„Es geht nicht um die Frage, ob man für oder gegen eine Umweltpolitik ist, es geht darum, wer diese Politik finanzieren soll. Der ökologische Fußabdruck der zehn reichsten Prozent der Franzosen ist viermal so groß wie jener der 50 Prozent, die zur ärmeren Hälfte des Landes gehören. Es schürt den Zorn, dass Macron bei Letzteren ansetzt, nicht bei Ersteren. [… Die Aktionen] werden von Menschen ausgeführt, die nicht nur so aussehen, als würden sie am Montag wieder Brot verkaufen oder Schüler unterrichten, sondern die das auch tatsächlich tun. […], es sind viele Frauen unter ihnen. Und sollte es sich in Teilen um eine rassistische Bewegung handeln, dann wäre es eine rassistische Bewegung, die Menschen aller Hautfarben offensteht.“ (SZ, 3.12.18)
Ursachen
Die Empörung breiter Bevölkerungsschichten entstand nicht erst in den letzten Monaten, allerdings hat sie in der Amtszeit des „Präsidenten der Reichen“ (wie Macron von der Mehrheit der Bevölkerung inzwischen gesehen wird) noch mal einen gewaltigen Schub bekommen: Er ließ die Vermögenssteuer abschaffen, den Spitzensteuersatz senken, die Sozialabgaben für Unternehmen um 40 Mrd. € senken, das Wohngeld einfrieren usw. Vor Wochen wurde dann auch noch bekannt, dass etwa 500 Mio. € aus der vorgesehenen Erhöhung der Treibstoffsteuer zum Stopfen der Haushaltslöcher vorgesehen sind, die durch die Senkung der Reichensteuer entstehen. Mit Maßnahmen gegen den Klimawandel hat die Erhöhung der Treibstoffpreise also rein gar nichts zu tun, zumal gleichzeitig vorgesehen ist, mindestens 9000 weitere Schienenkilometer abzubauen. So wird auch weiterhin das Kerosin für den extrem klimaschädlichen Flugverkehr nicht besteuert, immer mehr Lastverkehr wird von der Schiene auf die Straße verlagert usw. Noch viel dramatischer als in Deutschland ist der Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Politik der Herrschenden. Auch hier haben Rassist*innen einen bedeutsamen Teil des Unmuts auf ihre Mühlen lenken können. Die Bewegung „Frankreich, steh auf!“ und das Rassemblement National (vormals Front National) versuchten frühzeitig, sich an die Gelbwestenbewegung anzuhängen. Aber sie bestimmen nicht das Gesamtbild, vor allem unterstützen sie nicht den umfassenden Forderungskatalog der Demonstrant*innen, die in ihrer großen Mehrheit gerade nicht die Migrant*innen für ihre Probleme verantwortlich machen, sondern die Regierung.
In Frankreich sinkt aufgrund der rabiaten Regierungspolitik (nicht erst seit Macron) noch mehr als bei uns der Lebensstandard für große Teile der Bevölkerung (für manche sogar dramatisch). Und der seit vielen Jahren sich steigernde Hass auf „die da oben“ hat mit dem Aufruf zu Straßenblockaden mehr als ein Ventil gefunden. Hier eröffnete sich auf einmal die Gelegenheit, es denen da oben zu zeigen und Druck auszuüben. Die große Beteiligung stärkte das Selbstbewusstsein, nicht nur bei den vielen, die jetzt zum ersten Mal politisch aktiv wurden.
Ablehnung, „vertreten“ zu werden
Vor allem der vollkommene Vertrauensverlust in politische Parteien veranlasst die Aktivist*innen dieser Bewegung, keiner Organisation ein Verhandlungsmandat zu geben. Auch die Erfahrung mit der weitgehend wirkungslosen Politik der großen Gewerkschaftsverbände (vor allem der CGT und der CFDT) hat zu einer gewissen Organisationsfeindlichkeit beigetragen. Das ist verständlich, denn die Gewerkschaften haben mit ihren Latschdemos weder die Rentenkürzungen noch sonstige Verschlechterungen verhindert (wirksame Streikbewegungen wurden von den Vorständen gar nicht erst versucht). Und zu allem Überdruss führte die CGT am 1. Dezember ihre eigene, gesonderte Demo (für bessere Erwerbslosenrechte) durch. Mit der CFDT wandte man sich gegen „alle Formen von Gewalt, mit denen die Forderungen zum Ausdruck gebracht werden“, ohne aber die brutale Gewalt der Repressionskräfte anzuprangern, die z. B. die neu dazugestoßenen Schüler*innen rücksichtslos niederknüppeln.
Perspektiven?
Zum Glück hat sich eine Reihe von örtlichen Gewerkschaftsgliederungen (Toulouse, Nantes usw.) demonstrativ für die Unterstützung dieser Bewegung ausgesprochen und ist auch aktiv beteiligt. Vor allem die SUD-Gewerkschaften sind engagiert und versuchen, die Gelbwesten mit den schon existierenden Bewegungen zusammenzubringen: Pfleger*innen in den Krankenhäusern, die Beschäftigten der Bahn, die Beschäftigten der von Schließung bedrohten Betriebe (Ford usw.). Bisher hat die Bewegung schon Beträchtliches erreicht, mehr als alle Routineaktionen der Gewerkschaften oder die Aufrufe linker Parteien (einschließlich der France insoumise von Mélenchon). Aber wenn es weitergehen soll als die Rücknahme von bestimmten Steuererhöhungen, dann muss die Bewegung ihre Selbstorganisation deutlich verbessern. Es müssen örtliche Entscheidungsstrukturen gebildet werden, kombiniert mit einem Delegiertensystem für Versammlungen auf überregionaler Ebene. Eine demokratische Strukturierung (also mit jederzeitiger Abwählbarkeit) ist die Voraussetzung, dass weder selbsternannte und medial hofierte „Führer*innen“ noch hinter den Kulissen operierende undurchsichtige Gruppen die Richtung bestimmen. Die Bewegung als Ganzes (in demokratisch funktionierenden Versammlungen) muss darüber befinden, wo es lang geht, was gefordert wird, ob und ggfs. wie verhandelt wird und dies möglichst in aller Öffentlichkeit und nicht hinter verschlossenen Türen.
Jakob Schäfer (Forum gewerkschaftliche Gegenmacht, Wiesbaden) http://www.labournet.de/gewlinke/ Bild: Von KRIS AUS67 - gilets jaune drapeau bbr sur les champs elysees nov 2018, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74826433