Anmerkungen zur Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland

Von einer werktätigen Klasse und ihrer Lage ist dieser Tage sicherlich nicht die Rede. Von den „Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkommen“ allerdings schon, und zwar ziemlich ausführlich. Um die ärmere, unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegende Mehrheit dieser kleinsten ökonomischen Einheiten machen sich 2023 nicht nur Sozialverbände und andere erklärte Freunde der „kleinen Leute“ verstärkt Sorgen; auch in Deutschlands Öffentlichkeit wird anschaulich darüber berichtet und als gigantische Herausforderung beschworen, was die Inflation mit dem durchschnittlich-minderbemittelten Haushälter macht und was sie von dessen Berechnungen in Sachen nachhaltiger Lebensbewältigung übrig lässt.

In derart unsicheren Zeiten gibt es immerhin zwei Gewissheiten. Die erste betrifft das tätige, milliardenschwere Versprechen der Regierung, „die Menschen im Land nicht alleine zu lassen“ mit ihren Problemen des Überwinterns – womit sie zugleich kundtut, woran sie sich alleine messen lassen will. Zweitens können die Betroffenen sich an der oft und gerne wiederholten Gewissheit erwärmen, dass die aktuelle Teuerungswelle einen eindeutigen Schuldigen kennt:

Mit seinem Angriff auf die Ukraine hat Putin unser Gas verknappt und verteuert, sodass unsere gewohnten Kalkulationen mit Heiz- und sonstigen Lebenskosten durcheinandergekommen sind. Dass es dazu gekommen ist, ist jedenfalls eindeutig ihm zur Last zu legen. Er hat schließlich angefangen.

Der einzige Nachteil an solcher Gewissheit über die moralische Kriegsschuld besteht in der Ignoranz gegenüber dem, was alles noch dazwischen passieren muss, damit aus einem russischen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland eine innerdeutsche Inflationsrate von gut zehn Prozent wird. Davon, was das alles dem in unverschuldete Schwierigkeiten gekommenen Haushaltsmitglied über

I. Mein Geld

verraten könnte, ganz zu schweigen.

Damit aus einer materiellen Verknappung des Gases eine Preissteigerung der Ware resultiert, braucht es schon wesentlich mehr als einen bösen Mann im Kreml, der uns keine andere Wahl gelassen hat, als die einträglichen Energielieferbeziehungen mit seinem Reich zu stornieren. Es braucht entsprechend engagierte ökonomische Subjekte, die diese Preise machen. Einkäufer und Spekulanten an den Spotmärkten, die nach ihren Kriterien von Risiko und Rendite operieren, und Ferngasunternehmen, die lohnende Preise für Beschaffung und Weiterverkauf des Gases kalkulieren, warten das wirkliche Auftreten von materiellen Engpässen gar nicht erst ab, sondern nehmen bereits die von der Regierung verkündete Erwartung künftiger, möglicher Mangellagen zum Anlass und Hebel, auf höhere Gaspreise zu spekulieren und besagte Preissteigerung so im großen Stil herbeizuführen. Sie setzen dabei darauf, dass ihre Kundschaft – auf der nächsten Verteilerstufe die örtlichen Versorgungsunternehmen, auf der übernächsten schon die Gesamtheit der ‚Verbraucher‘ aus Privathaushalten, öffentlichen Einrichtungen, Industrie und Handel – die gesteigerten Preise zahlt und ihnen so ihr Geschäft versilbert. Ihnen allen bleibt bei einem derart zentralen Grundstoff schließlich nichts anderes übrig. Manche dieser ‚Verbraucher‘ allerdings, die sich ihrerseits darauf verstehen, gesteigerte Preise nicht bloß abzudrücken, sondern mit ihnen geschäftlich zu kalkulieren, können sich schadlos halten: Sie erhöhen ihrerseits die Preise für all die Waren und Dienstleistungen, mit denen sie ihren Geschäftserfolg üblicherweise erzielen – nicht selten ebenfalls so vorsorglich, dass für sie noch ein netter Zusatzgewinn herausspringt. Heraus kommt eine Preissteigerung nicht nur für Gas und Energieträger, sondern schlechterdings für alles Mögliche. Diese allgemeine Teuerung, ausgedrückt am Kaufkraftverlust des Geldes, also am Verhältnis der nominellen Geldeinheit zur Masse der Zugriffsmacht auf realen Reichtum, den sie repräsentiert, ist als Inflation bekannt. Für diejenigen, die die Teuerung derart ‚durchreichen‘ können, bleibt sie eine bloß nominelle Geschichte; als reale Verarmung bleibt sie bei denjenigen hängen, die die teure Energie bloß „konsumieren“, statt geschäftlich mit Vorschüssen und Rückflüssen zu kalkulieren. Was denen eine doppelte Lehre sein könnte: Erstens erfahren sie auf drastische Art, dass ihr Geld, wenn sie es schon verdient haben, noch Gesetzmäßigkeiten gehorcht, auf die sie keinen Einfluss haben. Von deren Auswirkungen erfahren sie erst im Nachhinein mit ihrem notorischen Güterkorb an der Ladenkasse: Was ihr Geld überhaupt kaufen kann, was es als Zugriffsmacht auf den Reichtum der Bedarfsgüter wert ist, gehorcht den Kalkulationen einer Unternehmerschaft, die in jeder von ihr hergestellten Preiskonjunktur auf ihren Geschäftsnutzen achten kann und achtet.

Damit bekommt die Masse der „Privathaushalte“ und „Verbraucher“ zweitens vorgeführt, wozu ihr Geld-Einkommen wirklich da ist, wofür es nämlich ökonomisch immerzu verplant ist: Es dient der Unternehmerschaft komplett als Massenkaufkraft, die ihr das Geschäft versilbert; derzeit in der Weise, dass sie die gesteigerten Preise für Kleidung, Herd, Lebensmittel usw. bezahlt und so jede Menge Bilanzen trotz Energiepreiskrise rettet. Und zwar so lange, bis es aufgebraucht ist. Kaum ein Euro bleibt da ungenutzt liegen.

Wenn bei Millionen deutscher Haushalte dann am Ende des Geldes immer mehr Monat übrigbleibt, mag zwar jeder verdiente und gleich wieder verausgabte Euro seinen Dienst am Gewinn erfüllt haben, aber ein Problem stellt dieser Engpass schon dar. Vordergründig natürlich zuerst für die Betroffenen selbst, perspektivisch auch für die Konjunktur der Geschäftemacher, die auf die – nun geschmälerte – Massenkaufkraft konkurrierend Anspruch erheben. Das doppelte Problem erkennt auch der deutsche Staat, und zwar zunächst als ein rein quantitatives. Das lässt sich relativ bequem, nämlich mit der hoheitlichen Stiftung von zusätzlicher Zahlungsfähigkeit angehen, die die allgemeinen Preissteigerungen finanziert. Im Ergebnis mag diese Art der Bekämpfung der Inflationsfolgen die Inflation zwar noch weiter anheizen, aber was heißt das schon? Für die Regierung fällt die Rettung „der Menschen im Land“ über den Winter mit der Rettung der Geschäfte deutscher Unternehmen zunächst einmal zusammen; entsprechend gilt das Doppel-Wumms-Prinzip.

Auffällig ist allerdings die gebetsmühlenartige Warnung von Politikern und Wirtschaftsexperten vor einer anderen Option zur Kaufkraftsteigerung, die noch nicht einmal den Staatshaushalt belasten würde. Die Bundesregierung verbittet sich die Unterstützung von gewerkschaftlichen ‚Trittbrettfahrern‘; mit der Warnung vor einer ‚Lohn-Preis-Spirale‘ appelliert sie an die Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten, angesichts allgemeiner Preissteigerungen bloß nicht auf die Idee zu kommen, es allen anderen gleichzutun und am Preis des eigenen Arbeitsangebots etwas drehen zu wollen. Der bürgerliche Verstand kommt an dieser Stelle von seiner Sorge um die quantitative Summe zielsicher auf die maßgebliche Quelle der gesellschaftlichen Massenkaufkraft, auf die Einkommensquelle der „kleinen Leute“ zu sprechen; beinahe so, als wolle er der üblen Nachrede Vorschub leisten, die Verarmung durch Inflation wäre eine Klassenfrage. Wenn die Beschäftigten vor solch unverantwortlichen Ideen gewarnt werden, werden sie jedenfalls an eine ökonomische Besonderheit ihrer Einkommensquelle erinnert, die sie von allen anderen Geldquellen in der Gesellschaft grundlegend unterscheidet: Das Geld, von dem sie leben, erfüllt nicht erst als Konsummittel eine Kapitalfunktion, sondern bereits unter den Umständen, unter denen es verdient wird. Als Lohn bzw. Entgelt stellt dasselbe Geld den gesellschaftlichen Preis der Arbeit dar, welche für die kapitalistische Produktion gewinnträchtiger Güter und Dienstleistungen verausgabt wird und die in dem Maße ertragreicher wird, je weniger für sie zu bezahlen ist. Was sich als Warnung vor einer ökonomischen Kettenreaktion vorträgt, die die Arbeitnehmerseite keinesfalls in Gang setzen darf, auch und gerade weil sie selbst am meisten darunter zu leiden hätte, wenn die Unternehmen so gezwungen wären, ihre Preise zwecks Erhaltung ihres Gewinns abermals zu erhöhen, kennzeichnet in der Sache das Rechtsbewusstsein, mit dem Wirtschaft und Politik Anspruch auf billige Arbeit erheben. Die soll schließlich das Geschäft weiterhin garantieren, und das verträgt in wirtschaftlich schwierigen Zeiten – und wann wären die nicht! – eigentlich keine Lohnerhöhungen. Das ist die dritte Klarstellung, die betroffene Einkommensbezieher der Inflationslage über „ihr Geld“ entnehmen könnten: Was sie als Mittel ihres Lebensunterhalts verwenden, wird seiner Funktion und Größe nach gestiftet und kalkuliert als ein Mittel des Geschäfts. Darauf wird auch und erst recht in „schweren Zeiten“ bestanden: Ihr Lebensunterhalt ist nichts als die abhängige Variable der Kapitalverwertung.

Das lässt sich – Teuerungswelle und Zurückhaltung in der Bezahlung hin oder her – ein moderner, selbstbewusster Arbeitnehmer nicht so schnell nachsagen. Und das muss er auch nicht. Er muss einfach mehr verdienen. Die moderne Arbeitswelt in all ihren Facetten präsentiert sich ihm als eine bunte Reihe von Gelegenheiten genau dazu.

II. Meine Arbeit

1. Gig Economy – ruinöse Freiheit

Am freisten und zugänglichsten sind Angebote, bei denen man sich gar nicht erst einstellen lassen muss, sondern direkt Aufträge aus dem Internet annimmt. Auf extra dafür geschaffenen Vermittlungsplattformen reicht eine kurze Anmeldung und schon wird man pro Auftrag bezahlt. Inserate, Job-Aushänge im Supermarkt und Ähnliches werden überflüssig, denn für eine kleine Vermittlungsgebühr erstellt die jeweilige Plattform eine tolle Zusammenfassung möglicher Aufträge; Ort, Zeit und Bezahlung können sogar an die eigenen Anforderungen angepasst werden. Hier gibt es keinen Schichtplan, niemanden, der auf die Erfüllung bestimmter Stundenkontingente achtet oder starre Arbeits- und Ruhezeiten vorschreibt. Das Geldverdienen ist von allen störenden Regulierungen befreit.

Relativ neu sind die Plattformen für Crowd- und Clickworker. Sie haben Mikrotasks auszuführen, für die keinerlei Kenntnisse erforderlich sind – im Zweifelsfall wird nur ein ausdauernder Zeigefinger benötigt. Sie können von überall und zu jeder Zeit erledigt werden; ganz nebenbei kann man sogar auf dem Klo mit dem Smartphone noch etwas Geld verdienen. Oft ist an der Tätigkeit gar nicht mehr erkennbar, welchen produktiven Nutzen sie eigentlich hat. So müssen auf Fotos Straßenschilder oder Mondkrater markiert, in Geschäften Produkte und Werbeschilder abfotografiert, winzige Textbausteine geschrieben, korrigiert oder ins Computermikrofon eingesprochen werden. Die freien Worker füttern künstliche Intelligenzen mit Abermillionen von ‚Mustern‘, damit die KI sie irgendwann selbst erkennen kann, ermöglichen mit ihrer Handykamera eine kostengünstige Überprüfung gelungener Regalplatzierungen von Produkten im Supermarkt oder generieren ‚content‘ dafür, dass die gigantische Litfaßsäule namens Internet mit Werbung zugeklebt werden kann. So machen sie sich als primitive Hilfsarbeiter für moderne Geschäftsmodelle verdient, die die Digitalisierung so mit sich bringt.

Über das Internet sind die Crowdworker dann auch für das Geschäftsinteresse funktional zusammengefasst und für jedwede Minitasks abrufbar, und zwar ohne dass die ‚Schwarmintelligenz‘ etwas von Grund, Zweck und Zusammenhang ihrer Tätigkeit wissen müsste. Darum kümmert sich die Plattform, die ihre Teildienste dirigiert und zu der Gesamtdienstleistung zusammenfasst, mit der der Auftraggeber sein Geschäft macht. Für die Crowd besteht ihr ganzer Zusammenhang darin, auf derselben Plattform um die Kleinstaufträge für vorgegebene Cent-Beträge zu konkurrieren. Die absolute Voraussetzungslosigkeit ihrer für sich genommen sinnlosen Tätigkeiten trägt das Ihre dazu bei, dass die Plattform über genügend Auswahl an über den ganzen Globus verteilten willigen Hilfskräften verfügt, sie also die angebotenen Cent-Beträge nicht steigern muss. Dieser Macht sind die modernen Arbeiter schlicht ausgeliefert; sie können der Plattform nicht als Belegschaft oder wenigstens halbwegs feste Mannschaft mit etwaigen Forderungen gegenübertreten, kennen einander nicht einmal. Im Ergebnis bleibt dieses Angebot ein minimaler temporärer Zuverdienst; mehr ist solchen Jobs einschlägigen Berichten zufolge trotz größter Anstrengungen gar nicht abzuringen.

Das wird eher auf anderen Plattformen versucht, auf denen Selbstständige eher ‚klassische‘ Dienstleistungen anbieten. Putzfrauen, Möbelpacker, Fotografen und Handwerker bieten dort ihre Dienste an; die Plattform fungiert für sie als Vermittler von allerlei Aufträgen. Der Auftritt auf ihr verbreitet das eigene Angebot in einer Dimension, wie die Gelben Seiten es nie konnten, und schafft so erweiterte Verdienstmöglichkeiten. Genau darin besteht allerdings auch das Problem: Die eigene Dienstleistung steht unmittelbar im Vergleich mit den Myriaden von Mitbewerbern, die genau dasselbe versuchen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Tätigkeiten auch von allerlei sogenannten ‚Non-Professionals‘ angeboten werden. Das verschärft die Konkurrenz und drückt auf den Preis, den man verlangen kann. Das Resultat ist eine zunehmende Prekarisierung ganzer ehemals ehrbarer Berufsstände, der stolze Handwerksmeister und -gesellen nur den ohnmächtigen Appell entgegenzusetzen vermögen: „Hört auf, die Preise kaputtzumachen!“

Die Plattformen können mit diesem Widerspruch ganz gut leben, es ist ja nicht ihrer. Damit sie weiter an ihm verdienen können, präsentieren sie den Selbstständigen die nächsten Sachzwänge ihres Angebots: Die müssen auf der Plattform präsent sein, um an Aufträge zu kommen, was sie nicht nur zur regelmäßigen Zahlung der Servicegebühr, sondern auch dazu veranlasst, alles für eine gute Benotung im plattformeigenen Bewertungssystem zu tun. Im schlimmsten Fall wird nämlich sonst das eigene Angebot vom Plattform-Algorithmus nicht mehr berücksichtigt, das heißt dann ‚fired by algorithm‘; im besseren Fall wird man bei Anfragen ganz oben gelistet. Ein entsprechend sorgfältig gepflegtes Profil stellt nicht nur einen Konkurrenzvorteil für die Auftragsarbeiter dar, auf den sie zunehmend nicht verzichten können, sondern zugleich einen ‚Lock-in-Effekt‘ für die Plattform sicher: Eine Kündigung mit Neuanfang auf einer anderen Plattform kann sich der Selbstständige schlicht nicht leisten und ist entsprechend bereit, alle schrittweisen Verschlechterungen der Geschäftsbedingungen zu akzeptieren.

Beides zusammen – der verspürte Konkurrenzdruck durch Seinesgleichen und die unbedingte Angewiesenheit auf die Gewogenheit des Algorithmus – führt in der Regel zu dem Zwang, schlicht jeden hereinschneienden Auftrag annehmen und jederzeit zur Verfügung stehen zu müssen. So schlägt die große Freiheit, sich selbst einteilen und dabei von allen arbeitsrechtlichen Schranken frei sein zu können, zuverlässig in ihr Gegenteil um. Der deutsche Staat jedenfalls kann sich immer weniger des Verdachts erwehren, dass diese Form der „Selbstständigkeit“ doch ein betrügerischer „Schein“ sein könnte. Und so viel stimmt daran: Die Selbstständigen sind die total abhängige Variable eines Geschäftsmodells, das voll auf ihre Kosten geht.

2. Minijobs u.ä.

Der ruinösen Konsequenz dieser Freiheit kann man aber auch entgehen. Jobs mit Arbeitsvertrag, festem Monatsgehalt, halbwegs regelmäßigen Arbeitszeiten und anderen Arbeitnehmer-Grundrechten bei maximal freier Zugänglichkeit bietet der deutsche Arbeitsmarkt nämlich auch. Wer danach sucht, der findet schnell ein Sammelsurium verschiedenster Mini- und Nebenjobs vor – vom Kellnern über das Bedienen von Supermarktkassen bis hin zu Aushilfstätigkeiten in der Industrie ohne irgendeine spezifische Qualifikation, also maximal flexibel. Die Kehrseite ist nur, dass dieselbe Voraussetzungslosigkeit der Tätigkeit es dem jeweiligen Arbeitgeber ermöglicht, Minijobber frei und je nach temporärem Bedarf wieder zu kündigen bzw. sie von vornherein nur befristet einzustellen – für die nächste Auftragsspitze wird sich dann schon jemand Neues finden. Wer als Arbeitnehmer also nicht die Flexibilität aufbringen mag, auf das feste Einkommen bald wieder zu verzichten, für den wird die Flexibilität bei der Jobauswahl schnell zur leidigen Notwendigkeit.

Dennoch bleibt der Minijob für moderne Arbeitnehmer oft genau das Richtige, erlaubt er doch ein Einkommen, für dessen Erwerb nicht gleich die ganze Woche zur Verfügung stehen muss. Wenn also der größte Teil der Woche mit Studium, Familie oder einem schlecht bezahlten Vollzeitjob ohnehin schon verplant ist, stellt der Minijob eine willkommene Ergänzung dar, die mit nur zehn Stunden in der Woche schon einen Zusatzverdienst ermöglicht. Dieser Ergänzungscharakter ist andererseits gleichbedeutend mit einer Ausweitung des Arbeitsmarktes auf soziale Charaktere wie Studenten, Rentner, Mütter und andere mehr, was jegliche Lohnanreize von Arbeitgeberseite überflüssig macht; mehr als der gesetzliche Mindestlohn wird da nicht bezahlt. Genau so ist es vom Staat auch gedacht: Er fördert die 520-Euro-Jobs, die sich aus der Multiplikation von zehn Stunden pro Woche mit dem aktuellen Mindestlohn ergeben, durch die Befreiung von Steuern und Sozialabgaben und bringt so diesen Sektor erst so richtig in Schwung. Das dort zu verdienende Geld misst definitiv niemand daran, ob damit auch nur ein rudimentäres Überleben zu haben wäre. Was nicht heißt, dass es nicht etliche versuchen – und dann mit staatlicher Grundsicherung ‚aufstocken‘ müssen. Der Minijob bleibt eben darauf festgelegt, bloß die offensichtlich nötige Ergänzung zu lauter anderen Vollzeittätigkeiten zu sein; er macht das Leben von BAföG, Rente, Bürger- und Arbeitslosengeld, dem eigenen Erstjob oder dem Job des Ehepartners oftmals überhaupt erst möglich.

3. Mindestlohn sozialversicherungspflichtig

Für alle anderen bleibt die Herausgabe von mehr Lebenszeit, um mehr zum Leben zu haben. Der deutsche Arbeitsmarkt hält jedenfalls noch eine Vielzahl an unterschiedlichen Angeboten bereit, in Teilzeit mit mehr als zehn Stunden oder sogar in Vollzeit zu arbeiten, teils mit, teils ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Das deckt ein breites Spektrum an Berufen ab, die vom Arbeiten im Lager bis zum gelegentlich beklatschten „Dienst am Menschen“ reichen. Die Bereitschaft, mehr zu arbeiten, wird dort nicht unmittelbar lohnsenkend ausgenutzt, denn der Mindestlohn gilt auch hier und stellt – von als kriminell geahndeten Ausnahmen abgesehen – eine wirkliche Untergrenze der bezahlten Arbeitsstunde im Land dar. So kommen Angestellte mit Mindestlohn ganz ohne Verhandlung oder Arbeitskampf in den Genuss eines nominell regelmäßig steigenden Einkommens. Dass mit den periodisch fälligen politischen Beschlüssen zur Anhebung dieser absoluten Lohnuntergrenze regelmäßig sehr viele Lohnempfänger tatsächlich mehr verdienen als zuvor, zeugt allerdings davon, dass der Mindestlohn nicht bloß Ausreißer nach unten begrenzt, sondern selbst das Lohnniveau eines ganzen Sektors bestimmt – der deshalb auch gleich Niedriglohnsektor heißt. Die Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns ist dort üblich, und auch wenn Arbeitgeber etwas mehr bezahlen, bildet diese Summe ihren selbstverständlichen Bezugspunkt für die Festlegung eines ordentlichen Lohns, weshalb sie es als gutes Angebot bewerben, wenn sie auf den Mindestlohn noch einen oder zwei Euro pro Stunde drauflegen. Eine schöne Auskunft über deren machtvolles Interesse sowie über die Ohnmacht ihrer Angestellten: Die Unternehmer wollen und können so wenig wie möglich für die Arbeit bezahlen und müssen sich dabei im Prinzip bloß noch an den letzten Vorbehalt des staatlichen Machtworts halten.

Überschreiten Arbeitnehmer die 10-Stunden-Schwelle, sind sie zudem sozialversicherungspflichtig. Auf ihre Bereitschaft, für Ausfallzeiten etwas zurückzulegen, verlässt sich der Staat aus gutem Grund nicht; stattdessen verpflichtet er alle Arbeitnehmer bis zu bestimmten Einkommensgrenzen darauf, sich in den für ihre Einkommensquelle typischen Notlagen gegenseitig zu unterstützen: Mit Pflichtbeiträgen, die das verdiente Geld gleich um ein gutes Drittel vermindern, zwingt er sie zu einer Solidarität, auf die sie dringend angewiesen sind. Dass der Staat die Niedrigverdiener in dieses Zwangskollektiv mit eingemeindet, ist für die zunächst eine gute Sache: So wird auch hier für etwaige Ausfallzeiten wie Arbeitslosigkeit oder für die große Pause zum Schluss, die Rente, vorgesorgt. Zu ihrem Pech wird allerdings ebenso auf Leistungsgerechtigkeit bestanden, sodass die Leistungen von Arbeitslosen- und Rentenversicherung streng im Verhältnis zum individuell erzielten Einkommen stehen. Im Versicherungsfall können die Niedrig- und Mindestlöhner von der Kasse deshalb nicht einmal kurzzeitig leben und fallen dann doch in die Grundsicherung, auf die sie ein Bürgerrecht haben. Von den Sozialversicherungen bleibt ihnen im Wesentlichen nur eines: der definitive Abzug vom Lohn.

Erfolgsmeldungen wie die, dass Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor „doppelt so häufig ein Aufstieg in eine höher entlohnte Beschäftigung gelingt wie Minijobbern“ (Bertelsmann Stiftung), zeigen eben auch, dass sich ein Leben in diesem Sektor nicht einmal mit Vollzeitarbeit finanzieren lässt. Wer dort landet, muss zusehen, dass das ‚Sprungbrett‘ nicht zur ‚Sackgasse‘ wird.

4. Die besseren Jobs

a) Jobs mit Tarifvertrag

Wer mit seinem Job nachhaltig ein Leben finanzieren möchte, findet in den Jobbörsen das einschlägige Stichwort „Vergütung nach Tarif“. Heutzutage machen solche Jobs mit Tarifbindung nur noch etwa 50 % der Arbeitsstellen aus und gelten schon alleine deshalb als vergleichsweise attraktiv. Ihre Bezahlung bemisst sich nicht einfach an dem staatlich gesetzten Minimum, sondern wird zwischen der jeweiligen Gewerkschaft und dem Arbeitgeber als gerechtes Verhältnis von Entgelt zu Tätigkeit vereinbart. Hinzu kommen in der Regel Vereinbarungen wie Überstundenzuschläge, Betriebsrenten, spezifische Arbeitszeiten usw. Die höhere Entlohnung macht nebenbei aus den gesetzlichen Sozialversicherungen Institutionen, die bei Arbeitslosigkeit oder im Alter immerhin überhaupt ein – stark eingeschränktes – Leben ermöglichen.

Zu den vergleichsweise besseren, weil gewerkschaftlich beaufsichtigten Arbeitsgelegenheiten gehört zum einen die große Abteilung der Leiharbeit, die mal als anrüchig galt, sich aber nach und nach als veritables Angebot an Arbeitswillige aller möglicher Qualifikationsstufen etabliert hat. Wer sich hier bei einer der Vermittlungsfirmen mit entsprechender „Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung“ bewirbt, die den Unternehmen aus inzwischen allen Branchen für begrenzte Zeiträume und Arbeitsspitzen ihr Personal zuschleusen, muss sich bis auf Weiteres keine Sorgen mehr darum machen, dass die großen Unternehmen ihn nicht fest einstellen wollen. Die Arbeit bei ihnen erledigen – mal hier, mal dort, wo genau, das erfährt er schon rechtzeitig – darf er trotzdem, gemeinsam mit der jeweiligen Stammbelegschaft. Im Prinzip steht ihm dabei auch „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zu. Aber weil das die ganze Leihbranche in die Krise stürzen würde, hat der Gesetzgeber festgelegt, dass er erst einmal zu deutlich niedrigeren Löhnen beschäftigt werden darf – jedenfalls dann, wenn die Arbeitnehmervertreter es tarifvertraglich mit dem ‚Entleiher‘ vereinbaren. Kein Wunder, dass die Arbeitgeber hier gegen eine Tarifbindung nichts einzuwenden haben und die deutschen Gewerkschaften es in diesem Teilbereich der Arbeitswelt entgegen jedem Trend zu einer Tarifbindung von sagenhaften 98 % bringen.

Die andere Hauptabteilung der gewerkschaftlich geregelten Jobs betrifft Arbeitskräfte, die das Glück haben, es in die Stammbelegschaft eines Betriebes mit Tarifbindung geschafft zu haben. Sie können sich endgültig zu den tendenziell Besserverdienenden zählen und stolz darauf sein, richtig was aus sich gemacht zu haben. Allerdings hat auch ein solcher moderner deutscher Arbeitnehmer mit den Bestimmungen seines Tarifvertrages nicht viel zu tun. Bei seiner Einstellung erfährt er, welchen Arbeitsauftrag er hat und auf welche Lohnsumme sich Gewerkschaft und Arbeitgeber längst schon verständigt haben. Im Folgenden wird zu diesen nicht weiter verhandelbaren Konditionen gearbeitet, bis – nicht er, sondern – die zuständige Gewerkschaft beschließt, dass der Tarifvertrag neu verhandelt werden muss. Die Nicht-Organisierten werden aufgefordert, endlich „solidarisch“ zu werden, sich der Gewerkschaft anzuschließen und die eigene Unzufriedenheit im Korrekturbedürfnis der Gewerkschaft aufgehoben zu sehen. Moderne Gewerkschaftsmitglieder erfahren dann bequem per Newsletter, wann und für welche Forderungen sie mit Trillerpfeifen, Warnwesten und Gewerkschaftsfahnen ausgestattet werden, um für einige Stunden lautstark mitzuteilen, wie unzufrieden sie mit ihren Arbeitsbedingungen sind. Auf demselben Weg erfahren sie auch kurz danach, worauf sich ihre Gewerkschaft nun mit dem Arbeitgeber geeinigt hat, welche Lohn- und sonstigen Vereinbarungen also ab sofort gelten. Alle übriggebliebene Unzufriedenheit können und sollen sie sich bitte merken, als guten Grund, dem nächsten gewerkschaftlichen Aufruf in ein paar Jahren wieder Folge zu leisten. Die Subsumtion unter die Direktiven der Gewerkschaft und deren Kompromisse mit den Arbeitgebern ist der Unterschied zu den übrigen Jobs, bei denen sich die Freiheit der Arbeitnehmer in aller Regel in noch schlechteren Arbeitsbedingungen niederschlägt.

b) Fabrikarbeitsplätze

Mit einem tarifvertraglich geregelten Arbeitsplatz in der großen Industrie darf man im Gegensatz zu den vielen modernen Dienstleistern das Gefühl haben, echt was herzustellen. Außerdem ist die Arbeit in der Fabrik mit moderner Maschinerie nicht nur nicht mehr so körperlich fordernd und unmittelbar verschleißend wie früher, sondern auch total produktiv. Schon nach wenigen Stunden rollen tolle Produkte wie emissionsarme Verbrenner vom Fließband, und das gleich massenweise.

Die kurze Herstellungszeit ist allerdings keinesfalls gleichbedeutend damit, dass die produktiver gewordenen Arbeiter sich die tollen Produkte auch schneller leisten können, denn ihr Lohn wächst nicht mit den Produktivitätsfortschritten mit. Genau genommen steht der persönliche Ertrag der Arbeiter aus ihrer Arbeit in überhaupt keinem Verhältnis zu ihrer Produktivität. Wie produktiv die – nicht für sie, sondern für ihr Unternehmen – tatsächlich ist, muss ihnen deswegen noch extra mitgeteilt werden. Das passiert in der Regel in der nützlichen Form eines Vergleichs, was die eigene Schicht im Verhältnis zum Durchschnitt der anderen Schichten zustande gebracht hat. Ein Ansporn des Konkurrenzgeistes, der dem Zweck der Produktion gemäß ist: Die soll schließlich rentabel sein und dafür müssen eben möglichst schnell möglichst viele gewinnbringende Produkte hergestellt werden.

Das heißt für jeden Einzelnen und jede einzelne Belegschaftsgruppe, dass sie auf keinen Fall hinter der Produktivität der anderen zurückbleiben dürfen, sonst kann laut der unternehmerischen Rechnung bei ihnen etwas nicht stimmen. Dann ist der Job schnell in Gefahr. Fehler oder Verzögerungen anderer müssen sie als Team durch Mehranstrengung ausgleichen, das gebietet der Unternehmenserfolg. Der Imperativ der rentablen Produktion gibt den Einsatz der modernen Maschinerie vor, die die Arbeit erst so richtig produktiv macht. In der werden die Ansprüche des Unternehmens an die rentable Arbeit der Belegschaft als quasi-technische ‚Sachzwänge‘ verobjektiviert; entsprechend macht die Maschinerie die Fabrikarbeit nicht entspannter, es soll ja umgekehrt möglichst viel in kurzer Zeit produziert werden. Damit die Produktion keine geschäftsschädigende ‚Stockung‘ erfährt, ist jeder Arbeiter an seinem Platz im Produktionsablauf unablässig damit beschäftigt, einzelne, bis ins kleinste Detail vorgegebene Handgriffe zu erledigen resp. einzelne Maschinen gemäß dem Takt, den diese vorgeben, zu bedienen. Von dem Gesamtzusammenhang ihrer verschiedenen Tätigkeiten, der überhaupt ein nützliches Ding ergibt, brauchen moderne deutsche Arbeitnehmer nichts zu verstehen, am Ende stellen die hochentwickelten, in Reihe geschalteten Maschinen und Roboter den Zusammenhang wie von selbst her. Sie geben der Arbeitsmannschaft vor, an welcher Stelle welche Handgriffe nötig sind, damit am Ende ein Staubsauger oder ein Maschinengewehr herauskommt. Ihre produktive Arbeit wird möglichst auf die Rolle eines bloßen Erfüllungsgehilfen der Vorgaben des Maschinenheers reduziert.

Für den Arbeiter macht das seine Arbeit zu einer Zumutung eigener Art. Stundenlang auf den Monitor oder das Fließband zu starren, sich dabei nicht ablenken zu lassen, sondern konzentriert zu bleiben – und dabei die immer gleichen, auf die Dauer und in der Eintönigkeit körperlich höchst anstrengenden, geistlosen Handgriffe umzusetzen: das verlangt die absurde Leistung, die ganze geistige Aufmerksamkeit einer monotonen, inhaltslosen Tätigkeit zu widmen, also alles an Subjektivität auszuschalten, was die Erfüllung der Anforderung stören könnte. Die Monotonie dauerhaft gegen sich geltend zu machen, das ist die Anforderung dort, wo „echt was hergestellt wird“.

Neben diesen repetitiven und verschleißenden Jobs am Maschinenapparat gibt es in den Fabrikhallen Tätigkeiten, in denen der Arbeitsalltag auch heute noch spannend bleibt, weil die Anforderungen immer etwas anders aussehen. Wenn z.B. die Maschinerie neu eingestellt, schon gleich, wenn sie auf die neue Produktpalette umgestellt werden soll, braucht es qualifiziertere Kräfte, denn für die nötige Einstellung und Kontrolle der Maschinerie müssen die Techniker schon genauer wissen, wie die Maschine funktioniert, wie man sie steuert und repariert. Die höheren Qualifikationsanforderungen führen dann, jedenfalls wenn eine Gewerkschaft sich erfolgreich dafür stark macht, zum Glück der Beschäftigten auch noch zu der angenehmen Abgrenzung gegenüber der gewöhnlichen Fließbandarbeit, dass sie etwas besser bezahlt wird.

Ein wirklich „gesichertes Arbeitsverhältnis“ haben freilich auch diese Fachkräfte nicht. Mit der Einführung neuer Maschinerie erneuern Unternehmer nicht einfach in die Jahre gekommene Maschinen, sondern sparen unter Zuhilfenahme des technischen Fortschritts immer mehr bezahlte Arbeit ein und gestalten die weiterhin benötigte Arbeit so effektiv wie möglich. Mit jeder Umstellung der Produktion und Neuausrichtung ganzer Produktionszweige ist daher eine Fort- und Weiterbildung vonnöten, sodass lebenslanges Lernen kein humanistisches Ideal bleibt, sondern zur Realität der Unterwerfung unter die kapitalistisch eingesetzte Maschine wird. Jedenfalls sofern es die Arbeitskraft dafür noch braucht, was keine ausgemachte Sache ist. Denn der Fortschritt besteht darin, nicht nur viel Fließbandarbeit zu automatisieren, sondern auch vergleichsweise teure Facharbeiten überflüssig zu machen und die Fachkräfte von gestern entsprechend zu ‚dequalifizieren‘. Aus der Aufforderung zur ‚Weiterbildung‘ wird so die Notwendigkeit, sich für einen ganz neuen Job zurechtzumachen. Wer da Pech hat, findet sich dann doch als direktes Anhängsel des Fließbandes, im großen Niedriglohnsektor oder auf der Resterampe der Arbeitslosigkeit wieder.

c) Büro

In Deutschland arbeiten ein Drittel der abhängig Beschäftigten im Büro und nennen sich auch nicht Arbeiter, sondern Angestellte. Das kommt daher, dass im Unterschied zur Fabrik, wo die Menschen körperlich verschlissen werden und bald auch so aussehen, im Büro geistige Tätigkeit gefragt ist. Das macht die Arbeit schon mal zu einer gehobeneren – jedenfalls im Vergleich. An Nettigkeit kommt hinzu, dass die moderne Zeit der kaufmännischen Tätigkeit oder der Verwaltungsbürokratie des öffentlichen Dienstes moderne technische Hilfsmittel zur Seite stellt. Mithilfe von Computern, ‚Office‘ und Co ist die Arbeit viel schneller zu erledigen. Zugleich ist dafür gesorgt, dass die Büroarbeit nie langweilig wird, weil es immer neue Software mit neuen Eingabemasken, eine massive Ausdehnung von standardisierten Formularen u.ä. gibt, die die Schreibtischarbeit noch effektiver machen. Was sie dann wiederum sehr einseitig macht, ist die physische Beschaffenheit des Arbeitsplatzes: Stundenlang vor dem Schreibtisch zu hocken und auf den Bildschirm zu starren schädigt nicht nur die Augen, sondern vereinseitigt die Haltung, was Rückenschmerzen und Co zur Volkskrankheit Nr. 1 in Deutschland macht. Außerdem wird die Arbeit darüber eintönig, dass mit der Einführung der neuen Technik die Tätigkeiten zunehmend auf die Eingabe, Kurzverarbeitung und Ausgabe der Daten reduziert werden. Zum wirklichen Hilfsmittel wird die neue Software damit vor allem für die Belange des Dienstherren: Mit ihr lässt sich die mittlerweile sogar auf die einzelne Arbeitsaufgabe zugeschnittene Leistungserbringung umstandslos überwachen. Zugleich kann sie immer mehr Vorgänge automatisieren, was die Arbeit des Angestellten tendenziell überflüssig macht.

Bleibt der Arbeitsplatz erhalten, sieht er den Fortschritten in diesem Bereich entsprechend aus: Die Selbstständigkeit der bisherigen Aktenarbeit wird zum Feld von potenziellen Arbeitslücken, sog. ‚Freiräumen‘, erklärt, die es zu schließen gilt. Der Arbeitsinhalt wird – in einem digitalen Prozess verobjektiviert – vorgegeben; der Büroangestellte wird zum Lückenbüßer dieses Prozesses. Das kommt Arbeitsexperten bekannt vor:

„Digitale Workflows und Prozesse bestimmen den Arbeitsablauf, geben die einzelnen Arbeitsschritte oftmals minutiös vor und strukturieren die Arbeitsteilung und die Zusammenarbeit mit Kollegen entlang der Wertschöpfungskette. Der digitalisierte Arbeitsgegenstand ,fließt‘ so von Arbeitsschritt zu Arbeitsschritt wie an einem ,digitalen Fließband‘ bis zum Kunden.“ (Neue Formen der Organisation von Kopfarbeit in der digitalen Transformation, Hans-Böckler-Stiftung)

Der Vergleich zum realen Fließband kommt nicht von ungefähr und bringt das Prinzip der Revolutionierung auch dieser Arbeitswelt auf den Punkt: Die Digitalisierung des Büros holt an der Aktenarbeit nach, was bei der Industriearbeit längst vollzogen wird, nämlich die technische Sicherstellung, dass in jeder Arbeitsminute maximale Arbeitsleistung abgerufen werden kann. Für die Unternehmen des Privatsektors, von denen der Fabrikvergleich herrührt, bedeutet auch die Effektivierung dieser Bürotätigkeiten ein verbessertes Verhältnis zwischen den Arbeitskosten und den Geldüberschüssen, für die sämtliche Arbeit im Betrieb eingerichtet wird. Im Falle des öffentlichen Dienstes werden zwar keine Geldüberschüsse erwirtschaftet, aber die Leistungs- und Effizienzsteigerung wirkt auch hier kostensenkend, also im Sinne des Dienstherren.

Von derart effektivierter Arbeit kann es in deutschen Büros dann kaum genug geben. Die Verdichtung der Arbeit heißt jedenfalls nicht, dass im Gegenzug kürzer gearbeitet würde, im Gegenteil: Überstunden gehören zum guten Ton, können zumeist nicht abgelehnt werden, will man nicht negativ auffallen. Die Angestellten haben dann alle Hände voll zu tun, einerseits den Anforderungen gerecht zu werden und anderseits neben ihrer Arbeit noch ihr restliches Leben im Griff zu behalten – Yoga-Kurse gegen die typischen Rückenschmerzen und andere ‚Fehlhaltungen‘ eingeschlossen.4

Viele Arbeitnehmer versuchen erst gar nicht, ihre ‚Work-Life-Balance‘, das Arbeiten und die diversen unbezahlten Notwendigkeiten des Angestelltendaseins, mit einem Vollzeitjob zu bewältigen. Sie nehmen Teilzeitangebote wahr – jedenfalls da, wo sie von der anderen Seite zur Verfügung gestellt werden, also zum Geschäft passen. Die gewonnene Zeit wird mit einem Minus am Einkommen eingekauft, schützt auf der anderen Seite allerdings nicht vor den üblichen Anforderungen an Überstunden, was die Stelle nicht selten doch wieder zur Vollzeitbeschäftigung macht.

Dank der Digitalisierung ist der Bemühung, mit den Arbeitsverhältnissen zurechtzukommen, eine neue Gelegenheit gegeben. Die Angestellten können ihre Arbeit mit nach Hause nehmen und ihre Privatsphäre als Arbeitsplatz nutzen: Homeoffice. Da fallen einerseits die langen Fahrzeiten zur Arbeit und wieder zurück weg, Zeitaufwand für die Arbeit, der aber keine Arbeitszeit für den Unternehmer ist und daher gerechterweise auch nicht bezahlt wird. Andererseits kann die Arbeitszeit geschickt um weitere Notwendigkeiten des modernen Lebens, wie die Zeitfenster für Abgabe und Abholung des Nachwuchses in der örtlichen Kita, herum geplant werden. Arbeitszeitsouveränität meint eben von vornherein nichts anders als das abstrakte Gegenteil der Unmöglichkeit, den verschiedenen Notwendigkeiten des Alltags gleichzeitig gerecht zu werden. Den Arbeitgebern wiederum ist mit dem Wegfall der nötigen Präsenz in der Firma, verknüpft mit den technischen Möglichkeiten der modernen Arbeitswelt, die Gelegenheit gegeben, ihren Anspruch auf den Zugriff auf Arbeitszeit auszuweiten. „Ständige Erreichbarkeit, unbezahlte Arbeit und überlange Wochenarbeitszeiten“, das Verkürzen von Pausen und Ruhezeiten als Anpassung an die „Arbeitsverdichtung sowie … Termin- und Leistungsdruck“ ist Standard in der Arbeit, die „das neue Normal der Arbeitswelt verkörpert“ (Atlas der digitalen Arbeit, Hans-Böckler-Stiftung).

Mustergültig führt die Arbeitswelt der geistigen Tätigkeiten vor, welcher Geist sie beherrscht. Die Arbeit folgt einem schlichten Prinzip: so viel Leistung in so wenig bezahlter Arbeitszeit wie möglich. Für das Anhängsel, den modernen Angestellten, hat die Arbeit keinen Zweck, sondern nur eine Dauer. Und wenn die ausgedehnt werden kann, wird das gemacht – einschließlich E-Mail-Verkehr im Bett.

5. Die noch besseren Jobs: hochqualifizierte Kopfarbeit

Von der tristen Eintönigkeit der Büroverwaltungsarbeit grenzen sich Jobs ab, zu denen ein elitäres Selbstverständnis gehört. Menschen, die „Lust auf Leistung“ haben, können hier versuchen, ihre Karrierevorstellung zu realisieren und sich so selbst zu verwirklichen. Über den Stolz der Fabrikarbeiter können sie dabei nur lachen; im Unterschied zu deren stupider Maloche wird bei ihnen nämlich Neues geschaffen: Es werden neue Maschinen designt, Bauwerke skizziert, Software kreiert, Konzepte erstellt, Projekte koordiniert, Ideen entwickelt, Teams angeleitet oder auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse errungen. Der Automatisierung sind diese Tätigkeiten zur Steigerung des Profits bzw. zur effizienteren Erledigung von allerlei Staatsaufgaben nicht so leicht zugänglich, dafür wird eine akademische Qualifikation verlangt und die Arbeit zumeist besser bezahlt.

Was da jeweils neu geschaffen werden muss, steht aber – im Gegensatz zum Selbstverständnis dieser Berufe – von vornherein fest. An den Zwecken der Arbeit, den Zeitvorgaben der herausfordernden Projekte und den sonstigen (Geld-)Kriterien, die von den Auftraggebern geltend gemacht werden, lässt sich nicht rütteln. Auch diese Arbeit gibt es nur, wenn sie dem Anwender einen ordentlichen Überschuss verspricht – oder die knappen öffentlichen Kassen nicht zu sehr strapaziert, was gerade die Abteilung Wissenschaft und Ausbildung der künftigen Elite in Sachen Bezahlung, Befristung und Entgrenzung der Arbeitszeiten inzwischen zum Hort prekärer Beschäftigungsverhältnisse macht. Bei der Umsetzung dieser feststehenden Zwecke ist dann aber Kreativität gefragt. Neue Ansätze und Ähnliches sind gern gesehen, es geht ja um die Erfindung neuer Methoden, die Arbeit anderer produktiver zu machen bzw. Vorgaben von Politik und Wirtschaft besser als bisher zu erfüllen. Wie können z.B. neue Materialien für kostengünstiges Bauen im Rahmen der bestehenden Vorschriften und im Lichte des notorischen Mangels an ‚bezahlbarem Wohnraum‘ eingesetzt werden? Solchen Anforderungen müssen die klugen Köpfe dienstbar sein, sich also die Probleme ihrer Vorgesetzten resp. Auftraggeber zu eigen machen – darin sollen sie sich gerne selbst verwirklichen. Jede andere Art von geistiger Befassung mit den Zwecken, denen sie sich dienstbar machen, wäre ganz und gar unpassend, deren unvoreingenommene, distanzierte Beurteilung wäre nur eine Distanzierung von der Aufgabe, um die es geht. Die geforderte Freiheit im Denken fällt mit der Unterwerfung unter die Imperative zusammen, denen der geistige Erfindungsreichtum zu gelten hat.

Das intime Verhältnis zu den vorgegebenen Zwecken wirkt sich auch auf die Arbeitszeit aus. Wer den ganzen Tag mit solchen geistigen Tätigkeiten beschäftigt ist, hört zu Hause nicht einfach auf, über die bearbeiteten Projekte und Probleme nachzudenken, sondern ist mit seinem ganzen Verstand für den Job verplant. Wenn das Angebot „Gelegenheit zur Selbstverwirklichung“ heißt, ergibt die künstliche Trennung von Arbeitszeit und Feierabend durchs bornierte Arbeitsrecht ohnehin keinen Sinn. Die Vertrauensarbeitszeit räumt glücklicherweise die meisten störenden Arbeitszeitbeschränkungen weg. Den Stress halten viele zwar nicht lang aus, aber es war ja auch nicht versprochen, dass das Angebot, „was Besseres“ zu werden, für jedermann ist.

In manchen Kreisen stößt das sogenannte agile Arbeiten als Methode modernen Projektmanagements auf besondere Begeisterung. Damit entledigen sich z.B. Software-Unternehmen der für sie oftmals kostspieligen Notwendigkeit, ihre Projekte vorab kleinlich durchzuplanen. Stattdessen machen sie die Definition und regelmäßige Überarbeitung von Projektzwischenzielen zu einer zusätzlichen Daueraufgabe ihrer agilen Angestellten, denen das als das Angebot schmackhaft gemacht wird, neue Freiheiten hinsichtlich der Gestaltung ihrer eigenen Arbeit zu erhalten. Sie müssen dabei bloß der Vorgabe folgen, dass mit jedem abgesteckten Zwischenziel auch schon ein Teil des Produkts fertiggestellt und an den Kunden ausgeliefert wird. So bietet die agile Arbeit ihnen stets einen guten Überblick über ihren Fortschritt und darüber, wie gut der ankommt. Die Kehrseite ist bloß, dass dieser verbesserte Überblick den Vorgesetzten zugleich dazu dient, die Einhaltung strikter Zeitpläne einzufordern. Auf diese Weise erhält auch die gehobene Kopfarbeit einen überprüfbaren und von oben definierbarem Arbeitstakt, der konsequenterweise gleich zur Ausweitung der geforderten Arbeitsleistung genutzt wird. Nicht umsonst heißen die Arbeitsunterabschnitte, deren Vorgaben oft nur mit Überstunden einzuhalten sind, ‚Sprints‘. Dafür, dass dem nachgekommen wird, sorgt schon alleine die ‚Transparenz‘ – noch so ein großartiger Fortschritt der agilen Arbeit: An ihr ist leicht ersichtlich, an welcher Stelle – also an wem – der Projektfortschritt hakt. Wem in der vorgesehenen Zeit keine gute Idee für das eigene Arbeitspaket gekommen ist, der arbeitet dann eben länger. Oder irgendwann gar nicht mehr.

In täglichen Stehrunden bekommen die agilen Angestellten die Gelegenheit, ihre Schwierigkeiten mit anderen zu teilen und sich Hilfe zu suchen, sodass in modernen Firmen niemand alleine gelassen wird. Sie sollen ‚Wissensinseln abbauen‘, sprich: durch den ständigen Austausch sollen alle Mitarbeiter im Zweifel an allem weiter arbeiten können, woran ihre Kollegen so arbeiten. Das wird spaßig als Erhöhung der ‚Truck-Number‘ ausgedrückt, also als Erhöhung der Zahl an beteiligten Entwicklern, die von einem Laster erwischt werden können, ohne dass das Projekt daran zugrunde geht. Etwas weniger grob ausgedrückt, wird der einzelne Entwickler so möglichst um den Expertenstatus erleichtert, der ihn für das Unternehmen unverzichtbar zu machen droht. So helfen moderne Kopfarbeiter ganz agil dabei mit, sich selbst ersetzbar zu machen.

Die kapitalistischen Arbeitgeber kommen also auch im akademischen Hochlohnsektor ihrem Ideal eines quasi-fabrikmäßigen Regimes über die rentable Arbeit und die damit einhergehende Austauschbarkeit – also Entwertung – der werten kreativen Fachkräfte Stück um Stück näher.

6. Eine ewige Alternative für Lohnabhängige: Exekution von Herrschaftsfunktionen als Einkommensquelle

Neben den Aufgaben in der Wirtschaft bleibt noch genug zu tun, worauf sich willfährige, geldabhängige Leute bewerben können. Der Bedarf des deutschen Staates nach Leuten, die sich um die vielfältigen Aufgaben kümmern, die ihm aus dem Management seiner bürgerlichen Klassengesellschaft erwachsen, stellt eine echte Alternative für sie dar, die sogar einige Vorzüge hat. Weil es bei den Posten im Verwaltungs-, Justiz-, Polizeiwesen usw. um Angelegenheiten geht, bei denen Funktionäre der Staatsgewalt ein Stück Macht über ihre Mitbürger ausüben sollen und müssen, ist das dem Staat eine herausgehobene Stellung seiner Dienstkräfte wert: Gemäß der Logik der Staatsmacht tragen ihre Erfüllungsgehilfen ein Stück Verantwortung, für deren Wahrnehmung der deutsche Staat ihnen einen „angemessenen Lebensunterhalt“ gewährt. Ihre Besoldung folgt entsprechend keiner tarifvertraglichen Logik, sondern der einer Alimentation. Der pekuniäre Vorteil gegenüber gewöhnlichen Jobs relativiert sich zwar umso mehr, je weniger Verantwortung dem jeweiligen Posten zugeschrieben wird; mit der „Verbeamtung auf Lebenszeit“ kommt jedoch ein bedeutendes Versprechen auf wirklich nachhaltige Beschäftigungssicherheit hinzu, abgerundet um die Aussicht auf eine Altersversorgung – nicht durch die gesetzliche Rentenversicherung, sondern durch eine Pension –, die ihren Namen verdient. Indem der staatliche Arbeitgeber seine Funktionäre so weitgehend von dem ewigen Lebenskampf einer Konkurrenz ums Geld ausnimmt, den sie betreuen, verwalten oder beaufsichtigen sollen, will er sich der uneingeschränkten Loyalität versichern, die er von ihnen erwartet.

Allerdings herrscht auch beim Staat als Arbeitgeber der Standpunkt der Kostenersparnis. Wie nützlich dazu die Ausgestaltung einer parallel zur Beamtenhierarchie mit ihren Besoldungstabellen existierenden Stufenleiter von tariflichen Entgeltgruppen für ‚normale‘ Angestellte im öffentlichen Dienst sein kann, hat der deutsche Staat sich bei seiner Privatwirtschaft abgeschaut. Auch das Outsourcing von Funktionen, die dem Staat einstmals ein Beamtenverhältnis wert waren, an privatwirtschaftlich kalkulierende Dienstleister ist keine Seltenheit. So gibt es dann auch im Dienst an der öffentlichen Gewalt die aus der freien Wirtschaft bekannten kontinuierlichen Abstufungen von erstklassigen bis prekären Arbeitsverhältnissen.

III. Mein Sozialstaat

Mit den Tücken der unselbstständigen Beschäftigung und den Schwierigkeiten, mit ihren Erträgen zurechtzukommen, werden deutsche Lohnabhängige nicht alleine gelassen. Der soziale Rechtsstaat stattet sie mit Schutzrechten aus, die der Willkür der Arbeitgeber einen Riegel vorschieben; er kümmert sich um die Löhne, wo diese nicht zum Leben reichen, und spannt soziale Sicherungsnetze, die die Leute auffangen, wenn sie in Notlagen geraten. All das macht eine soziale Marktwirtschaft schließlich aus.

Woran der Staat dabei alles gedacht hat, ist schon beeindruckend. Im Ergebnis sind ganze Ministerien mit ihren dicken Gesetzbüchern und diversen Behörden mit nichts anderem befasst, als die diversen Lebenslagen lohnabhängiger Erwerbsbürger – stets am Puls der Zeit – umfassend mitzugestalten.

1. Ein gesetzlicher Mindestlohn

Das fängt mit der für die abhängig Beschäftigten entscheidenden Frage der Lohnsumme an, die sie sich mit ihrer Arbeit verdienen können. Wo die einst so stolzen deutschen Gewerkschaften es nicht mehr bzw. nur noch in einigen Branchen und Untersektoren der Arbeitswelt vermocht haben, als anerkanntes Mit-Subjekt der Konditionen des Lohnarbeitsverhältnisses aufzutreten, hat der deutsche Sozialstaat sich ein Herz gefasst und am unteren Ende der Lohnhierarchie die heilige Tarifautonomie außer Kraft gesetzt. Zum großen Glück der vereinzelten Mehrheit deutscher Lohnabhängiger überlässt ihr mächtiger politischer Schutzherr es nicht ihrem individuellen Erfolgsstreben, welche Lohnhöhe sie für ihre Dienste gegenüber ihrem Arbeitgeber herausschlagen können bzw. für welche Summe sie bereit sind, sich herzugeben: Er legt ein verbindliches absolutes Minimum für die Bezahlung pro Arbeitsstunde fest, die ohne eine solche Begrenzung wohl ins Bodenlose fallen würde. Mit dieser Untergrenze, die in erklecklichen Teilen der Arbeitswelt faktisch zugleich die Obergrenze der üblicherweise gezahlten Löhne darstellt, setzt die politische Hoheit ein entscheidendes Datum für das allgemeine Lohnniveau in der Bundesrepublik. Weil mit dem politischen Beschluss der Wert der Arbeit seine feste Bezugsgröße hat, ist dort, wo mit einem wirkungsvollen Einspruch einer Arbeitnehmerlobby nicht zu rechnen ist, mit der Bezahlung des Mindestlohns jeglicher sozialer Anspruch abgegolten. Die Arbeitgeber nehmen den Mindestlohn nicht nur als Schranke ihres Interesses wahr, sondern auch als Ermächtigung, unter seiner Wahrung kompromisslos auf Diensterfüllung zu bestehen. Die Kehrseite der staatlichen Einmischung ist daher eindeutig: Wenn man als Arbeitnehmer anerkanntermaßen von weniger nicht leben kann und es als Vollzeitkraft auch nicht muss, dann legt diese Summe ebenso verbindlich fest, womit man aus Sicht des fürsorglichen Staates als Lohnabhängiger zurechtkommen kann und am Ende dann auch massenhaft zurechtkommen muss.

2. Schutzrechte im Arbeitsverhältnis

In Bezug auf die Arbeitszeit schreibt der Staat gesetzliche Grenzen vor und ordnet die Einhaltung von Pause- und Ruhezeiten an. Das haben diejenigen, die mit ihrer Arbeit Geld verdienen müssen, bitter nötig, schließlich sind sie von einem Interesse abhängig, das permanent bestrebt ist, möglichst viel geldwerte Leistung aus ihnen herauszuholen und dabei rücksichtslos gegen Physis und Lebenszeit der Belegschaft die Arbeitszeit auf ein Maximum auszudehnen. Gut also, dass der Staat eingreift und für ein gewisses Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden Interessen sorgt. Eine wirklich verlässliche Obergrenze der Arbeitszeit stellt sich damit allerdings nicht so recht ein. Vielmehr eröffnet das Schutzrecht den abhängig Beschäftigten eine ganze Reihe von Sondergelegenheiten, weit über das Maß hinaus zu schuften, das der Staat als normale Arbeitszeit definiert.

Erstens erlaubt es den Arbeitgebern, mit bezahlten Überstunden, die mitunter auch besser vergütet werden, auf Mehrarbeit zuzugreifen, wo sie diese benötigen. Damit stiften sie ihren Beschäftigten das verlockende Angebot, mehr von ihrer freien Zeit zu opfern, um den eigenen Lebensunterhalt etwas aufzubessern. Sie können dabei davon ausgehen, dass das Lohnniveau, für das sie gesorgt haben, praktischerweise wie von selbst für reichlich Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitsgelegenheiten sorgt. Wer die Mehrarbeit nicht bezahlt bekommt, darf dafür in Form eines Freizeitausgleichs Überbeanspruchung heute gegen ein Mehr an Erholung morgen eintauschen, das dann definitiv auch nötig ist. Es kann natürlich auch sein, dass die gesammelten Überstunden irgendwann verfallen, weil „Betriebsnotwendigkeiten“ den versprochenen Ausgleich immerzu unmöglich machen. Auf diese Weise bringt die deutsche Arbeiterschaft 2022 laut offizieller Statistik beachtliche 1,3 Mrd. Überstunden (583 Millionen bezahlte, 702 Millionen unbezahlte) zustande; hinzu kommt die Dunkelziffer all der zusätzlichen Arbeitsstunden, die ganz ohne Dokumentation, also ohne Zeitausgleich oder Bezahlung geleistet werden.

Denn moderne Arbeitgeber haben zweitens längst schon Wege gefunden, mit den staatlichen Arbeitszeitbeschränkungen zurechtzukommen. Ihr Erfindungsreichtum beschert den Lohnabhängigen eine Fülle von flexiblen Arbeitszeitmodellen, die Autonomie, freie Zeiteinteilung und persönliche Entfaltungsmöglichkeiten versprechen. Dass die eher bloß der Möglichkeit nach existieren, praktisch vielmehr die stets beschworenen ‚Gefahren‘ der Entgrenzung von Berufs- und Privatleben, der Überarbeit, ständigen Erreichbarkeit usw. zum Zuge kommen, ist ganz sachgerecht. Vertrauensarbeitszeit und ähnliche Arbeitszeitregelungen erfreuen sich bei der deutschen Unternehmerschaft ja gerade deshalb so großer Beliebtheit, weil sie es zum Problem der Beschäftigten machen, das geforderte Leistungspensum in der verfügbaren Zeit zu schaffen. Die Arbeitgeber können sich darauf verlassen, dass die mit ihrer Überforderung eigenverantwortlich umgehen und sich von den gesetzlich vorgeschriebenen Arbeitszeitbeschränkungen nicht daran hindern lassen, bis weit in den Feierabend und die Wochenenden hinein zu arbeiten, um das verlangte Soll zu bewältigen. Das tun sie offenbar so gründlich, dass der Europäische Gerichtshof und das Bundesarbeitsgericht sich kürzlich dazu herausgefordert gesehen haben, zu der starren Pflicht zurückzukehren, dass das alles ordentlich dokumentiert werden muss. Sie verpflichten den Staat zur Kontrolle der geltenden Gesetze, damit Arbeitnehmer nicht nur vor den Ansprüchen ihrer Vorgesetzten, sondern auch vor sich selbst geschützt sind. Ob sich damit an der Arbeitszeit außer ihrer ordentlichen Erfassung sonst etwas ändert, ist noch nicht bekannt. Was die staatlich geschützten deutschen Arbeitnehmer unterm Strich von ihrem Schutzrecht haben, ist dafür unter dem Stichwort ‚Burnout‘ als neue Volkskrankheit empirisch gut belegt. Jedenfalls müssen sie sehr darauf achten, dass ihre freie Zeit eine echt erholsame ‚quality time‘ ist, damit sie ihre Körperkräfte und geistige Gesundheit, die das staatlich reglementierte Geldverdienen so gründlich aufzehrt, nachhaltig wiederherstellen. Immerhin können sie sich darüber freuen, dass der Staat ihnen auch das als Recht garantiert, indem er Urlaubszeiten verbindlich vorschreibt.

Auch was die Ausgestaltung der Arbeitsplätze betrifft, haben Unternehmer in Deutschland nicht einfach freie Hand. Der Staat sorgt mit zahlreichen Vorschriften zum Arbeitsschutz für die Berücksichtigung der Gesundheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz. Auch diese Schutzrechte zeugen davon, wie zerstörerisch die Arbeit für diejenigen ist, die sie verrichten müssen. Maschinen, die die Tätigkeit der Leute auf Höchstleistung trimmen, stellen eine zuverlässige Quelle von Arbeitsunfällen dar; Lärm, Gift und andere ‚Gefahren‘ gehören selbstverständlich zur Ausstattung moderner Arbeitsplätze, wo die Kostenrechnung es verlangt. Die Gesundheit der Arbeitskräfte ist in den Gewinnkalkulationen der Unternehmer eben als Verschleißartikel eingebaut, der umso effektiver als Gewinnquelle wirkt, je gründlicher er vernutzt wird. Dieser ruinösen Praxis erlegt der Staat Schranken auf: Er verpflichtet die Unternehmer dazu, gewisse Maßnahmen zur Unfallprävention zu ergreifen, schreibt Grenzwerte für den Einsatz von Schadstoffen fest und erlässt Vorschriften über die Zumutbarkeit bestimmter Belastungen. Mit jeder Regelung, die eine Grenze definiert, legt der Staat allerdings umgekehrt gleichzeitig fest, welches Maß an Beanspruchung und Schädigung in Ordnung geht. Dass das Interesse der Geldvermehrung ein Angriff auf die Physis derer ist, die dafür arbeiten, wird als Notwendigkeit anerkannt, wenn sich der Staat daran macht, das Übermaß ausfindig zu machen, das dabei vermieden werden soll. Bekömmlich wird die Arbeit durch die staatlichen Schutzgarantien zwar nicht, sie ermöglichen den Lohnabhängigen aber, die Vernutzung, auf die sie sie festlegen, dauerhaft auszuhalten – zumindest denjenigen, die das Glück haben, über jene durchschnittlich resiliente Physis und Psyche zu verfügen, von der der Staat ausgeht. Damit auf besonders gefährliche und gesundheitsschädliche Arbeiten nicht verzichtet werden muss, erlaubt der Staat den Tarifpartnern zudem, für solche Tätigkeiten Belastungs- und Gefahrenzulagen auszuhandeln. Lohnabhängige kommen so in den Genuss, ein paar Euro zusätzlich verdienen zu können, wenn sie sich krebserregenden Stoffen aussetzen oder stundenlang schwere Arbeiten über Kopf verrichten. Auch da tut das Lohnniveau seinen Dienst und macht aus dem Tausch von Gesundheit gegen Geld ein Verdienstangebot, das glatt Abnehmer findet. Gedankt werden dem Staat seine vorsorglichen Leistungen in aller Regel jedoch nicht: Gerade die Begünstigten begreifen ihre Schutzrechte zumeist als unnötige Gängelung, die es ihnen noch schwerer macht, die vom Chef verlangte Leistung in der gegebenen Zeit zu erbringen. Mit dem Verschleiß der Gesundheit verdienen eben nicht nur die Unternehmer, sondern auch sie ihr Geld.

Als das wohl größte und fortschrittlichste Schutzrecht, das die deutsche Arbeitnehmerschaft genießt, gilt das Diskriminierungsverbot. Niemand darf aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder sonstigen Eigenschaften benachteiligt werden; derartige persönliche Beurteilungskriterien der Arbeitgeber sind beim Einstellen und Entlassen explizit verboten. All diese Diskriminierungen gelten dem Staat als Abweichungen von dem, was das Lohnarbeitsverhältnis sein soll, nämlich ein fairer Leistungsvergleich, in dem nur die persönliche Eignung und die eigenen Fähigkeiten darüber entscheiden, ob man sich gegen andere durchsetzt und wie gut oder schlecht der Lebensunterhalt ausfällt. Dass einige auf der Strecke bleiben, ist dabei unterstellt, geht aber in Ordnung, sofern sichergestellt ist, dass jeder die gleiche Chance erhalten hat, etwas aus sich zu machen. Dabei zeugt das Verbot davon, dass selbst dieses wenig gemütliche Ideal nicht die Wahrheit über die Konkurrenz um Lohn ist. Immerhin bezieht sich der Staat damit auf die Tatsache, dass die diversen Diskriminierungen übliche Praxis sind, also offensichtlich zur Konkurrenz ums Geldverdienen dazugehören. Mit ihrem Eigentum an den Arbeitsplätzen und dem Geld, von dem die lohnabhängige Mehrheit der Gesellschaft existenziell abhängt, veranstalten Unternehmer eben keinen Leistungswettbewerb, sondern sie verfügen über ein Stück Macht. Die schließt die Freiheit, alle möglichen moralischen Urteile und persönlichen Gesichtspunkte hinsichtlich der ‚Eignung‘ der Anwärter geltend machen zu können, automatisch mit ein. Die Macht des Geldes, sich Wille und Bereitschaft der lohnabhängigen Mannschaft verfügbar zu machen, um den privaten Reichtum zu mehren, soll natürlich nicht aus der Welt geschafft werden, wenn der Staat den Unternehmern den gerechten Gebrauch dieser Macht vorschreibt. Kein Wunder also, dass sich die Wirkung des Diskriminierungsverbots praktisch darin auflöst, dass Arbeitgeber ihre Personalentscheidungen nicht mehr mit dem Geschlecht und der Herkunft begründen. Aber immerhin dürfen sich alle Freunde diskrimierungsfreier Leistungsgerechtigkeit darüber freuen, dass LGBTQ- und andere -Feindlichkeiten nicht nur zunehmend moralisch geächtet, sondern bei der Ausbeutung höchst offiziell ins Unrecht gesetzt sind. Wenn es nach dem progressiven Rechtsstaat geht, sind alle Hautfarben und Geschlechter zum Dienst am Kapital herzlich eingeladen.

Wenn der Staat das Arbeitsverhältnis mit seinen Regelungen umstellt und die Lohnarbeiter mit lauter Rechten ausstattet, dann leistet er eben das: Er legt die Bedingungen fest, zu denen sie sich als die ohnmächtige, dienstbare Seite in einem ökonomischen Kommandoverhältnis betätigen müssen.

3. Sozialversicherungen und Bürgergeld

Die berüchtigten Wechselfälle des Lebens, vom Schicksalsschlag der Arbeitslosigkeit bis zum plötzlichen Pflegefall im familiären Umfeld, sind notwendige Begleiterscheinungen der lohnabhängigen Lebensart. Davon geht der deutsche Staat jedenfalls felsenfest aus, wenn er die übergroße Mehrheit seiner Bürger in Abhängigkeit von ihrer Einkommenshöhe auf eine Mitgliedschaft in seinen Sozialversicherungen verpflichtet. Mit ihnen hat der Sozialstaat alle möglichen Schwierigkeiten des Erwerbslebens längst antizipiert, bevor ein Betroffener praktisch zu spüren kriegt, dass das Pech glatt ihn erwischt hat: von Unfällen und Krankheiten über Phasen der Arbeitslosigkeit bis hin zum letzten Lebensabschnitt, in dem er ausgemustert ist. All das selber wegzustecken und zu finanzieren, haben selbst die besser verdienenden Teile der nationalen Arbeiterschaft nicht im Kreuz, das gibt ein normales Lohnarbeiterleben schlicht nicht her – und für all das ist mit den Sozialversicherungen vorgesorgt.

Jedenfalls im Prinzip. Bei näherer Betrachtung geht die Leistung der Sozialversicherungen für die Betroffenen in der Absicherung ihrer diversen Lebensumstände nicht auf. Die Hilfen sind an Bedingungen geknüpft. Wenn der Staat etwa festlegt, dass die Geldleistungen der Versicherungen auf die eine oder andere Art an das bisherige, individuell erzielte Einkommen geknüpft und zudem über einen kleinen Generationenvertrags- bzw. Umlage-Umweg auch aus den einbehaltenen Bestandteilen des Lohns der gesamten Mannschaft zu finanzieren sind; wenn er im Falle des Arbeitslosengeldes explizit darauf besteht, dass es die zeitlich streng begrenzten Hilfen nur unter der Bedingung gibt, dass der Betroffene sich schleunigst um eine neue Anstellung bemüht; wenn er zwecks Rücksicht auf die strapazierte Gesundheit Ausnahmen von der Pflicht erlässt, die Leistungs- und Zeitvorgaben des Arbeitsvertrages zu erfüllen, die streng darauf ausgerichtet sind, die eigene Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen, und er so lange eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder ein Krankengeld gewährt – dann ist in all diesen Regelungen der Ziel- und Bezugspunkt dieser Versicherungen nicht zu übersehen: Es geht dem Staat um die Haltbarkeit der Lohnarbeit als alternativloses Lebensmittel der großen Volksmehrheit. Die Arbeitnehmer werden mit ihren Versicherungen auf den entscheidenden Widerspruch ihrer Erwerbsquelle festgelegt: Wovon sie leben und leben müssen, ist eine Geldquelle, die von ihren Einrichtern als notwendige Kost für lohnende Arbeitsleistung gestiftet und durchkalkuliert wird, also schlicht und ergreifend nicht dafür gemacht ist, aus ihr ein Leben zu bestreiten, schon gar nicht über die Phase hinaus, in der sie sich für die Anwender ihrer Arbeit nützlich machen.

Von diesem ehernen Prinzip macht der deutsche Staat auch bei denjenigen keine Ausnahme, die ausweislich ihrer Bedürftigkeit nicht von ihrer Hände Arbeit leben und das zumeist auch nicht können. Auch diese Figuren gehören als Prekariat zur Klasse der Erwerbsabhängigen dazu und werden vom Staat, ob er nun von Sozialdemokraten oder von nächstenliebenden Christen regiert wird, nicht einfach im Stich gelassen: Für sie hat er ein zweites Sicherungsnetz aufgespannt, in dem sich Langzeitarbeitslose und andere ‚Abgehängte‘ mit frisch aus dem ersten Sicherheitsnetz herausgepurzelten Arbeitslosen treffen, für deren Auskommen die Versicherungen sich nicht länger zuständig wissen. Ob sie das, worauf er bei allen anderen Bürgern schon aus Gründen der Leistungsgerechtigkeit besteht, wirklich nicht können, nämlich ihren Lebensunterhalt mit ihrer Hände Arbeit bestreiten, da ist der fürsorgliche Staat – auch wenn er mit seinem inzwischen sogenannten Bürgergeld vor der ehrbaren Rechtsperson im Sozialfall demonstrativ den Hut zieht – generell sehr skeptisch. Entsprechend inszeniert er einen dauerhaften Test auf ihren Arbeitswillen, den sie auch dann zu beweisen haben, wenn sie partout keine Gelegenheit dazu bekommen, ihn auch zu verwirklichen, weil kein Unternehmer sie haben will. Für sie erweist sich die große Freiheit, die eigene Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft zum Mittel des eigenen Erfolges zu machen, endgültig als nicht bloß stummer Zwang, sondern als eine Pflicht, auf die die Staatsgewalt sie festlegt. Die Bedürftigkeit dieses Bodensatzes der lohnabhängigen Klasse, der nicht von der Lohnarbeit zu leben vermag, behandelt er als eine Abweichung von der gewollten und unterstellten Normalität eines gewöhnlichen Erwerbsbürgerlebens, weshalb ihr ‚leistungsloses Einkommen‘ entsprechend mickrig ausfällt. Das ergänzt er durch die Nötigung zum Beweis von Brauchbarkeit und lässt sich das auch etwas kosten, inklusive einiger Fortbildungen, Bewerbungshilfen und Trainings in puncto Achtsamkeit und Digitalisierung.

Und es gibt ja auch genügend Fälle, in denen das etwas bringt. Sogar Langzeitarbeitslose finden sich gelegentlich in geregelten Arbeitsverhältnissen auf dem Sozialen Arbeitsmarkt oder im freien Niedriglohnsektor wieder. Wenn der Staat mit seinen beiden sozialen Sicherungsnetzen darauf besteht, dass die abhängige Erwerbsarbeit als Einkommensquelle gehen muss, dann hilft er seinen Schützlingen dabei – und ist auch um zeitgemäße Reformen seiner Einrichtungen nie verlegen.

4. Staatliche Hilfen in prekären Lebenslagen

Es braucht nicht viel, um alle gewohnten Kalkulationen des selbstbewussten Sich-Einteilens für ein Leben von der Lohnarbeit über den Haufen zu werfen. An irgendeiner Stelle wird ein Kostenpunkt erhöht, schon droht die Lebensbewältigung zu scheitern. Zum Glück hat ein freundlicher deutscher Staat auch das im Blick.

Immer weiter steigende Mietpreise – der mit weitem Abstand größte Einzelposten privater Haushaltsrechnungen – sorgen dafür, dass das Wohnen in den Städten zunehmend unbezahlbar wird, für den großen Teil der Gesellschaft jedenfalls, der seinen Lebensunterhalt aus abhängiger Beschäftigung bestreiten muss. Der Staat erkennt das als soziales Problem an und kümmert sich darum. Das ist keine einfache Aufgabe, denn den Grund für den massenhaften Mangel an bezahlbarem Wohnraum will er dabei nicht antasten. Es soll nicht nur dabei bleiben, dass eine Eigentümerklasse exklusiv über eine elementare Lebensbedingung der Gesellschaft verfügen und so das Bedürfnis nach einem Ort zum Leben für ihre private Bereicherung ausnutzen darf. Es muss auch in Rechnung gestellt werden, dass ihr dabei genügend Freiheit gewährt wird – alles andere würde nur ihre Investitionsfreude hemmen, die doch so nützlich für den Standort ist. Fortschrittliche Ansätze, beides unter einen Hut zu bringen, gibt es in Deutschland einige. Mit dem Wohngeld übernimmt der Staat für diejenigen, die sich aufgrund ihrer Armut eine ortsübliche Miete nachweislich nicht leisten können, einfach einen Teil der Kosten und zahlt den Tribut an das Grundeigentum aus Steuergeldern, damit weiter zusammengeht, was nicht zusammenpasst. Im sozialen Wohnungsbau lockt er Investoren und Bauunternehmer mit allerlei günstigen Konditionen, damit die sich dazu herablassen, auch mit den Mieten, die sich notorisch knappe Haushalte allenfalls noch leisten können, ihr Geschäft zu machen. Mit einer Mietpreisbremse sorgt er für den gerechten Ausgleich der beiden Interessen: Das Immobilienkapital darf die Mieten im staatlich verordneten Rahmen, der sich an dessen bisherigen Gewinnansprüchen orientiert, regelmäßig erhöhen; dem Mietervolk wird mit einer Verlangsamung der Verteuerung dabei geholfen, seine Überforderung besser auszuhalten. Ein Mietendeckel hingegen, der die verlangten Mieten tatsächlich nach oben hin begrenzt, hat in dieser sozialen Republik allerdings keinen guten Stand. Nicht nur beim empörten Grundeigentum, das auf der Freiheit seines Eigentums besteht, sondern auch beim Rechtsstaat selbst: Der musste den Berliner Deckel, jedenfalls bis auf Weiteres, als verfassungswidrig ablehnen.

In Form von „Gute-Kita-“, „Starke-Familien-“ und anderen Gesetzen mit schönen Namen regelt die Familienministerin finanzielle Zuschüsse für Familien und Rechtsansprüche auf Kinderbetreuung und Elternzeit. Familien brauchen bekanntlich besonders viel Unterstützung, da der ohnehin übliche Mangel an Zeit und Geld durch den Nachwuchs noch verschärft wird. Weil ein einzelner Lohn nicht für den Lebensunterhalt der Familie reicht, gehen in der Regel beide Elternteile arbeiten, was die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderaufzucht zu einer Unmöglichkeit macht. Der Staat besteht aber darauf, dass beides gehen muss. Die Reproduktion der Arbeitnehmer aus ihrer beschränkten Erwerbsquelle muss ebenso gelingen wie das staatliche Interesse an menschlichem Nachwuchs zur Reproduktion seines Volkes. Darum verpflichtet er die Arbeitgeber darauf, die Freistellung eines Elternteils zu ermöglichen, mit der Garantie, später wieder einsteigen zu dürfen, und kompensiert den Wegfall des Einkommens während der Elternzeit, indem er zwei Drittel des bisherigen Lohns übernimmt, mit dem die Familien dann zurechtkommen müssen. Das gilt jedenfalls für die ersten drei Jahre, im Anschluss können sie ihren Nachwuchs tagsüber in der Kita verstauen – auch dafür ist im Prinzip gesorgt – und sich wieder der Aufgabe zuwenden, Familienleben und Arbeitsdienst unter einen Hut zu bekommen. Bei der Bewältigung der finanziellen Herausforderungen greift ihnen der Sozialstaat noch mit Kindergeld, Kinderzuschlag und diversen Einmalzahlungen unter die Arme. Nicht einmal das hohe Gut der Bildung muss an der Armut der Familien scheitern: Der Staat spendiert sogar Tickets für den Nahverkehr und kostenloses Schulessen für die Kleinen.

Es gibt in der sozialen Bundesrepublik in der Tat keine Hilfe für Bedürftige, die ihr letztes Kriterium nicht im staatlichen Interesse am Funktionieren des ganzen Ladens hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Aufsatz "Anmerkungen zur Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland" erschien in GegenStandpunkt 2-23 https://de.gegenstandpunkt.com/ und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt.
Bildbearbeitung: L.N.