Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik legte erstmals im November 1975, kurz nach Verabschiedung des 1. Haushaltsstrukturgesetzes durch das Bundeskabinett der sozial-liberalen Koalition, ein „Memorandum für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik“ vor. Die Arbeitsgruppe sah darin damals schon die Einleitung des Sozialabbaus in der Bundesre-publik.
Seit 1977 wird in jedem Jahr, immer in der Woche vor dem 1. Mai ein neues Memorandum für eine alternative Wirtschaftspolitik veröffentlicht. Enthalten sind darin auch zahlreiche Stel-lungnahmen zu aktuellen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Fragen. Bereits nach einigen Ausgaben galt das Memorandum schon als „Gegengutachten“ zum jährlichen Gutachten des Sachverständigenrates („fünf Weisen“) zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Die Memorandum-Gruppe wird ausschließlich durch Spenden sowie aus den Einnahmen für die jeweiligen Veröffentlichungen finanziert. Es gibt weder formelle Mitgliedschaft noch einen formellen Vorstand o.a. An den Tagungen und der Arbeit kann jeder teilnehmen, der Interesse daran hat und dies durch Bereitschaft zur Mitarbeit zum Ausdruck bringt.
Der folgende „Abriss der Wirtschaftspolitik der letzten 40 Jahre“ ist dem Memorandum 2015 entnommen.
Mit der Weltwirtschaftskrise von 1974/75 in der Bundesrepublik die erfolgreichste Periode der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende. In den 1960er Jahren konnte die Arbeitslosenquote unter ein Prozent gedrückt und Vollbeschäftigung hergestellt werden. Es wurden sogar in erheblichem Umfang ausländische Arbeitskräfte angeworben, um die Arbeitsnachfrage zu befriedigen. Außerdem kam es zu einem enorm wichtigen Schub im Städte- und Wohnungsbau sowie bei der öffentlichen Infrastruktur. In der Sozial und in der Rentenpolitik, der Arbeitsmarkt- so wieder allgemeinen Bildungs- und Hochschulpolitik wurden zahlreiche Fortschritte erzielt.
Die Wirtschaftspolitik war 1967 per Stabilitäts- und Wachstumsgesetz zur Erreichung eines hohen Beschäftigungsstandes, Preisstabilität, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Wachstum („magisches Viereck“) verpflichtet worden. Dabei sollte dem am meisten verletzten Ziel die größte wirtschaftspolitische Aufmerksamkeit geschenkt werden. Verteilungsgerechtigkeit und die ökologische Frage wurden bis heute nicht in das noch gültige Gesetz aufgenommen – dabei ist Wachstum unbedingt unter sozial-ökologischen Aspekten zu verfolgen. Ein nachlassendes Wirtschaftswachstum führte in den westlichen Industrieländern dann im Zusammenhang mit der ersten Ölpreiskrise, den Kosten des Vietnamkrieges und dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen im Jahr 1973 (in Bretton Woods waren 1944 feste Wechselkurse im Weltwährungssystem festgelegt worden) zu einer bis dahin nicht gekannten wirtschaftlichen Stagflation (dem gleichzeitigen Auftreten von ökonomischer Stagnation und Inflation) und schließlich 1974/75 zu einer Überproduktionskrise mit einem Anstieg der Zahl der Arbeitslosen auf über eine Million und einer Arbeitslosenquote von fünf Prozent. Begleitet wurde das Ganze von tiefgreifenden Branchenkrisen (Stahl, Bau und Textil).
Seitdem muss man in der Bundesrepublik Deutschland, aber nicht nur dort, von einer Massenarbeitslosigkeit sprechen, die bis heute nicht überwunden ist – im Gegenteil, sie hat sich strukturell verstetigt.
Das Problem der sich dauerhaft verfestigenden Arbeitslosigkeit
hat die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik bereits in ihren ersten MEMORANDEN klar gesehen:
„Die Arbeitslosigkeit hält unvermindert an, obgleich bereits seit fast zwei Jahren ein Periode-wirtschaftlichen Aufschwungs – gemessen an Produktion und Investition – zu verzeichnen ist. Dies deutet darauf hin, dass es sich hier nicht um
einen einmaligen Betriebsunfall, sondern um längerfristige Tendenzen handelt, die zwar durch die konjunkturelle Krise ab Ende 1973 verstärkt zum Durchbruch gekommen sind, die konjunkturellen Wechsellagen aber überdauern und die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten längerfristig entscheidend beschränken werden. […] Der Sachverständigenrat sowie die Mehrheit der offiziellen
Wirtschaftspolitiker erklären die andauernde Massenarbeitslosigkeit aus der seit Ende der 60er Jahre gesunkenen Kapitalrentabilität. Deren Ursachen werden einseitig aus dem gestiegenen Anspruchsniveau der Gewerkschaften hinsichtlich der Lohnpolitik sowie aus der angeblich überzogenensozialstaatlich ausgerichteten Reformpolitik des Staates hergeleitet. […] Die globale Förderung des Unternehmensgewinnes ist demnach auch der Kern der Empfehlungen, die der Sachverständigenrat als Programm der wachstumspolitischen Vorsorge und Konsoli-dierung aus seinen Überlegungen zur strukturellen Arbeitslosigkeit entwickelt.“
(MEMORANDUM 1977)
Die Krise 1974/75 wurde zum Katalysator für einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik.
Der Wohlfahrtsstaat war nicht länger das bestimmende Leitbild. Insbesondere das Phänomen der Stagflation hatte die alten wirtschaftlichen Ansätze diskreditiert. In der theoretischen Debatte wurde häufig ein negativer Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit gesehen (Phillips-Kurve). Die Wirtschaftspolitik müsse sich, so hieß es, zwischen einer hohen Preissteigerung und einer großen Arbeitslosigkeit entscheiden. Nach dieser Auffassung war die Wirtschaftspolitik beim gemeinsamen Auftreten von Preissteigerung und Arbeitslosigkeit machtlos.
Die in den Nachkriegsjahren praktizierte keynesianische Nachfragepolitik
galt damit als gescheitert. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) war mit seiner Empfehlung, zur
Krisenbekämpfung nicht die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, sondern die Gewinne der Unternehmen zu fördern, der Vorreiter der neoklassischen Wende.
Mit dem ersten sogenannten Haushaltskonsolidierungsgesetz von 1975 fand diese Position ihren Widerhall in der Politik. Allerdings blieb die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik in den folgenden Jahren noch unbestimmt und widersprüchlich.
Mit der Krise war aber nur eine – vor allem von dem britischen Ökonomen John R. Hicks und dem US-amerikanischen Ökonomen Paul A. Samuelson geprägte – Interpretation keynesianischer Theorie gescheitert. Diese Variante wird in der Debatte häufig als „hydraulischer“ Keynesianismus oder als „Bastard-Keynesianismus“ (Joan Robinson) kritisiert.
Sie ist geprägt von sehr mechanischen Modellannahmen und einer Integration neoklassischer Arbeitsmarktannahmen (neoklassische Synthese).
Es darf auch nicht vergessen werden, dass die Abkehr von einer keynesianisch geprägten Politik nicht zu einer Überwindung der Arbeitslosigkeit geführt hat. Ganz im Gegenteil. Ende der 1970er Jahre spitzte sich die weltweite Wirtschaftslage durch die zweite Ölpreiskrise erneut zu. Zugleich wurde der neoliberale „Friedman- Monetarismus“ vorherrschend. Die zunehmend angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die verstärkt auf Lohnverzicht, Sozialabbau und Senkung der Gewinnsteuern setzt, sowie der radikaler werdende Monetarismus, der eine Phase der Hochzinspolitik unter dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan einleitete, führte 1982 auch in der Bundesrepublik zu einem scharfen Konjunktureinbruch mit einer schrumpfenden Wirtschaft und mehr als zwei Millionen Arbeitslosen.
Das MEMORANDUM 1982 unter dem Titel „Qualitatives Wachstum statt Gewinnförderung – Alternativen der Wirtschaftspolitik“ mit einem Sonderbeitrag
„Sicherung und Ausbau des Sozialstaats statt sozialer Demontage – Alternativen zur Finanzierung der Sozialpolitik“ zeigte dazu konkrete Alternativen
auf, die aber keine Berücksichtigung in der von der Bundesregierung praktizierten Wirtschaftspolitik fanden.
Im Gegenteil: Die Finanz- und Geldpolitik war mit dem Regierungswechsel zu einer schwarz-gelben Koalition unter Helmut Kohl nun endgültig auf den neoliberalen Kurs der Reagan-Administration in den USA eingeschwenkt und hatte mit Großbritannien ein EU-Mitglied vor der Haustür, das mit seinem Thatcherismus seit 1979 die Komponenten des Neoliberalismus mit aller Wucht in die Praxis umsetzte.
Die Implosion der DDR – und der Zusammenbruch des gesamten realsozialistischen Weges – im Herbst 1989 und Frühjahr 1990 stellte die Wirtschaftspolitik
vor völlig neue Probleme. Die Währungsunion zum 1. Juli 1990 mit dem Kurs von 1:1 bzw. 2:1 vernichtete die DDR-Industrie schlagartig.
Selbst der Sachverständigenrat hatte in einem Sondergutachten im Februar 1990 vorgeschlagen, eine Zehn-Jahres-Konföderation zu bilden, um die DDR Wirtschaft und -Gesellschaft systematisch auf die „raue Welt“ der westlichen Konkurrenz einzustellen.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik erarbeitete ab Februar 1990
zusammen mit einigen DDR-Ökonominnen und -Ökonomen ein Konzept zur langfristigen Stabilisierung und Modernisierung der DDR-Wirtschaft durch einen Transformationsprozess. Kernpunkte waren Maßnahmen zur Verringerung des Konkurrenzdrucks, die Stabilisierung und Modernisierung der ehemaligen Kombinate durch das Prinzip „Sanieren geht vor Privatisieren“ und Maßnahmen, mit denen verhindert werden sollte, dass die Einheit in erster Linie durch die Beschäftigten und die Sozialversicherungen finanziert wird.
Mit dem Sondermemorandum „Sozial-ökologisches Sofortprogramm:
Risiken der deutsch-deutschen Währungsunion auffangen“ (Mai 1990) wurde ein Programm vorgelegt, mit dem die Betroffenen, Gewerkschaften und linke
politische Formationen gut begründete Gegenpositionen zur Regierungspolitik artikulieren konnten.
Nachdem in der Frühphase der Vereinigung noch einige erfolgreiche Maßnahmen durchgeführt wurden – beispielsweise einige Sanierungserfolge („Chemiedreieck“) und vor allem eine breite Abfederung der Arbeitsmarktmisere durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik (Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen – ABM, SAM) –, wurde die Angliederung der DDR schließlich schnell unter marktradikalen Prämissen durchgeführt.
Das Ergebnis war – trotz zahlreicher Frühverrentungen – eine explodierende Arbeitslosigkeit. Mitte der 1990er Jahre überstieg die Zahl der registrierten
Arbeitslosen in Gesamtdeutschland erstmals die Zahl von vier Millionen. Gleichzeitig wurde das Scheitern des Realsozialismus zur Diskreditierung
aller etatistischen und solidarischen Ansätze der gesellschaftlichen Gestaltung benutzt.
In den 1990er Jahren wurde in den USA ein Technologieboom ausgelöst, der mit zeitlicher Verzögerung auch Europa erfasste. Die Informations- und Kommunikationstechnologien wurden revolutioniert. Dies löste eine gigantische Konzentrations-, Zentralisations- und Privatisierungswelle aus.
In Deutschland übernahm Vodafone im Februar 2000 den Industriekonzern Mannesmann für 230 Milliarden DM (118 Milliarden Euro). Dabei ging es ausschließlich um die Mobilfunksparte.
Der (oftmals nicht freiwilligen) Anstieg der Teilzeitquote an allen Beschäftigten wurde die Arbeitszeit verkürzt – unter prekären Bedingungen.
Die Erschütterungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 – der schwersten Krise seit der großen Depression Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts – haben zunächst auch die neoklassische bzw. neoliberale Vormachtstellung ins Wanken gebracht.
Das Erfordernis, zur Bekämpfung von Krisen und Arbeitslosigkeit die Gewinneinkommen zu fördern und die Lohn- und Transfereinkommen zu begrenzen – also der zentrale Kern dieser Ideologie – wurde massiv infrage gestellt.
Der Standpunkt der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, die Umverteilung von unten nach oben als Krisenursache und nicht als Krisenlösung zu sehen, fand jetzt einen breiteren Widerhall. Stellvertretend für viele seien hier
nur die US-amerikanischen Ökonomen Paul Krugman und Joseph E. Stiglitz, der deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler und der französische Ökonom Thomas Piketty genannt.
„Hat womöglich der Anstieg der amerikanischen Ungleichheiten zur Entfesselung der Finanzkrise von 2008 beigetragen? Bedenkt man, dass der Anteil des obersten Dezils am amerikani-schen Nationaleinkommen zweimal Höchststände erreicht hat, einmal 1928 (am Vorabend der Krise von 1929) und einmal 2007 (am Vorabend der Krise von 2008), fällt es schwer, die Frage nicht zu stellen. Meines Erachtens gibt es keinerlei Zweifel daran, dass wachsende Ungleichheit zur Destabilisierung des amerikanischen Finanzsystems beigetragen hat.“ (Thomas Piketty: Das Kapital im21. Jahrhundert, 2014, S. 391)
Richtigerweise wurde die Krise mit einer – in der Neoklassik nicht vorgesehen – weltweiten expansiven Geld- und Fiskalpolitik bekämpft. Zwar wurde die expansive Fiskalpolitik schnell wieder aufgegeben, und vor allem in der EU wurde die Austeritätspolitik als Krisenlösung für Südeuropa verschärft angewandt. Aber die Grenzen dieser Politik zeichnen sich immer deutlicher ab. Diese Botschaft ist jedoch bis heute bei den neoklassisch dominierten deutschen Hochschulen nicht angekommen.
Der ökonomische Mainstream und die Wirtschaftspolitik vor allem in Deutschland stehen vor einem Dilemma, denn sie halten weiter an der gescheiterten Idee des Neoliberalismus fest.
Gleichzeitig nimmt die Akzeptanz dieser Ideologie ab, und die praktische Umsetzung steht vor immer größeren Schwierigkeiten. Diese Politik funktioniert in vielen Bereichen immer weniger.
Das Dilemma zeigt sich deutlich bei der Positionierung des Sachverständigenrates zur Beurtei-lung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR).
Seit Mitte der 1970er Jahre ist er ein Hort der reinen neoklassischen bzw. neoliberalen Lehre.
Zur Implementierung dieser Politik hat er einen zentralen Beitrag geleistet. Auch in seinem aktuellen Gutachten weicht der SVR nicht von dieser Linie ab. Ganz im Gegenteil: Regelrecht provokant überschreibt er das Jahresgutachten 2014/15 mit dem Titel „Mehr Vertrauen in die Marktprozesse“. Allein die Minderheitenvoten von Peter Bofinger widersprechen der neoliberalen Mehrheitsmeinung.
Dabei führt das pure Ignorieren der Entwicklung der vergangenen Jahre und der
aktuellen Debatten nicht mehr weiter – der SVR verliert massiv an Reputation. Nach der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, die durch massives Marktversagen zustande kam, fehlt vielen schon für den Titel des Gutachtens jedes Verständnis. Aber der SVR ignoriert selbst wichtige Positionierungen zur ökonomischen Analyse, die inzwischen einen breiten Konsens gefunden haben – sowohl in der wissenschaftlichen Debatte als auch in der öffentlichen Meinung. Eine immer ungleicher werdende Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie eine massive Investitionsschwäche in Deutschland und Europa werden inzwischen fast einhellig konstatiert.
Beides versucht der SVR mit zweifelhafter Methodik zu leugnen. Die Bundesregierung ist inzwischen zu einer kühlen Nichtbeachtung der Gutachten übergegangen. Selbst in Zeitungen wie dem Handelsblatt, das von seiner Positionierung eher im neoliberalen Mainstream angesiedelt ist, gibt es vernichtende Bewertungen. Augen zu und durch – diese Variante der Argumentation funktioniert für die wirtschaftliche Politikberatung nicht mehr.
Quelle und Bild: Memorandum 2015 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik