Angela Davis: Are Prisons Obsolete?

Rezensiert von Lara Zieß

Davis ruft zum Abbau diskriminierender Strukturen auf und entwickelt aus antikapitalistischen, antirassistischen und feministischen Perspektiven heraus Alternativen zum bürgerlichen Strafsystem.

Es ist ein Bild, das sich seit einiger Zeit nicht nur in der Landeshauptstadt zeigt: In Parkanlagen, auf öffentlichen Plätzen und selbst in Freibädern trifft man immer häufiger auf Polizeistreifen und private Sicherheitskräfte. Es herrscht Einigkeit beim „Berliner Sicherheitsgipfel“, den die Stadt jüngst ausrichtete: Videoüberwachung, Präventionseinsätze und verstärkter Streifendienst seien unerlässliche Bestandteile, um die Stadt sicher zu machen. Aber was macht uns wirklich sicher?

Mittlerweile ist die Debatte um die Rolle der Polizei in unserer Gesellschaft auch in links-liberalen Kreisen salonfähig geworden; dass hier jedoch, statt die strukturellen Probleme anzugreifen vielmehr um Reformen gerungen wird, sei an dieser Stelle nur eine Randbemerkung. Das bürgerliche Sicherheitsverständnis beschränkt sich dabei nicht nur auf die Polizei, sondern begreift auch das Gefängnis als integralen Teil des Systems – als einen Teil, dessen Existenzberechtigung so gut wie nie in Frage gestellt wird. Jedoch sollte klar sein, dass dort, wo verstärkte Polizeipräsenz herrscht, der Anstieg von Inhaftierungen und der Ausbau von Gefängnissen nicht weit ist. Eine breite Debatte über den Sicherheitsapparat, welche auch das Gefängnis in den Blick nimmt, wird damit immer relevanter.

Das Gefängnis als rassistische Institution

Wie ist also das Gefängnis als Institution im Kontext der Frage nach Sicherheit zu bewerten? Wofür wird es gebraucht? Wen schützt es? Und könnten wir auch ohne? Das alles sind Fragen, die Angela Davis in ihrem im Jahr 2003 erschienenen Buch „Are Prisons Obsolete?“ thematisiert. Auch wenn jüngst das erste und das letzte Kapitel auch auf Deutsch vorgelegt wurden (siehe Weiterführende Literatur, Anm. Red.), ist das Buch in seiner Gesamtheit bislang nicht übersetzt. Allerdings ist es als Einstieg für alle Personen, die über grundlegende Englischkenntnisse verfügen und zum ersten Mal ihre Meinung über das Gefängnissystem hinterfragen wollen, sehr gut geeignet, weil es einen allgemein verständlichen Zugang bietet, ohne sich in akademischen Spitzfindigkeiten zu verlieren.

Davis legt ihren Schwerpunkt auf das Gefängnissystem der USA und wie es sich dort entwickelt hat. Dies sollte man im Hinterkopf behalten, will man die Erkenntnisse auch auf Systeme außerhalb der USA anwenden.

Davis rekonstruiert im Hauptteil die Entwicklung der US-Gefängnisse. Dabei zeigt sie zunächst die historische Kontinuität von rassistischen Institutionen in den USA auf: über Sklaverei, Lynchjustiz und Convict Leasing – dem, nach dem Ende des US-amerikanischen Bürgerkrieges, staatlich organisierten und rassistisch motivierten System der Verpachtung von Strafgefangenen als Zwangsarbeiter*innen – hin zur Segregation und schließlich der Masseninhaftierung heute. Schwarze Körper, schreibt Davis, würden seitens Politik und Wirtschaft als Ressource zur Ausbeutung betrachtet. Das habe vor allem die anhaltende systematische Kriminalisierung Schwarzer Menschen seit der offiziellen Abschaffung der Sklaverei möglich gemacht. Diese Herleitung ist einleuchtend argumentiert. Doch dann bringt Davis folgende These: Wenn wir bereits davon überzeugt sind, dass Rassismus die Zukunft unseres Planeten nicht bestimmen darf, und wenn wir erfolgreich argumentieren können, dass Gefängnisse rassistische Institutionen sind, dann kann dies dazu führen, dass wir ernsthaft in Erwägung ziehen, Gefängnisse für überflüssig zu erklären. (S. 25, Übers. LZ)

Diese Aussage weckt den Anschein, es sei gesellschaftlicher Konsens, dass Rassismen nicht zukunftsweisend sein dürfen. Doch war man sowohl zu dem Zeitpunkt als der Band erschienen ist, als auch heute weit entfernt von einem gesellschaftlichen Konsens zur Ablehnung von Rassismus. Davis lässt an dieser Stelle zudem außer Acht, dass Rassismus im Kapitalismus nach wie vor einen Nutzen erfüllt; nämlich, indem er bestimmte Personengruppen kriminalisiert und in widrige Arbeitsverhältnisse – nicht zuletzt auch in Gefängnisarbeit – zwingt.

Ein Blick hinter die Gefängnismauern

Neben den rassistischen Strukturen, die sich in der Institution Gefängnis im Kapitalismus zeigen, ist darin auch das Patriarchat fest verwoben. Dass die Verstrickungen von Klasse, Geschlecht und race im Gefängnis- beziehungsweise Strafsystem besonders intensiv zu spüren sind, zeigt Davis eindringlich: „Das heißt, deviante Männer wurden als kriminell angesehen, während deviante Frauen als geisteskrank eingestuft wurden.” (S. 66, Übers. LZ) Sie schreibt weiter: „Wenn wir hier die Auswirkungen von Klasse und race berücksichtigen, kann man sagen, dass dieses Zusammenspiel bei weißen und wohlhabenden Frauen eher als Beweis für emotionale und mentale Störungen dient, bei Schwarzen und armen Frauen jedoch auf Kriminalität verweist.” (S. 67, Übers. LZ)

Nicht nur reproduziert das Gefängnissystem die Unterdrückungsmuster, denen insbesondere nicht männliche Personen auch außerhalb der Gefängnismauern ausgesetzt sind, sondern treibt diese auf die Spitze. Davis beschreibt, wie insbesondere der sexuelle Missbrauch, den viele inhaftierte Frauen bereits außerhalb des Gefängnisses erleben mussten, entweder mutwillig durch Wärter fortgeführt wird oder dieser durch besonders intime Leibesvisitationen (strip search) sogar offiziell in die Institutionsregeln selbst hineingeschrieben ist.

Der Prison-Industrial-Complex stellt den letzten großen Analysegegenstand des Buches dar. Der Begriff beschreibt die Verquickung von Konzernen, der Regierung, Haftanstalten und den Medien. Davis beschreibt, wie private Gefängnisunternehmen durch Gefangenenarbeit Profit machen und wie der Staat sich davon eine Scheibe abschneidet. Die strukturelle Illegalisierung von migrantischen Personen – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung zum Beispiel durch den sogenannten War on Terror – erzeugt einen „human surplus“ (S. 91) der durch einen Ausbau von Gefängnissen nicht nur verwaltet, sondern auch für einen ökonomischen Nutzen ausgebeutet wird. Diese Erkenntnis sollte auch europäische Leser*innen in Zeiten von verschärften Migrationsgesetzen und einem Ausbau des Polizeiapparates hellhörig machen: Volkswagen, BMW, Miele und die anderen über hundert Unternehmen, die in deutschen Gefängnissen billig produzieren lassen, werden auch hierzulande von höheren Inhaftierungszahlen profitieren.

Abolitionist Alternatives

In ihrem letzten Kapitel zeichnet Davis Zukunftsaussichten. So beschreibt sie, wie ein ausgebautes, kostenloses und inklusives Bildungs- und Gesundheitssystem zusammen mit der Dekriminalisierung von Sexarbeit, Migration und Drogenkonsum nach und nach die Notwendigkeit von Gefängnissen minimieren würden. Damit steht sie in der Tradition eines Abolitionismus von unten, der sich historisch durch Schwarze Massenwiderstände und marxistische Vordenker*innen vom aufklärerischen Abolitionismus als weiße und liberale Bewegung abgrenzte. Davis Aufruf zum Abbau von diskriminierenden Strukturen einerseits und dem Aufbau von neuen Verhältnissen und Produktionsformen andererseits zeigt überzeugend, wie aus antikapitalistischen, antirassistischen und feministischen Perspektiven heraus die Notwendigkeit entsteht, Alternativen zum bürgerlichen Strafsystem zu entwickeln.

Weiterführende Literatur:

Die eingangs erwähnten zwei Kapitel des Buches, die auf Deutsch übersetzt wurden, finden sich in folgendem Sammelband: Loick, Daniel / Thompson, Vanessa E. (Hg.) (2022): Abolitionismus. Ein Reader. Suhrkamp Verlag, Berlin.

 

 

 

 

 

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