Eine soziale Wende ist überfällig

Von Christoph Butterwegge

Durch die Bundesrepublik verläuft ein Riss, der sie in Arm und Reich, aber auch sozialräumlich in wohlhabende und abgehängte Regionen, Kommunen und Stadtviertel teilt. Während die Einkommensschwachen, GeringverdienerInnen und Transferleistungsbezieher in die Hochhausviertel am Rand der Großstädte abgedrängt werden, ziehen die materiell Bessergestellten in gute oder in geschlossene Wohnviertel (gated communities). Hier entsteht eine Parallelwelt der Privilegierten und dort eine Parallelwelt der Unterprivilegierten, worunter der gesellschaftliche Zusammenhalt stark leidet.

Die sozioökonomische Ungleichheit spiegelt sich nicht bloß in der Klassen- und Schichtstruktur wider, sondern schlägt sich auch in der Stadt-, Regional- und Raumstruktur unserer Gesellschaft nieder, wiewohl von lokalen Traditionen und manchen Besonderheiten gebrochen und durch andere Einflussfaktoren modifiziert. Denn die sozioökomische beziehungsweise Klassenlage eines Menschen manifestiert sich auch in der Art seines Wohnens wie seines Wohnumfeldes. Sie entscheidet nicht bloß über seinen Lebensstandard, seine Konsummöglichkeiten sowie seine geografische Mobilität und berufliche Flexibilität, weil Einkommen und Vermögen dafür ausschlaggebend sind, was er sich leisten kann; das Quartier, in dem er wohnt, determiniert umgekehrt vielmehr auch seine Aufstiegschancen.Eine neoliberale Standortpolitik, die der Kapitallogik folgt, schafft auf der einen Seite glamouröse Schaufenster des Konsums („Räume der Sieger“) und auf der anderen Seite vernachlässigte Wohnquartiere („Räume der Verlierer“), die kaum noch etwas miteinander zu tun haben. Von ernsthaften Anstrengungen zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Art. 72 Abs. 2 GG), die seit der Vereinigung einen Verfassungsauftrag bildet, nachdem vorher gar die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ gewahrt werden sollte, kann hierzulande keine Rede sein. Ost- und Westdeutschland, Süd- und Norddeutschland, Stadt und Land sowie die Großstädte selbst driften in einer für die Wohlstandsentwicklung und die Demokratie schädlichen Weise auseinander. Wenn die Infrastruktur vieler Dörfer verfällt, junge Menschen von dort in die Städte ziehen und Alte kaum noch Arztpraxen, Läden und Buslinien vorfinden, während die Metropolen boomen, so hat auch diese Form der wachsenden Ungleichheit mit den Produktions- und Verteilungsverhältnissen zu tun. Denn sofern Betriebe an der Peripherie geschlossen werden, weil Großinvestoren die von ihnen erwirtschaftete Rendite nicht reicht, schwindet die Kaufkraft im regionalen Rahmen ebenso wie aufgrund sinkender Reallöhne, geringer als früher ausfallender Zugangsrenten oder fehlender öffentlicher Investitionen, was die beschriebenen Folgen zeitigt.

Ursachen von Wohnungsnot und Mietenexplosion

Die gegenwärtige Wohnungsmisere und der „Mietenwahnsinn“ sind ebenso wenig vom Himmel gefallen wie prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne, vielmehr durch politische Entscheidungen zugunsten von Kapitaleigentümern, Immobilienkonzernen und Großinvestoren erzeugt worden. So schafften CDU, CSU und FDP zum 1. Januar 1990 das Wohngemeinnützigkeitsgesetz ab. Damit hatte der Staat zum Beispiel genossenschaftlichen Wohnungsbaugesellschaften bis Ende der 1980er-Jahre bestimmte Steuervorteile (Befreiungen von der Körperschaft-, Grunderwerbs-, Gewerbe- und Vermögensteuer sowie Ermäßigungen bei der Grundsteuer) gewährt, sie dafür jedoch zur Beschränkung auf eine Kostenmiete und zur Begrenzung von Gewinnausschüttungen verpflichtet. Vorher preisgebundene Wohnungsbestände gelangten daraufhin auf den Immobilienmarkt, wo es primär um hohe Renditen ging.

Die rot-grüne Koalition befreite Gewinne von Kapitalgesellschaften, die aus dem Verkauf von Tochterfirmen und Aktienpaketen anderer Kapitalgesellschaften resultierten, kurz nach der Jahrtausendwende von der Körperschaftsteuer – eines der größten Steuergeschenke an die Unternehmen überhaupt. Konzerne wie der 1999 durch die Fusion der Friedrich Krupp AG Hoesch-Krupp mit der Thyssen AG entstandene Stahlriese ThyssenKrupp konnten sich aufgrund dieser Entscheidung steuerfrei aller Werkswohnungen entledigen konnte.

Parallel dazu wurde das Mietrecht mehrfach liberalisiert und der in Deutschland für Vermieter traditionell relativ strenge Kündigungsschutz gelockert. Die rot-grüne und die erste Große Koalition unter Angela Merkel schufen die rechtlichen Voraussetzungen für neue Geschäftsmodelle, welche im Immobilienbereich zu „Mietmonopoly“ und zum Klassenkampf auf dem Wohnungsmarkt führten. Seit dem 1. Januar 2004 sind auch in Deutschland die in den USA kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Hedgefonds, seit dem 1. Januar 2007 auch die sog. REITs (Real Estate Investment Trusts) gesetzlich zugelassen, welche in den USA bereits 1960 eingeführt wurden. Dabei handelte es sich um steuerbegünstigte Immobilien-Aktiengesellschaften, durch deren Geschäftsmodell sich der Privatisierungsdruck auf öffentliche Wohnungsbestände weiter erhöhte. Erleichtert wurden fragwürdige Immobiliengeschäfte auch durch die Möglichkeit der Share Deals, bei denen pro forma gar keine Wohnungen, sondern Unternehmensanteile verkauft werden, sodass für die neuen Eigentümer keine Grunderwerbssteuer anfällt.

Großstädte wie Dresden haben, dem neoliberalen Zeitgeist gehorchend, teilweise ihren gesamten kommunalen Wohnungsbestand – häufig zu Schleuderpreisen – an US-amerikanische Investmentgesellschaften, internationale Finanzinvestoren und börsennotierte Immobilienkonzerne verkauft, die – wenn sie überhaupt lange gehalten wurden und noch in ihrem Bestand sind – heute damit hohe Profite machen. Seit 2015 gehört der von Deutsche Annington in Vonovia umbenannte Immobilienriese zu den 30 wertvollsten Konzernen, die sich im Deutschen Aktienindex (Dax) befinden. Seine exorbitanten Profite erwirtschaftete das Unternehmen durch Luxussanierungen und Wertsteigerungen seines wachsenden Immobilienbestandes, rüder Methoden der „Entmietung“ und gesetzlich erlaubter Mieterhöhungen von bis zu elf beziehungsweise acht Prozent nach Modernisierungsmaßnahmen.

Da zahlreiche Kapitalanleger nach der globalen Finanz-, Weltwirtschafts- und europäischen Währungskrise weitere Bankpleiten und Börsenzusammenbrüche fürchteten, wurde „Betongold“ immer beliebter. Vermögensverwalter und Finanzkonzerne wie BlackRock & Co. haben als Eigentümer und Vermieter großer Wohnungskomplexe ebenfalls zur Mietenexplosion in deutschen Städten beigetragen. Finanzinvestoren haben fortan besonders gern mit Immobilien spekuliert und diesen für die ganze Bevölkerung existenzwichtigen Lebensbereich noch stärker ihrer Profitlogik unterworfen.

Dagegen leidet der Soziale Wohnungsbau unter einer politisch herbeigeführten Schwindsucht: Mit der am 1. September 2006 in Kraft getretenen Föderalismusreform hat sich der Bund aus diesem Bereich zurückgezogen. Zwar hat er die den Ländern für eine Übergangszeit zugesagten Kompensationsmittel im Gefolge der „Flüchtlingskrise“ 2015/16 schrittweise mehr als verdoppelt, dadurch aber nicht verhindert, dass erheblich mehr Wohnungen aus der Belegbindung herausfielen, als neu hinzukamen.

Vor einer sozialen Wende in der Wohnungspolitik?

Nirgendwo versagt das kapitalistische Wirtschaftssystem so eklatant wie bei der Wohnungsversorgung. Da sich der Markt als unfähig erwiesen hat, eine adäquate Wohnungsversorgung für alle Bevölkerungsschichten sicherzustellen, muss sie als öffentliche Aufgabe begriffen und vom Staat aus Gründen der sozialen Verantwortung für seine Bürger/innen gewährleistet werden, dass niemand wegen seines geringen Vermögens und seines zu niedrigen Einkommens auf der Strecke bleibt.

Die teilweise geradezu skandalösen Zustände auf dem Mietwohnungsmarkt sollten Anlass sein, über eine soziale Wende in der Wohnungspolitik nachzudenken. Da sich Räumungsklagen, Zwangsräumungen und Wohnungsnotfälle mehren, ist die Verankerung eines „Grundrechts auf Wohnraum“ in unserer Verfassung überfällig, für das der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) zu Beginn der 1990er-Jahre in seiner juristischen Dissertation „Das polizeiliche Regime in den Randzonen sozialer Sicherung. Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung über Tradition und Perspektiven zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit“ plädiert hat. Staat und Behörden müssten, forderte Steinmeier damals, per Grundgesetzauftrag „zum Bau und Erhalt preisgünstigen Wohnraums für breite Bevölkerungskreise“ verpflichtet werden, und es dürfe, so Steinmeier weiter, keine Wohnung z.B. wegen aufgelaufener Mietschulden geräumt werden, bevor nicht „zumutbarer Ersatzwohnraum“ zur Verfügung stehe.

Mit einer halbherzigen „Mietpreisbremse“ für Teilwohnungsmärkte, wie sie die zweite Große Koalition unter Angela Merkel zum 1. Juni 2016 eingeführt hat, war das Problem des Wohnungsmangels für Einkommensschwache nicht zu lösen. Wohngeld hilft als Maßnahme der „Subjektförderung“ letztlich weniger bedürftigen Familien als den Eigentümern jener Häuser, in denen sie zur Miete leben, und ist daher eine staatliche Fehlsubvention. Dass sich die Bundesregierung von einer Erhöhung des Wohngeldes, einer Anhebung der Miethöchstgrenzen und der Freibeträge ab 1. Januar 2020 sowie seiner Dynamisierung zum 1. Januar 2022 eine spürbare Verringerung der Armut verspricht, dokumentiert ihre Unfähigkeit, das Problem an der Wurzel zu fassen, also seine strukturellen Ursachen zu bekämpfen.

Wirkungsvoller wäre die sogenannte Objektförderung: Der soziale Mietwohnungsbau, seit den 1980er-Jahren immer stärker eingeschränkt, müsste im großen Stil wieder aufgenommen und zügig vorangetrieben werden, um Geringverdienern, Alleinerziehenden und großen Familien eine angemessene Bleibe zu bieten. Nötig wären eine Wiederbelebung des öffentlichen Wohnungsbaus und eine Wiederherstellung der Wohnungsgemeinnützigkeit, womit die Aktivitäten genossenschaftlicher und kommunaler Wohnungsbaugesellschaften stimuliert würden. Letztlich müssen die Kommunen in die Lage versetzt werden, verstärkt selbst zu bauen, wie das mit den Wiener Gemeindebauten in der österreichischen Hauptstadt seit fast 100 Jahren geschieht.

 

Der Text ist ein redaktionell bearbeiteter Vorabdruck aus Christoph Butterwegges Buch "Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland", das am 20. November im Verlag Beltz Juventa erscheint. 414 Seiten, 24,95 Euro. 

Am Montag, den 2. Dezember, präsentiert Butterwegge sein neues Buch um 19 Uhr im Haus am Dom in Frankfurt am Main. Seine Gesprächspartner: Norbert Walter-Borjans, Kandidat für den SPD-Vorsitz, und Janine Wissler, Fraktionsvorsitzende der Linken im hessischen Landtag. Es moderiert Stephan Hebel von der "Frankfurter Rundschau". 

Der Artikel erschien zuerst auf https://www.kontextwochenzeitung.de/
und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt.