Es bedarf keiner besonderen Anstrengung, um festzustellen, dass die Sozialdemokratie sich sowohl als Partei als auch als Bewegung, in einer tiefen Krise befindet. Dies beweisen die jüngsten Parlamentswahlen in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland in aller Deutlichkeit. Diese Krise lässt sich dabei als Ausdruck von fünf Kernproblemen der Sozialdemokratie deuten, die sich unter anderem im Schwinden einer progressiven Perspektive auf die Europäische Union ausdrücken. Ausgehend von diesen fünf Grundproblemen, plädiert der folgende Aufsatz für die Wiederbelebung des Projektes einer sozialen Demokratisierung der EU.
Fünf Krisenherde der Sozialdemokratie
So fehlt der Sozialdemokratie erstens ein Gesellschaftsentwurf, mit dem sie auf die in den 1970er Jahren einsetzende vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus hätte reagieren können.[1] Aus ihrem Abschied vom Traditionsmarxismus der Zweiten Internationale in den 1950er Jahren folgte auch im Zuge der Revolte von 1968 keine Erneuerung ihrer materialistischen Gesellschaftsanalyse. Vielmehr versucht sie seither als Volkspartei mit konservativen Kräften um die Mittelschichten und das nationale Gemeinwohl zu konkurrieren. Vor diesem Hintergrund gelang es der Sozialdemokratie nicht mehr, eine eigenständige sozialistische Analyse und Perspektive zu entwerfen.
Der daraus resultierende Verlust ihrer theoretischen und sozialen Basis sollte sich zweitens, im Verlauf der 1990er Jahre mit verheerenden Konsequenzen im neoliberalen Wandel der westeuropäischen Sozialdemokratie zu New Labour niederschlagen. In der Folge versäumte sie es, die Weichen für eine Vereinheitlichung der Arbeiter_innenbewegung in Europa zu stellen, die auf eine gemeinsame Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zielt. Im Gegenteil: Unter Gerhard Schröder hat die SPD mit der Agenda 2010 vielmehr die Abwärtsspirale im nationalen Konkurrenzkampf um die Deregulierung des Arbeitsrechts und der Sozialleistungen in Europa mitbefeuert.
Die auch darum bis heute meist national geführten Arbeitskämpfe sind drittens häufig mit einem hochgradig konzentrierten Kapital konfrontiert, sodass sie auf staatliche Interventionen zur Unterstützung angewiesen sind. Aufgrund der daraus folgenden Integration der Gewerkschaftsforderungen in die nationalen Staatsapparate, stellt sich vielen Arbeiter_innen und Angestellten die Frage, wozu es überhaupt noch Gewerkschaften braucht. Dieser Umstand wirkt sich verheerend auf die Identifikation der Gewerkschaftsmitglieder mit ihren Interessenvertretungen und schließlich auch auf deren Mitgliedszahlen aus.
Auch aus diesen Gründen hat sich viertens bis heute keine schlagkräftige, einheitliche und solidarische Arbeiter_innenbewegung auf europäischer Ebene, die für eine Anhebung des Lohn- und Lebensniveaus im gesamten Euroraum streitet, etablieren können. Zwar ist mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund und dessen etwa 60 Millionen Mitgliedern seit den 1970er Jahren potenziell eine Grundvoraussetzung hierfür geschaffen worden. Doch erreicht der Europäische Gewerkschaftsbund kaum eine breitere Öffentlichkeit, geschweige denn, dass ihre Kampagnen in europaweiten Aktionen münden. So konnte auch der Gewerkschaftsbund den – in der Krise ab 2008 offen zutage tretenden – Ungleichzeitigkeiten nationalökonomischer Akkumulation keine sozialdemokratische und sozialistische Kraft auf europäischer Ebene entgegen stellen.
Darum auch war die europäische Sozialdemokratie infolge des Krisenausbruchs von 2007 fünftens nicht in der Lage, gegen die europäische Austeritätspolitik eine substanzielle Alternative zu formulieren; ihr fehlte schlicht die soziale Basis. Kraft- und perspektivlos blieb selbst den an den Regierungen beteiligten sozialdemokratischen Parteien wenig anderes übrig, als bloß rhetorisch gegen die autoritäre Krisenbewältigung zu opponieren. Schlimmer noch: Sie hat über weite Strecken tatenlos dabei zugesehen, wie sich die sozialistischen Bewegungen in einzelnen Staaten wie Griechenland, Spanien und nun auch Frankreich erschöpften.
Die aus diesen Krisenherden resultierende Implosion des sozialistischen und sozialdemokratischen Lagers, hat die Linke heute in eine Sackgasse geführt.
Für die Idee einer sozialen Republik Europa
Auf diese Krise der Sozialdemokratie müsste nun die progressive Linke mit einem Entwurf für die soziale Demokratisierung der Europäischen Union antworten. Dieser Entwurf müsste dabei einerseits in einer theoretischen Erneuerung der materialistischen Gesellschaftstheorie und andererseits in der praktischen Belebung der fragmentierten europäischen Arbeiter_innenbewegung bestehen. Gegenstand der progressiven Politik sollte die Forderung nach einer gemeinsamen sozialen europäischen Fiskal-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sein. Im Zentrum eines solchen Entwurfs muss dabei das Ziel stehen, die Republik Europa mit dem EU-Parlament als souveränem Träger des sozialen Fortschritts in einem System pluralistischer Gewaltenteilung zu begründen.[2]
Damit jedoch ein solcher Entwurf die nötige Durchsetzungskraft bekommt, braucht es einen verbindlichen transnationalen Schulterschluss progressiver sozialistischer und sozialdemokratischer Kräfte.[3] Es bedarf heute einer im Kern bereits transnational angelegten sozialistischen und sozialdemokratischen Parteigründung. Zudem müsste dazu der Europäische Gewerkschaftsbund innerverbandlich vereinheitlicht und demokratisiert werden, sodass sich ein direkterer Zusammenhang zwischen Mitgliedern und EGB, der nicht erst über den nationalen Gewerkschaftsapparat vermittelt ist, entwickeln kann.
In diesem Zusammenhang kommt es entscheidend auf zwei Voraussetzungen an: Zum einen gilt es die national-keynesianischen und chauvinistischen Flügel innerhalb der sozialdemokratischen und sozialistischen Strömungen zu überwinden; sie stehen einer transnationalen solidarischen Perspektive entgegen. Und zweitens müssen die progressiven Kräfte gegen den in der Linken nach wie vor weitverbreiteten Antisemitismus und Antizionismus opponieren, weil diese eine fortschrittliche Politik verhindern.
Erfüllt sie diese Bedingungen, könnte die Linke mit ihrem Entwurf für eine soziale Demokratisierung der EU von der Krise der Sozialdemokratie aus drei Gründen profitieren. Erstens würde die bis heute national fragmentierte Linke durch einen Schulterschluss an neuer Kampfkraft gewinnen. Denn die Form der national gebundenen Parteien und Gewerkschaften, die bis dato in relativ unverbindlichen Bündnissen international vernetzt sind, hat sich überlebt.
Zweitens erlaubte dieser Entwurf der krisenbedingten Konzentration und Kartellierung des Kapitals auf europäischer Ebene mittels einer demokratisch legitimierten sozialistischen Politik gemeinsam mit der europäischen Gewerkschaftsbewegung zu begegnen. Mit einer aktiven Steuerungspolitik könnte so der binneneuropäischen Ungleichzeitigkeit der Kapitalakkumulation und damit auch der nationalen Fragmentierung der Arbeiter_innenbewegung entgegen gewirkt werden. Gepaart mit einer progressiven Investitionspolitik ließe sich so eine Gegenkraft zu den nach wie vor bestehenden, und sich durch die verheerende Austeritätspolitik verschärfenden, makroökonomischen Ungleichgewichte in Europa entwickeln.[4] Hierin liegt auch ein entscheidendes Mittel gegen die brandgefährliche politische und ökonomische Hegemonie Deutschlands in Europa.
Und drittens bedeutet es den nationalen Rahmen zu verlassen, auch den Rahmen der nationalen Konkurrenz und damit den Rahmen des nationalen Narrativs zu verlassen. Der so verstandene Streit für die parlamentarische Demokratisierung der Europäischen Union könnte die sozialistische und sozialdemokratische Linke wieder in ihre angestammte Rolle als Trägerin des sozialen und demokratischen Fortschritts führen. So – und nur so – kann sie auch dem transnational organisierten aber national fragmentierten völkischen und rechtspopulistischen Block eine starke und besser vernetzte solidarische Kraft entgegenstellen.
Felix Sassmanshausen ist ein Politikwissenschaftler aus Leipzig. Der Beitrag stammt aus der November-Ausgabe 2017 des *prager frühling. Die gesamte Ausgabe zur Krise der Sozialdemokratie gibt’s hier. Weitere Infos: https://www.prager-fruehling-magazin.de
Literatur
[1] Vgl. hierzu Gekaufte Zeit des Soziologen Wolfgang Streeck.
[2] Vgl. zum Modell einer Republik Europa Ulrike Guerot Warum Europa eine Republik werden muss! Allerdings halte ich ihr Modell Europa der Regionen für einen wenig fortschrittlichen Ansatz. Hierzu wären alternative föderalistische Modelle zu diskutieren, die nicht auf identitären Formen der Zugehörigkeit beruhen.
[3] Hierzu wird gerade in der jungen und wenig etablierten Democracy in Europe Movement 25 eine lebhafte Debatte geführt (http://diem25.org).
[4] Rainer Trampert hat mit seinem Verweis auf das Marxsche Bonmot, wonach Kapital nur akkumuliert, wo auch Kapital ist, durchaus Recht. Er verweist damit auf die objektive Tendenz zur ungleichzeitigen und ungleichgewichtigen Entwicklung des Kapitalismus. Dennoch ließe sich zu dieser allgemeinen Tendenz mittels einer sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegung zumindest eine Gegentendenz entwickeln. Vgl. hierzu Rainer Trampert Europa zwischen Weltmacht und Zerfall.