nun die Bevölkerung „konkrete Ergebnisse sieht“. Griechenland habe alle Voraussetzungen erfüllt, gespart und zahlreiche Reformen in die Tat umgesetzt, so Regierungschef Tsipras. Er versprach eine Erhöhung des Mindestlohnes und Verbesserungen beim Sozialstaat, der wegen der Sparmaßnahmen vernachlässigt wurde.

Dabei wird sich in den nächsten Monaten zeigen, ob die von Alexis Tsipras vorgestellte Wachstumsstrategie umgesetzt werden kann. Das Land könne sich neue Ziele setzen, um aus der mehrjährigen Krise herauszukommen, hatte der Ministerpräsident im Mai in Athen angekündigt. Hellas werde wieder ein normales Land im Kapitalismus werden.

Die jetzt fixierte sanfte Landung – also die Beendigung des harten Aufsichts- und Auflagenprogramms der Troika – ermöglicht eine deutliche Normalisierung der Lage. Griechenland bleibt eine kapitalistische Gesellschaft unter der Kontrolle der Finanzmärkte. Das wird von Kritikern als zu wenig angesehen. Die Frage ist, was die durchsetzbaren Alternativen gewesen wären.

Für die Zukunft hängt viel davon ab, dass erstens die Konjunktur der Globalökonomie und Europas weiterhin einen günstigen Rahmen für die Rekonstruktion der griechischen Ökonomie bildet; dass es dem progressiven Lager sozialer Kräfte unter Führung von SYRIZA gelingt, den Rekonstruktions- und Transformationsprozess in Griechenland in der Gesellschaft zu verankern und dass es gelingt Mehrheiten, im politischen Raum zu sichern, um auch in der Etappe nach August, trotz härtere gesellschaftlicher Konflikter, das Land in Richtung einer Demokratisierung von Gesellschaft und Staat weiter aus zubauen.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Sozialismus“. Von ihm ist unter anderem „Isch over? Griechenland und die Eurozone“ im Verlag VSA Hamburg erschienen (gemeinsam mit Björn Radke).


4. Die Logik einer Hilfe, die keine war

Im August endet das dritte Kreditprogramm für Griechenland. Die Logik der damit verbundenen „Anpassung“ lautete in etwa so: Vor allem mit drastischen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben lasse sich der Schuldenstand reduzieren und neue Wettbewerbsfähigkeit erreichen, die wiederum nötig ist, damit sich Athen selbstständig und nachhaltig finanzieren kann. Entsprechend sahen die drei seit 2010 durchgesetzten Kreditprogramme aus: Sozialabbau, Deregulierung, Privatisierung. Im Prinzip wurde eine Krisenpolitik mit Berliner Drehbuch verordnet: Dort glauben wichtige Akteure bis heute, dass weniger Staat und mehr Markt eine Lösung für wirtschaftliche Schwäche sein könnten. Dass es gravierende strukturelle Probleme in Griechenland gab und bis heute gibt, soll hier keineswegs unterschlagen werden. Ein Rückblick: Griechenland, seit 1981 Mitglied der Europäischen Union, hatte 2001 den Euro eingeführt. Ein Jahr vorher lag die Staatsverschuldung bei 104,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – jedenfalls offiziell. Das Land gab mehr Geld aus als es einnahm. Die 2007 beginnende Finanzkrise verschärfte die Lage, nicht zuletzt, weil die konservative Regierung Kostas Karamanlis ein teures Bankenrettungsprogramm auflegen musste. Aber auch die Wirtschaft des Landes brach ein: War das BIP noch 2006 um 5,7 Prozent und 2007 um 3,3 Prozent gewachsen, fiel Griechenland bald in eine Rezession, unter anderem wegen der schlechter werdenden Lage in den wichtigen Branchen Schifffahrt und Tourismus. Der damalige EU-Währungskommissar Joaquín Almunia forderte „rigorose Maßnahmen, um die systematischen Budget-Entgleisungen zu beenden“.

Brüssels Vorgabe hieß: Bis 2010 müsse die Defizitquote wieder unter drei Prozent gedrückt werden, also der die laufenden Einnahmen übersteigende Betrag der Ausgaben der öffentlichen Haushalte im Verhältnis zum BIP. Doch die Krise konnte so nicht aufgehalten werden. Karamanlis ließ im September 2009 das Parlament auflösen und seine Nea Dimokratia verlor die im Oktober folgende Neuwahl gegen die sozialdemokratische Pasok. Der neue Premier Georgios A. Papandreou musste dann die Daten zur Verschuldung noch nach oben korrigieren und weitere schlechte Wirtschaftsdaten bekanntgeben. Über die Gründe für die Korrekturen wurde viel diskutiert, von methodischen Mängeln beim Statistikamt ESYE war ebenso die Rede wie von politischer Einflussnahme. Das Land, so formulierte es damals die „Frankfurter Allgemeine“, sei auch „nur wegen geschönter Zahlen“ in den Euro aufgenommen worden.

Die Finanzmärkte reagierten auf die Korrektur mit erheblichen Risikoaufschlägen, die öffentliche Finanzierung wurde immer schwieriger. Athen brauchte Unterstützung. Die Regierungen in Paris und in Berlin „verlangten, dass Griechenland entweder die Kreditbedingungen“ akzeptiere „oder die Eurozone verlasse“, schrieb damals die „Zeit“. Die Regierung Papandreou beantragte im April 2010 offiziell Finanzhilfe. Nicht nur, dass Berlin vehement einen Austeritätskurs verfolgte – die Kanzlerin verzögerte auch den Start des Kreditprogramms und verschärfte so die Lage in Griechenland aus rein innenpolitischen Gründen: der damals anstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen wegen. Anfang Mai 2010 wurde das erste Kreditprogramm geschnürt. Zwei weitere sollten folgen. Griechenland wurde „gerettet“, so die Losung.

Was die Bilanz nach über acht Jahren angeht, spricht der Linkspartei-Politiker Fabio De Masi allerdings von „verheerenden ökonomischen und sozialen Auswirkungen“. Die Bundesregierung selbst hat dafür Anfang Juli noch einmal Zahlenmaterial zusammengestellt – in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion. Man kann die Malaise mit wenigen Kerndaten zeigen: Die Staatsschuldenquote, die eigentlich per „Anpassung“ gedrückt werden sollte, ist von 2009 bis 2017 von 126,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf 178,6 Prozent gestiegen. Die rund 289 Milliarden Euro an Kreditzahlungen, die Athen seit 2010 erhalten hat, flossen vor allem in den Schuldendienst, von 95 Prozent der „Hilfsgelder“ ist die Rede. Die öffentliche Schuldenquote stieg aber auch deshalb an, weil die „Anpassung“ gravierend die griechische Ökonomie schwächte – die mit den Krediten verbundenen Auflagen setzten auf Austerität und die senkte die Nachfrage, ließ Investitionen einbrechen.

Die privaten Bruttoanlageninvestitionen sanken von 35,8 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 14,4 Milliarden Euro im Jahr 2017; bei den öffentlichen Bruttoanlageninvestitionen war es ein Absturz von 13,6 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 8,1 Milliarden Euro im Jahr 2017. Was das bedeutet? In der privaten Wirtschaft und im öffentlichen Sektor wurde Substanz aufgezehrt.

Wie daraus eine selbsttragende ökonomische Entwicklung werden soll? Sicher, Athen konnte zuletzt sowohl ein leichtes Anziehen des Wirtschaftswachstums vermelden, auch der öffentliche Haushaltssaldo, also das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben, hat sich verbessert – weil teils mehr eingenommen und vor allem weniger ausgegeben wird. Aber mit welchen Folgen? Die öffentlichen Ausgaben für den Gesundheitssektor sind von 16,2 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 8,6 Milliarden Euro im Jahr 2016 gesunken, der Anteil am Bruttoinlandsprodukt nahm von 6,8 Prozent auf 4,9 Prozent ab. Die öffentlichen Bildungsausgaben nahmen von 9,8 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 7,5 Milliarden Euro im Jahr 2016 ab. Das heißt – selbst wenn man einrechnet, dass tatsächliche Fehlausgaben gestrichen wurden – weniger Gesundheitsfürsorge und weniger öffentliche Bildung. Und hier haben wir noch nicht einmal angefangen über Einkommen, Renten, Erwerbslosigkeit, Armutsgefährdung oder den Anstieg der notleidenden Kredite zu sprechen, der auch ein Indikator für die anhaltende Krise ist: Deren Anteil explodierte förmlich von 12,6 Milliarden Euro 2009, was damals 7 Prozent des Bruttokreditbestands entsprach, auf 103,8 Milliarden Euro 2017 (45,6 Prozent). Das Bundesfinanzministerium verteidigt den bisherigen Kurs der Krisenpolitik dennoch. Die aus Athen gemeldeten besseren Zahlen zur Wirtschaftsentwicklung und zum Haushalt werden zum Beleg dafür gemacht, was „im Zuge der Programme“ erreicht wurde. Und in der Zukunft? Tragfähigkeitsanalysen der Schulden würden zeigen, „dass es Griechenland gelingen kann, seine Staatsverschuldung gemessen am BIP in den nächsten Jahren deutlich zu reduzieren. Dafür ist eine Fortführung des eingeschlagenen Reformkurses inklusive der von Griechenland entwickelten Wachstumsstrategie und eine Beibehaltung der nachhaltigen Haushaltspolitik notwendig.“

Fabio De Masi hält das mindestens für Schönfärberei: „Das Überschuldungsrisiko Griechenlands bleibt sehr hoch, nach Annahmen des Internationalen Währungsfonds weit über den Grenzwerten der Schuldentragfähigkeit. Die Nachprogrammüberwachung hält Griechenland nach Angaben der Bundesregierung für die nächsten 30 Jahre unter verstärkter Kontrolle der EU-Institutionen“, heißt es in einer Auswertung der Antwort des Bundesfinanzministeriums. Dabei ist vereinbart, dass diese Nachprogrammüberwachung, die wiederum mit harschen Auflagen einhergeht, bis zur Rückzahlung von 75 Prozent der Kredite andauert – das heißt, man muss damit rechnen, dass Athen noch etwa 30 Jahre auf dem Radar der Gläubiger bleibt. Und das Ganze ist auch noch mit einer sehr wackeligen Prognose verbunden. „Die Schuldenanalyse von Berlin und Brüssel ist ein schlechter Witz, um ein absurdes Kürzungsprogramm zu rechtfertigen“, sagt De Masi. „Bereits 0,2 Prozent weniger Wachstum als unterstellt, führen zum Kollaps der Prognose.“ Es sei kaum denkbar, dass eine Volkswirtschaft über einen so langen Zeitraum permanente Haushaltüberschüssen vor Zinsen von 1,5 Prozent erreicht.

Vincent Körner


5. Ist linke Politik in der Eurozone möglich?

Der erzwungene Kniefall SYRIZAs 2015 hat gezeigt, dass Opposition gegen die Regeln der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gegen härteste Widerstän- de erkämpft werden muss. Trotz deutlicher Mehrheit der griechischen Bevölkerung im Referendum des 5. Juli 2015 gegen die Kürzungspolitik zwangen Eurogruppe, Europäische Zentralbank (EZB), EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds (IWF) Griechenland ein drittes Austeritätsprogramm auf. Zuvor hatte die EZB einen Sturm auf die Banken provoziert und gleichzeitig das griechische Bankensystem von der Liquiditätsversorgung abgeschnitten. Auch Italien wurde im Mai im Zuge der schwierigen Regierungsbildung zwischen der rechten Lega und den Fünf-Sternen unter Druck gesetzt, um vor einem Abweichen von den unsinnigen Schuldenregeln abzuschrecken. Der Konflikt ist allerdings offener als im Fall Griechenlands, das nach Jahren der Krise und der Troika-Kontrolle weder über Liquidität noch eine handlungsfähige Verwaltung verfügte, um sich effektiv zu wehren. Selbst ein größerer Mitgliedsstaat, der die Unterwerfung unter EU-Regeln verweigert, wäre vor  Destabilisierung von außen nicht gefeit. Zum einen würden allgemeine Unsicherheit und gezielte Panik- mache staatliche Refinanzierungskosten durch steigen- de Anleiherenditen massiv erhöhen. Dies wäre für den Staat nicht unmittelbar existenzbedrohend, da die erhöhte Zinslast erst mit Verzögerung auf den Haus- halt durchschlägt.

Weitaus verletzlicher wäre aber das nationale Bankensystem, wenn die EZB vor dem Hintergrund politischer Unsicherheit und steigender Renditen auf Staatsanleihen diese nicht mehr als notenbankfähige Sicherheit der Geschäftsbanken akzeptiert  und letztere somit von der Versorgung mit Zentralbankgeld auf dem regulären Weg abschneiden würde. Hierbei kommt auch den privaten Ratingagenturen eine zentrale Rolle zu, welche die EZB durch eine Abwertung der Anleihen zu diesem Schritt zwingen können. Ohne Unterstützung einer eigenen Zentralbank wäre eine somit ausgelöste Bankenkrise für die Staatsfinanzen schwer zu schultern und würde die einheimische Wirtschaft hart treffen. Die Zahlungsunfähigkeit eines Mitgliedsstaat oder seines Bankensystem würde aber auch Schockwellen  in den Rest der Währungsunion senden. Diese sind eine wirkmächtige Drohkulisse, um linke Politik auf dem Verhandlungsweg unter Umständen zu ermöglichen. Eine solche Taktik setzt allerdings voraus, auch auf ein Scheitern der Verhandlungen und ein (partielles) Ausscheiden aus der Währungsunion vorbereitet zu sein. Die Regierung von Alexis Tsipras war hierzu laut dem ehemaligen Finanzminister Yanis Varoufakis nicht bereit. Ihr blieb überdies kaum Vorbereitungszeit und die Gegenseite brachte in Person des damaligen Finanzministers Wolfgang Schäuble einen Grexit  selbst ins Gespräch, da sie dessen negative Auswirkungen auf den Rest der Eurozone für verkraftbar hielt. Ein größerer Mitgliedsstaat hat aufgrund der abschreckenden Wirkung einer möglichen finanziellen Kernschmelze stärkeres Verhandlungspotenzial.  Die Herausforderungen sind dennoch enorm, für das politische Überleben einer linken Regierung und die Gesundheit der eigenen Ökonomie. Umso meh  vor dem Hintergrund, dass ein auch nur glaubhaft angedrohter Bruch mit der Währungsunion technisch Der erzwungene Kniefall SYRIZAs 2015 hat gezeigt, dass Opposition gegen die Regeln der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gegen härteste Widerstände erkämpft werden muss.

Trotz deutlicher Mehrheit der griechischen Bevölkerung im Referendum des 5. Juli 2015 gegen die Kürzungspolitik zwangen Eurogruppe, Europäische Zentralbank (EZB), EU-Kommission und Inte nationaler Währungsfonds (IWF) Griechenland ein drittes Austeritätsprogramm auf. Zuvor hatte die EZB einen Sturm auf die Banken provoziert und gleichzeitig das griechische Bankensystem von der Liquiditätsversorgung abgeschnitten. Auch Italien wurde im Mai im Zuge der schwierigen Regierungsbildung zwischen der rechten Lega und den Fünf-Sternen unter Druck gesetzt, um vor einem Abweichen von den unsinnigen Schuldenregeln abzuschrecken. Der Konflikt ist allerdings offener als im Fall Griechenlands, das nach Jahren der Krise und der Troika-Kontrolle weder über Liquidität noch eine handlungsfähige Verwaltung verfügte, um sich effektiv zu wehren.Selbst ein größerer Mitgliedsstaat, der die Unterwerfung unter EU-Regeln verweigert, wäre vor  Destabilisierung von außen nicht gefeit. Zum einen würden allgemeine Unsicherheit und gezielte Panik- mache staatliche Refinanzierungskosten durch steigende Anleiherenditen massiv erhöhen. Dies wäre für den Staat nicht unmittelbar existenzbedrohend, da die erhöhte Zinslast erst mit Verzögerung auf den Haushalt durchschlägt. Weitaus verletzlicher wäre aber das nationale Bankensystem, wenn die EZB vor dem Hintergrund politischer Unsicherheit und steigender Renditen  auf Staatsanleihen diese nicht mehr als notenbank- fähige Sicherheit der Geschäftsbanken akzeptiert  und letztere somit von der Versorgung mit Zentralbankgeld auf dem regulären Weg abschneiden würde. Hierbei kommt auch den privaten Ratingagenturen eine zentrale Rolle zu, welche die EZB durch eine Abwertung der Anleihen zu diesem Schritt zwingen können. Ohne Unterstützung einer eigenen Zentralbank wäre eine somit ausgelöste Bankenkrise für die Staatsfinanzen schwer zu schultern und würde die einheimische Wirtschaft hart treffen.

Die Zahlungsunfähigkeit eines Mitgliedsstaat oder seines Bankensystem würde aber auch Schockwellen  in den Rest der Währungsunion senden. Diese sind eine wirkmächtige Drohkulisse, um linke Politik auf dem Verhandlungsweg unter Umständen zu ermöglichen. Eine solche Taktik setzt allerdings voraus, auch auf ein Scheitern der Verhandlungen und ein (partielles) Ausscheiden aus der Währungsunion vorbereitet zu sein.

Die Regierung von Alexis Tsipras war hierzu laut dem ehemaligen Finanzminister Yanis Varoufakis nicht bereit. Ihr blieb überdies kaum Vorbereitungszeit und die Gegenseite brachte in Person des damaligen Finanzministers Wolfgang Schäuble einen Grexit  selbst ins Gespräch, da sie dessen negative Auswirkungen auf den Rest der Eurozone für verkraftbar hielt. Ein größerer Mitgliedsstaat hat aufgrund der abschreckenden Wirkung einer möglichen finanziellen Kernschmelze stärkeres Verhandlungspotenzial.  Die Herausforderungen sind dennoch enorm, für das politische Überleben einer linken Regierung und  die Gesundheit der eigenen Ökonomie. Umso mehr vor dem Hintergrund, dass ein auch nur glaubhaft angedrohter Bruch mit der Währungsunion technisch anspruchsvoller Vorbereitung zur Einführung eines parallelen Bezahlsystems sowie temporärer Kapitalverkehrskontrollen und möglicherweise Devisenratio- nierung bedürfte. Dies müsste eine linke Regierung im Zweifelsfall  gegen den mehr oder weniger offenen Widerstand  der eigenen Eliten in Privatwirtschaft, aber auch öffentlicher Verwaltung organisieren. Ein solcher Plan B erfordert daher schon vor einer möglichen Regierungsübernahme gründlicher Vorbereitung. Dies ist Voraussetzung für eine realistische Strategie zur Durchsetzung linker Politik in der EU-Währungsunion und ihren Machtverhältnissen.

Christian Gengenbach und Stefan Herweg sind Ökonomen und wissenschaftliche Mitarbeiter des linken Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi.


6. Ist das Streikrecht gefährdet?

Wie berechtigt ist der Vorwurf, die Regierung Tsipras hätte auf Geheiß der Gläubiger das Streikrecht gekillt? Um die Frage zu beantworten, muss man den alten Artikel 8 des Arbeitsrechts unter die Lupe nehmen. Dabei stößt man auf eine der vielen Pathologien des gewerkschaftlichen Lebens in Griechenland. Für einen Streikbeschluss war bislang die Anwesenheit von nur einem Drittel der eingeschriebenen Gewerkschaftsmitglieder erforderlich (die dann mehrheitlich zustimmen mussten). Wenn weniger als ein Drittel kamen, konnte eine zweite und noch eine weitere Versammlung einberufen werden. Beim dritten Anlauf reichte die Teilnahme von einem Fünftel der Mitglieder aus.

Man muss sich die Problematik einer solchen Beschlussfassung an einem Beispiel klar machen. Nehmen wir einen Kleinbetrieb mit 50 Beschäftigten (für griechische Verhältnisse fast schon ein mittelgroßes Unternehmen). Da der Organisierungsgrad im privaten Sektor in der Regel deutlich unter 20 Prozent liegt, kann man von allenfalls zehn Gewerkschaftsmitgliedern ausgehen. Nach dem alten Gesetz konnte ein Streik von nur 20 Prozent der Mitglieder, also von zwei Personen beschlossen werden. Für die Mehrheit reichte sogar eine einzige Stimme aus, falls die zweite eine Enthaltung war. Es liegt auf der Hand, dass ein Streikvotum, das auf solche Weise zustande kommt, eine Luftnummer ist.

Ein derart „einstimmig“ beschlossener Streik wird nicht stattfinden. Wie viele der Gewerkschafter, die nicht für einen Streikbeschluss zu mobilisieren sind, werden den Arbeitskampf mittragen? Und wie viele der nicht-organisierten Beschäftigen werden mitmachen? Man muss es klar sagen: Die Bestimmungen des alten Artikels 8 sind nur ein Symptom der organisatorischen Schwäche der griechischen Gewerkschaften, deren Führungskadern es vor allem um die symbolische Streikgymnastik geht. Und nicht um die Wirksamkeit eines Arbeitskampfes – geschweige denn um die Sympathie und Zustimmung für die Streikziele in der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Gewerkschaften in Deutschland sich selbst eine Regel vorgeben, die für eine hinreichende Akzeptanz von Streikbeschlüssen sorgen soll: In den repräsentativen Beschlussgremien muss eine Mehrheit von 75 Prozent für einen Streik stimmen – und das bei einem Organisationsgrad, der deutlich höher liegt als in Griechenland.

Das zentrale Problem der griechischen Gewerkschaften ist nicht das Streikrecht, das durch den neuen Artikel 8 keineswegs eingeschränkt wird. Es ist vielmehr die fehlende Glaubwürdigkeit einer Verbandsbürokratie, die in der Vergangenheit von Kungeleien mit den jeweiligen Regierungen profitiert hat, ohne sich um die Stärkung ihrer Präsenz an der Betriebsbasis und um ihre gesellschaftliche Glaubwürdigkeit zu kümmern. Es ist also keineswegs verwunderlich, dass das „öffentliche Ansehen“ der Gewerkschaften gegen Null tendiert. Sie lagen bei allen Umfragen der letzten Jahre in der Rangliste der vertrauenswürdigsten Institution an letzter Stelle. Bei einer Umfrage von Kapa Research von Ende 2017 erklärten 94 Prozent der Befragten, sie hätten zu den gewerkschaftlichen Organisationen „wenig oder überhaupt kein Vertrauen“. Lediglich 5 (in Worten: fünf) Prozent zeigten „großes oder ziemliches Vertrauen“. Dieser Wert liegt noch deutlich niedriger als bei anderen unbeliebten Institutionen wie den politischen Parteien (7,5 Prozent), den Banken (12 Prozent), dem Parlament (14 Prozent) oder den staatlichen Unternehmen (18 Prozent). Die griechischen Gewerkschaften haben sich offensichtlich daran gewöhnt, ihre Mobilisierungsschwäche durch lasche Kriterien für formelle Streikbeschlüsse zu kompensieren. Deshalb hat die SYRIZA-Arbeitsministerin Effi Achtsioglou zurecht darauf verwiesen, dass die „unerwünschte“ Gesetzesänderung einen positiven Effekt haben kann: Sie stellt die Gewerkschaften vor die Aufgabe, ihren Organisationsgrad zu verbessern und ihre tatsächliche – und nicht nur verbale – Schlagkraft zu erhöhen.

Das ist in Zeiten der Krise schwierig genug, da sich die Probleme der Arbeiterklasse auf eine ganz andere Ebene verschoben haben. Die nach wie vor dramatischen Arbeitslosenzahlen sind nur die sichtbare Seite der Kalamität. Weitgehend unsichtbar bleibt, was sich hinter dem Anstieg der Beschäftigungszahlen verbirgt: Das dramatische Anwachsen eines Niedriglohnsektors auch bei fester oder voller Beschäftigung, begleitet von erpresserischen Praktiken der Arbeitgeberseite.

Niels Kadritzke ist Journalist, Soziologe und Autor. Er zählt zu den profiliertesten Griechenland- Kennern hierzulande. Der Text erschien auch auf seinem Blog bei der deutschen Ausgabe von  „Le Monde diplomatique“.


7. Auswertung der Antwort der Bundesregierung (PDF) vom 29.06.2018 auf die Kleine Anfrage „ESM-Griechenlandprogramm – Abschluss und Bilanz“ (BT-Drs. 19/2781) von Fabio De Masi u.a. und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

Im August 2018 läuft das dreijährige Anpassungsprogramm des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) für Griechenland aus. Die Eurogruppe vom 21. Juni 2018 bzw. der Europäische Rat vom 29. Juni 2018 einigten sich auf den Abschluss des Programms, letzte Auszahlungen sowie schuldenerleichternde Maßnahmen. Die Entschlüsse der Eurogruppe wurden ebenfalls am 29. Juni 2018 auf Antrag des BMF im Bundestag gebilligt.

Insgesamt wird Griechenland seit 2010 in drei aufeinander folgenden Programmen 289,2 Mrd. Euro an Kreditauszahlungen erhalten haben. Bis zu 95% bisheriger Auszahlungen flossen dabei in den Schuldendienst und stützten somit mittelbar den Bankensektor in- und außerhalb Griechenlands (www.esmt.org/where-did-greek-bailoutmoney-go).

Die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Griechenland-Programme waren verheerend. So stieg die Staatsverschuldung weiter an während Einkommen einbrachen und Arbeitslosigkeit sowie Armut explodierten. Die Antwort liefert neue Daten zu stark gesunkenen Investitionen sowie Gesundheits- und Bildungsausgaben. Sie zeigt überdies das Scheitern der Privatisierungspolitik, bei der lediglich 10 % der erwarteten Summen erlöst wurden.

Das Überschuldungsrisiko Griechenlands bleibt sehr hoch, nach Annahmen des Internationalen Währungsfonds weit über den Grenzwerten der Schuldentragfähigkeit. Die Nachprogrammüberwachung hält Griechenland nach Angaben der Bundesregierung für die nächsten 30 Jahre unter verstärkter Kontrolle der EU-Institutionen.

Dazu erklärt Fabio De Masi, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag:

„95% der Griechenland Kredite flossen in den Schuldendienst. Auch an deutsche Banken. Griechenlands Privatisierungserlöse sind ein Bruchteil der Troika-Prognose. Die Privatisierung öffentlicher Vermögenswerte in einem depressiven Umfeld ist wie Räumungsverkauf. Die Gesundheitsausgaben wurden binnen acht Jahren halbiert, die Bildungsausgaben um ein Viertel gekürzt. Die Nachprogrammüberwachung gilt bis zur Rückzahlung von 75% der Kredite bzw. etwa 30 Jahre. Das ist das Doppelte einer Merkel-Kanzlerschaft. Die Kürzungspolitik hat zum Einbruch der öffentlichen wie privaten Investitionen geführt. So kann weder Strukturwandel, noch Abbau der Staatsverschuldung oder notleidender Kredite im Bankensektor gelingen. Die Schuldenanalyse von Berlin und Brüssel ist ein schlechter Witz, um ein absurdes Kürzungsprogramm zu rechtfertigen. Bereits 0,2 Prozent weniger Wachstum als unterstellt führt zum Kollaps der Prognose. Und dies bei permanenten Haushaltüberschüssen vor Zinsen von 1,5 Prozent. Der Offenbarungseid soll hinter die nächste Bundestagswahl verzögert werden.“

Ergebnisse im Einzelnen:

  • Die verheerenden ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Kürzungsprogramme in Griechenland werden durch weiteres Datenmaterial untermauert:
    • Einbruch der privaten und öffentlichen Brutto-Investitionen von 35,8 bzw. 13,6 Mrd. Euro in 2009 auf 14,4 bzw. 8,1 Mrd. Euro in 2017. Dadurch Absinken der Netto-Investitionen von 6 bzw. 5,7 Mrd. Euro auf -9,7 bzw. 1,5 Mrd. Euro. Insgesamt waren private Investitionen seit 2011 konstant negativ, d.h. Substanz wurde aufgezehrt. Staatliche Investitionen waren von 2011 bis 2014 und in 2016 negativ (Frage 28).
    • Halbierung der öffentlichen Gesundheitsausgaben von 16,2 Mrd. Euro (6,8% des BIP) in 2009 auf 8,6 Mrd. Euro (4,9% des BIP) in 2016.
    • Rückgang der öffentlichen Bildungsausgaben von 9,8 Mrd. Euro in 2009 auf 7,5 Mrd. Euro in 2016.
    • Bankeinlagen von Unternehmen und privaten Haushalten sind aufgrund der Wirtschaftskrise sowie der Unsicherheit im Finanzsektor Ende 2017 jeweils ca. auf der Hälfte des Niveaus von 2009 (37,1 Mrd. Euro –> 20,3 Mrd. Euro sowie 197,4 Mrd. Euro –> 104,3 Mrd. Euro) (Frage 21).
    • Starker Anstieg der Zwangsversteigerungen von Wohnimmobilien von ca. 500 pro Jahr auf 4349 zwischen November 2017 und Mai 2018 nach Umsetzung des von den Institutionen verlangten elektronischen Auktionsverfahrens.

Bereits in Fragestellungen integriert wurden folgende relevante Zahlen:

    • Anstieg der Staatsschuldenquote gemessen am BIP zwischen 2009 und 2017 von 126,7% auf 178,6% (Quelle: Europäische Kommission, Frühjahrsprognose 2018) (Frage 4).
    • Absinken des jährlichen durchschnittlichen BIP von 21 012 Euro in 2009 auf 16 133 Euro in 2016 (Quelle: Eurostat) (Frage 29).
    • Anstieg der Erwerbslosenquote von 9,6% auf 21,5% zwischen 2009 und 2017 (Quelle: Eurostat) (Frage 34).
    • Anstieg der Jugenderwerbslosenquote von 25,7% auf 43,6% zwischen 2009 und 2017 (Quelle: Eurostat) (Frage 35).
    • Anstieg der der Armutsgefährdungsquote von 27,6% auf 35,6% (bzw. von 16,2% auf 42,4% unter Annahme konstanter Armutsschwellen) zwischen 2009 und 2016 (Quelle: Eurostat) (Frage 39).
    • Anstieg der notleidenden Kredite von 12,6 Mrd. Euro (7,0% des Bruttokreditbestands) in 2009 auf 103,8 Mrd. Euro (45,6% des Bruttokreditbestands) in 2017 (Quelle: IWF Financial Soundness Indicators, FSI) (Frage 20).
  • Das Überschuldungsrisiko Griechenlands ist trotz der begrenzten Schuldenerleichterungen, die durch die Eurogruppe am 21. Juni 2018 beschlossen wurden, beträchtlich. Unter den Annahmen des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist auch für die Zukunft von einer signifikanten Überschuldung auszugehen (Fragen 6 & 7).
  • Auch nach Ende des ESM-Programms am 20. August 2018 wird Griechenland in nennenswertem Ausmaß den Bedingungen der Eurogruppe unterworfen sein:
    • So ist ein beträchtlicher Teil der Schuldenerleichterungen an die Umsetzung weiterer Kürzungen bzw. Strukturreformen in der Zukunft gekoppelt (Frage 9, vgl. auch BT- Drucksache 19/2961 BMF Antrag Abschluss ESM-Programm).
    • Griechenland wird bis zur Rückzahlung von 75% der europäischen Kredite unter verstärkte Überwachung der Europäischen Kommission gestellt (Frage 11 & 12). Dies ist mindestens bis ca. 2050.
  • Auch Deutschland hat finanziell von den Griechenland-Programmen profitiert und zwar in Höhe von über 3 Mrd. Euro. Ein Teil dieser Gewinne soll an Griechenland rücküberwiesen werden, allerdings nicht in vollem Umfang (Frage 13).
  • Die Privatisierungserlöse im Rahmen der Griechenland-Programme sind um ein Vielfaches geringer, als die Vorgaben bzw. Schätzungen. Im ersten Griechenland-Programm betrugen die prognostizierten Erlöse 50 Mrd. Euro zwischen 2011 und 2015. Real wurden zwischen 2011 und 2017 lediglich 5,1 Mrd. Euro eingenommen (Frage 17).
  • Ein Großteil der an Griechenland ausgezahlten Kredite wurde zur Tilgung alter Schulden genutzt (Frage 16). Hier ist ggf. eine weitergehende Analyse im Vergleich mit vorherigen Studien (www.esmt.org/where-did-greek-bailoutmoney-go) nötig, nach denen bis zu 95% der Programmmittel dem Schuldendienst zugeführt wurden.
  • Zu etlichen Wirkungszusammenhängen bei den Griechenland-Programmen verfügt die Bundesregierung überdies über keine Informationen bzw. Analysen obwohl sie im Rahmen der Verhandlungen immer wieder auch auf konkrete Einzelmaßnahmen gedrungen hat:
    • Keine Informationen zum starken Anstieg der Staatsschuldenquote (Fragen 4 & 5).
    • Keine Informationen zum (rezessiven) Effekt der Griechenland-Programme auf Binnennachfrage und BIP (Fragen 27 & 29).
    • Keine Informationen zum Zusammenhang der Griechenland-Programme mit dem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit sowie der negativen Effekte dieser Anstiege (Fragen 34 bis 38).
    • Keine Informationen zum Zusammenhang der Griechenland-Programme mit dem starken Anstieg der Armutsgefährdung (Frage 39).
    • Keine Informationen zum Zusammenhang der Griechenland-Programme mit den massiven Verschlechterungen bei Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen (Frage 45).
    • Keine Informationen zum (rezessiven) Effekt der massiven Mindestlohnsenkungen bzw. den Auswirkungen dieser Senkungen auf die Armutsgefährdung (Frage 32).
    • Keine Informationen zu den Effekten der Auswanderungswelle von 250 000 (netto) zwischen 2010 und 2015 (Frage 48).
    • Keine Informationen über Preisentwicklungen in Märkten wie Elektrizität und Wasser, die aufgrund von vermeintlichen Ineffizienzen öffentlicher Unternehmen von Privatisierungsauflagen betroffen waren (Frage 19).

Antwort der Bundesregierung (PDF)::: Fabio De Masi, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag

 

 

Quelle: Info: Griechenland, herausgegeben von der common verlagsgenossenschaft e.G. Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

Bildbearbeitung: L.N.