In der aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussion nehmen Klagen der Unternehmerverbände über den Fachkräftemangel breiten Raum ein. Die Warnungen vor Engpässen bei qualifiziertem Personal sind keineswegs neu. Schon am Ende der Finanzkrise, als die Massenarbeitslosigkeit eine Realität und der Fachkräftemangel eine Fata Morgana war, waren diese deutlich zu vernehmen.
Auch aktuell zeigt sich der Bundesagentur für Arbeit zufolge kein flächendeckender Fachkräftemangel in Deutschland. Belegt sind allerdings Engpässe in einzelnen technischen Berufsfeldern, in Bauberufen sowie in einigen Gesundheits- und Pflegeberufen (Bundesagentur für Arbeit 2017c). Angesichts des Umstandes, dass zudem die Erwerbsbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten deutlich zurückgehen wird (Brenke /Clemens 2017; Fuchs / Söhnlein / Weber 2017), haben die Unternehmerverbände ihre Kampagne nochmals intensiviert. Verbände und Unternehmen zeichnen ein mittlerweile dramatisches Bild vom Fachkräftemangel, obschon die Bundesagentur für Arbeit halbjährlich einen präzisen und detaillierten Bericht zu Engpässen am Arbeitsmarkt herausgibt (Bundesagentur für Arbeit 2017c). Daneben gibt es eine Reihe von Schätzungen (Bargel 2018) oder gar Prognosen (Korn Ferry 2018), die die wirtschaftlichen Kosten des Fachkräftemangel kalkulieren. Ergebnis sind dabei regelmäßig horrende Milliardenbeträge an vermeintlichen Verlusten, die lediglich zum Ausdruck bringen, dass einige Unternehmen und Branchen die Kapazitätsgrenze erreicht haben.In der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte nehmen Klagen der Unternehmerverbände über den Fachkräftemangel breiten Raum ein. In diesem Kontext befasst sich das vorliegende Papier mit den einschlägigen Studien des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) zum Fachkräftemangel in der Bundesrepublik. Auf der Basis amtlicher Daten wird erstens gezeigt, dass die Angaben des DIHK zur Verbreitung des Fachkräftemangels aufgrund einer fehlenden Gewichtung widersprüchlich und deutlich überhöht sind. Weder können derzeit 48 Prozent der Unternehmen offene Stellen längerfristig nicht besetzen, noch gibt es 1,6 Millionen offene Stellen. Zweitens wird die Behauptung des DIHK, der Fachkräftemangel sei gerade in Branchen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen (Leiharbeit, Gastgewerbe, Straßengüterverkehr, Sicherheitswirtschaft) verbreitet, zurückgewiesen.
Dieses Papier enthält harsche Kritik an einigen Studien des DIHK.
Das verlangt nach einer Einordnung.
Erstens gibt es einen Bereich, in dem diese Studie mit den vom DIHK vertretenen Ansichten übereinstimmt. Es wird nicht bestritten, dass in Deutschland in einzelnen technischen Berufsfeldern, in Bauberufen sowie in Gesundheits- und Pflegeberufen ein Mangel an Fachkräften besteht. Außerdem dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass in den kommenden Jahrzehnten eine Einwanderung von Fachkräften durchaus wünschenswert ist.
Allerdings sind die Studien des DIHK Teil einer Fachkräfte-Kampagne von Verbänden und Unternehmen, die das Problem des Fachkräftemangels über Gebühr aufbauscht, um das Einwanderungsrecht in sehr einseitiger Weise an die Interessen von Arbeitgebern in Niedriglohnbranchen anzupassen. Die Studien des DIHK sind dafür ein gutes Beispiel. In diesem Kontext hat das Papier zunächst einmal gezeigt, dass der vom DIHK diagnostizierte Fachkräftemangel in dieser Form nicht existiert. Weder können derzeit 48 Prozent der Unternehmen offene Stellen längerfristig nicht besetzen, noch gibt es 1,6 Millionen offene Stellen.
Es ist auch nicht so, dass der Fachkräftemangel gerade in jenen Branchen besonders verbreitet ist, in denen die Qualifikationsanforderungen eher gering sind. Diese Branchen weisen lediglich eine hohe Personalfluktuation auf, was sich in einer vergleichsweise hohen Zahl offener Stellen niederschlägt, aber keinesfalls einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften indiziert. Auf der Grundlage von Daten des DIHK konnte vielmehr gezeigt werden, dass die Klagen der Unternehmer in diesen Branchen über den Fachkräftemangel ein Ausdruck ihres Bestrebens sind, die Arbeitskosten niedrig zu halten. Der DIHK entspricht diesen Klagen durch politische Forderungen, die geeignet sind, durch Einwanderung die Entwicklung der Arbeitskosten im deutschen Niedriglohnsektor zu dämpfen (DIHK 2018b, S. 29).
Wer aber Ungelernte und Angelernte aus Drittstaaten für einfache Tätigkeiten anwerben will, um den deutschen Niedriglohnsektor zu erhalten, schadet der deutschen Wirtschaft. Sind die Löhne zu niedrig, dann bleiben arbeitssparende und produktivitätssteigernde Innovationen aus oder werden verspätet umgesetzt.
Eine Studie des IAB hat jüngst gezeigt, dass gerade einfache Tätigkeiten in besonderem Maße durch Computer oder computergesteuerte Maschinen ersetzbar sind. Die neue Technik wird aber nur verwendet, wenn sie sich betriebswirtschaftlich lohnt (Dengler / Matthes 2018). In einer Zeit des demographischen Wandels, der Arbeit knapper werden lässt, führt eine Einwanderungspolitik für niedrig Qualifizierte zu falschen Preissignalen, die mittel- bis langfristig Strukturschwächen in der Volkswirtschaft hervorrufen. Gesellschaftlich würde eine solche Einwanderungspolitik die in den kommenden Jahrzehnten wünschenswerte Einwanderung von Fachkräften in den Augen der Menschen diskreditieren.
Aus diesen Gründen laufen die Schlussfolgerungen aus diesem Papier einigen Forderungen des DIHK diametral entgegen:
Erstens sollte die Positivliste weiterhin nach dem etablierten Verfahren erstellt werden. Es gibt – jenseits der in der Engpassanalyse genannten Berufe und Anforderungsniveaus – keinen Arbeitskräftemangel in den vom DIHK genannten Branchen, der nicht aus dem EU-Arbeitsmarkt mit seinen 18 Millionen Arbeitslosen befriedigt werden könnte. Eine Einwanderung von Arbeitskräften aus Ländern außerhalb der Europäischen Union zugunsten des Gastgewerbes, der Leiharbeit, der Sicherheitsdienste und des Straßengüterverkehrs sollte unterbunden werden. Angesichts des Umstandes, dass der DIHK offensichtlich selbst Türsteher als Fachkräfte betrachtet, ist dem Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Detlev Scheele, zuzustimmen, der forderte, dass die Politik bei einem Zuwanderungsgesetz darauf achten solle, dass „wirklich Fachkräfte ins Land geholt werden und keine Ungelernten.“
Zweitens sollten die Gehaltsschwellen zum Erhalt der Blauen Karte der EU für die Einwanderung von Hochqualifizierten aus Drittstaaten nicht gesenkt werden. Wie selbst der unternehmensnahe Sachverständigenrat der deutschen Stiftungen für Migration (2015, S. 36) einräumt, ist das in der Bundesrepublik erforderliche Mindestgehalt von nur 52 000 Euro für eine Blaue Karte besonders niedrig. Überdies gehört Deutschland zu den wenigen europäischen Ländern, die bei Engpassberufen (Ärzte, Naturwissenschaftler, Ingenieure, Mathematiker und IT-Fachkräfte) eine noch niedrigere Schwelle vorsehen. Diese entspricht gegenwärtig Brutto 40 560 Euro im Jahr bzw. 3380 Euro im Monat. Nach dieser Grenze muss eine aus Drittstaaten einwandernde Ärztin also nur ein Gehalt nachweisen, das unter dem liegt, was Ungelernte durchschnittlich im Wirtschaftszweig „Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenmotoren“ monatlich (3652 Euro) verdienen (Statistisches Bundesamt 2018). Die Forderung des DIHK (2018b, S. 29) nach einer Senkung solch niedriger Gehaltsschwellen kann nicht mit dem Verweis auf Berufsanfänger oder kleine Unternehmen in strukturschwachen Regionen gerechtfertigt werden. Sie dient allein dem Zweck möglichst kostengünstiges Personal nach Deutschland zu holen.
Drittens darf es keine weitere Aufweichung des Grundsatzes geben, wonach die Einwanderung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit an das Vorliegen einer Zusage für eine konkrete Stelle geknüpft ist. Auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlev Scheele, betonte in dem oben bereits zitierten Interview die Bedeutung dieses Grundsatzes und forderte, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, bereits einen Deutschtest ablegen und ihre Qualifikationen anerkennen lassen, bevor sie einreisen. Der DIHK (2018b, S. 29) will hingegen die „Zuwanderung zur Arbeitsplatzsuche auch ohne konkretes Jobangebot auf beruflich Qualifizierte“ ausweiten. Die Einwanderer sollen danach für einen Zeitraum bis zu einem Jahr in das Land kommen und zur Sicherung ihres Unterhalts in gewissem Umfang eine Erwerbstätigkeit aufnehmen können. Dies soll es den „beruflich Qualifizierten“ ermöglichen „(…) Berufe kennenzulernen und betriebliche Qualifikationen zu erlernen und bei potenziellen Arbeitgebern unter Beweis zu stellen – z. B. im Gastgewerbe“ (DIHK 2018b, S. 29).
Ziel der DIHK-Forderung ist es offenkundig, zusätzlich zur bedarfsdeckenden Einwanderung mit konkretem Stellenangebot, die Anwerbung arbeitsloser Geringqualifizierter aus Drittstaaten für Arbeiten in einfachen Tätigkeiten zu ermöglichen. Diese sind dann während ihres einjährigen Aufenthalts gezwungen, zur Sicherung ihres Lebensunterhalts in einen Unterbietungswettbewerb mit den bereits Beschäftigten zu treten. Dabei sind sie erpressbar, weil sie gezwungen sind, in den 12 Monaten eine Stelle zu finden – oder das Land zu verlassen. Besonders bedauerlich ist es dabei, dass die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) eine solche Einwanderung von beruflich Qualifizierten ohne konkrete Stellenzusage zu sehr ähnlichen Bedingungen unter dem Namen „Talent Card“ propagieren will (BDA 2015, S. 62, 2017, S. 4). Dies zeigt, wie wichtig der Grundsatz ist, wonach eine Einwanderung aus Drittstaaten zum Zwecke der Arbeitsaufnahme nur bei einer konkreten Zusage für eine Stelle möglich sein darf.
weitere Infos: https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_41_2018.pdf Kontakt Dr. Eric Seils Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung Bild: ard.de