Aufrüstung: Ja, aber! – Ein Nachtrag zur SPD-Dissidenz

Im Juni stößt ein Manifest von SPD-Friedenskreisen“ bei Leitmeiden und Politikern auf heftigsten Widerspruch, bis dann, nach dem kurz darauf folgenden SPD-Parteitag, wieder Ruhe einkehrt.

Von Johannes Schillo

„War da nicht was? Ein heißer Konflikt, bevor die sommerliche Hitzeperiode begann? Ach ja, Anfang Juni erblickt ein ‚Manifest‘ das Licht der Welt, das ein paar Tage lang für größte Aufregung sorgt. Unerhört, leibhaftige SPD-Mitglieder fangen an, mit der Friedensbewegung zu liebäugeln!“ So beginnt der Kommentar „Sozis in der Dissidenz“, der in der aktuellen Ausgabe von Konkret (Nr. 8/25) erscheint. Er resümiert vor allem die Kritik, die im Juni von der gewerkschaftlichen Basisinitiative „Sagt nein!“ vorgetragen wurde. Das Gewerkschaftsforum hat den Vorgang bereits mit verschiedenen Beiträgen gewürdigt (siehe etwa hier oder die Website IVA) und dem Manifest das Fehlen einer oppositionellen Linie bescheinigt. Schon in dessen Überschrift „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“ kommt ja die Kompatibilität mit dem schwarzroten Aufrüstungskurs zum Ausdruck, dem dann im Sinne eines ‚Ja, aber‘ entgegengetreten wird.

Die SPD beruhigt sich wieder

„Als hätte Putin es mitgeschrieben“ – so lautete dagegen der Tenor der Reaktionen in den Mainstreammedien. Bestleistungen in Sachen Hetze vollbrachten dabei wieder Bild und FAZ. Der Hauptvorwurf an die Adresse der Träumer mit ihren Entspannungsidealen von gestern [1] hieß dann „Realitätsverweigerung“. Das Stichwort machte sich auch die SPD-Spitze zu eigen und stellte auf dem kurz darauf folgenden Parteitag klar, dass es nur einen realistischen Kurs gibt, nämlich den, den die SPD gemeinsam mit CDU/CSU eingeschlagen hat. Dagegen gab es keine wirkliche Opposition, so auch die Feststellung von Manifest-Autor und SPD-MdB Ralf Stegner. Ein anderer prominenter Autor, der ehemalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich, war dem Parteitag gleich ferngeblieben.

Von der Presse wurde statt lebendiger Streitkultur auf der Berliner Zusammenkunft „eine gewisse Wurstigkeit“ der Delegierten (FR, 30.6.) entdeckt. Andere Kommentare sprachen von der Feigheit der Dissidenten; denn keiner von ihnen habe den Mut gefunden, „auf offener Bühne auch nur ein kritisches Wort gegenüber ihrem Parteivorsitzenden zu äußern“ (FAZ, 30.6.). Stegner nahm zwar für sich in Anspruch, einen Beitrag dazu geleistet zu haben, beklagte aber rückblickend vor allem die hinterfotzige Art, mit der der Parteivorsitzende Lars Klingbeil bei den Vorstandswahlen abgestraft wurde. Was Stegner auf dem Parteitag vorbrachte, hatte zudem kaum kritische Substanz. Laut NTV begann er seine Rede mit der Feststellung, dass die SPD „Friedenspartei“ sei, wegen ihrer Haltung in dieser Frage aber Stimmen an die Rechtsradikalen und die Linkspopulisten verloren habe. „Zugleich betonte er, die Unterzeichner des Manifests seien der Meinung, dass die Ukraine unterstützt werden müsse. Ohne Luftabwehr auch aus Deutschland würden dort noch mehr Menschen sterben.“ [2]

Eine Debatte über den Wehrdienst gab es auf dem Parteitag nicht. Stattdessen wurde im Hinterzimmer mit den Jusos, die pflichtgemäß gestichelt hatten, ein Kompromiss ausgehandelt, der ganz auf der offiziellen Linie liegt (siehe Volk ans Gewehr“). Die wurde ja mittlerweile durch den von Pistorius vorgelegten Gesetzesentwurf bestätigt. Es soll demnach zunächst keine Wehrpflicht geben, sondern erst dann, wenn man sie braucht und die Kapazitäten zu ihrer Implementierung zur Verfügung stehen. Und auch ein paar Bedenken, ob die Aufrüstung mit der 5 %-Marke solide eingefädelt ist, durften bei einem Antrag zur sicherheitspolitischen Linie der Parteiführung bzw. der Regierung laut werden, fanden allerdings keine Mehrheit. Im Grunde ging es hierbei ebenfalls um ganz konstruktive Bedenken, die auch in Militär- oder Expertenkreisen geteilt und von Bundeskanzler Merz noch im Mai 2025 geäußert wurden: Helfen uns bei der Herstellung von „Kriegstüchtigkeit“ abstrakte Kennziffern weiter? Muss es nicht darum gehen, die „Fähigkeitsziele“, wie sie die Nato definiert hat, sicherzustellen? Ist das, was derzeit die Koalition macht, nicht unsolide Haushaltspolitik, die zudem verpasst, die Bürger über den Ernst der Lage ins Bild zu setzen und sie „mitzunehmen“? Das sind ja auch Bedenken, wie sie die AfD kennt und etwa bei der Schaffung des Sondervermögens 2022 zur Sprache brachte. In der Tat, es wäre ja eine ernsthafte Kalamität für den Standort, wenn das internationale Finanzkapital an der Kreditwürdigkeit der BRD zu zweifeln begänne…

Verteidigungsfähigkeit und Rüstungskontrolle

Die ersten beiden Punkte des Manifests geben, wie die kritischen Randglossen von „Sagt nein“ dargelegt haben, recht ungeschminkt den Standpunkt staatlicher Kriegsvorbereitung wieder, der natürlich stets mit der Vermeidung eines Angriffs aufs eigene Land begründet wird. Kein Staatenlenker in der heutigen regelbasierten Weltordnung – es sei denn deren derzeitiger Hüter im Weißen Haus, der schon einmal mit einem Eroberungsfeldzug gegen Panama, Kanada oder Grönland droht – bekennt sich dazu, ein anderes Land zwecks Einverleibung materieller oder menschlicher Ressourcen überfallen zu wollen. Immer ist es der „böse Nachbar“, der verhindert, dass der „Frömmste nicht in Frieden leben“ kann, oder wie die Spruchweisheiten seit Jahrhunderten lauten. Besagter Nachbar zwingt dazu, das behaupten reihum alle Staaten bei ihren Rüstungsbemühungen, sich gegen einschlägige Versuche von außen zu wappnen. Das Manifest bekräftigt explizit diesen herrschenden Standpunkt und übernimmt auch die offizielle Feindschaftserklärung gegen Russland wegen der Völkerrechtswidrigkeit seines Angriffskriegs. Daher sind die Unterzeichner auch der Meinung, dass die Ukraine unterstützt, also der Krieg verlängert werden muss, wie es Europa unter Absetzung von der neuen US-Linie praktiziert.

Nun hat der Zwölf-Tage-Krieg, den Israel und die USA im Juni gegen den Iran geführt haben, ein „Lehrstück in Sachen Verteidigungsbereitschaft“ geliefert, wie es im Gewerkschaftsforum hieß. Der Fall ist klar, die Völkerrechtler sind sich im Prinzip einig, es war ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg auf ein Land, bei dem Hunderte Zivilpersonen ums Leben kamen, auch durch gezielte Angriffe auf Wissenschaftler oder auf ein Gefängnis. Man kann also festhalten, dass sich die Militärschläge hier in derselben Dimension bewegten wie bei den Hamas-Massakern vom 7. Oktober 2023, die für einen weltweiten Aufschrei sorgten.

Doch im Fall des Iran blieb ein solcher Aufschrei, zumindest in der Öffentlichkeit der „wertebasierten“ Weltordnung, aus. Gerade auch in der Parteinahme Deutschlands für die Initiatoren dieses Angriffskriegs – Israel macht ja laut Kanzler Merz die „Drecksarbeit“ für „uns“ und die Kriegsbereitschaft der USA ist sowieso über rechtliche Einwände erhaben – wurde somit eine definitive Klarstellung zum Programm „Verteidigungsfähigkeit“ geleistet. Sie schließt einen militärischen Angriff auf ein fremdes Land nicht aus, sondern ein. Im Fall des Falles ist eben Angriff die beste Verteidigung. Der geht es ja darum, das militärische Potenzial des Gegners auszuschalten. Da liegt natürlich die Option nahe, einer machtvollen Offensive des Gegners, bevor sie ins Werk gesetzt wird, mit einem eigenen Angriff zuvorzukommen.

Es hängt also ganz an der vorgängigen Parteinahme, ob ein Land ein ins moralische Abseits zu rückender Aggressor ist, wie es in einschlägigen Fällen sonst heißt, oder ob es sich damit gegen einen bedrohlichen Feind verteidigt. Im Fall Israels wurde dazu auf die Achse des Widerstands verwiesen. Diese habe unter Führung des „Mullah-Regimes“ Israel bedroht, so dass Netanjahu das Land verteidigen musste, um einem Angriff zuvorzukommen. Der entscheidender Beleg dafür war – zumindest in Deutschland und den USA –, dass die israelische Regierung seit Jahrzehnten bekundet, sich vom Iran bedroht zu fühlen. Dies ist eine Logik, die sonst natürlich nicht gilt, wie der Text im Gewerkschaftsforum ausgeführt hat: „Wenn die NATO eine Achse der Bedrohung vom Schwarzen Meer bis zum Baltikum gegenüber Russland schafft, darf sich in Moskau keiner mit Bedrohungsgefühlen zu Wort melden, geschweige denn versuchen, die Einkreisung durch das mächtigste und aggressivste Militärbündnis der Welt mit einem Angriff auf die Ukraine zu kontern. Dass Russland das als militärische Verteidigung seiner Interessen versteht, findet man im Westen einfach nur absurd.“

Nur noch eine Anmerkung zum zweiten Programmpunkt der SPD-Dissidenten, zur Rüstungskontrolle. Der Fall Iran hat wieder einmal schlagend den Nutzen der Rüstungskontrolldiplomatie fürs Kriegführen gezeigt: Man weiß aus den Verhandlungen genau über die Bestände des Gegners Bescheid, darüber, wo sie lagern und wie sie geschützt werden, und kann sie dann mit gezielten Schlägen angreifen. Beide Punkte gehören eben zusammen, wie das Agieren der USA in diesem Fall deutlich machte. Trump führte mit dem Iran die Verhandlungen über ein Atomabkommen, unterbrach sie dann mit einem Bombardement, um anschließend die Iraner zur Rückkehr an den Verhandlungstisch (den sie gar nicht verlassen hatten) aufzufordern.

Das Elend der Manifest-Kritik

Auch der dritte Punkt der Manifest-Losung ordnet sich in die normale Kriegslogik ein. Die von den Autoren genannte Notwendigkeit, sich mit dem russischen Kriegsgegner zu verständigen, ist eine Banalität, die freilich in der militaristisch aufgeheizten Öffentlichkeit der BRD für einen Aufschrei gesorgt hat. Dabei dürfte klar sein: Auf irgendeinen Vertrag muss der Krieg ja hinauslaufen, benützbar soll „unsere“ östliche Einflusssphäre schließlich wieder werden. Wozu sonst der ganze militärische Aufwand? Solche abschließenden Gespräche liegen zwar noch etwas in der Ferne, und zwar deshalb, weil die Europäer den Krieg noch nicht abbrechen wollen. Doch die Diplomatie – siehe den Fall Iran mit seinen Atomverhandlungen – muss deshalb nicht unterbleiben. Im Gegenteil, der Nato-Chef im Weißen Haus führt seit seinem Amtsantritt entsprechende Gespräche mit Putin und sondiert Geschäftsgelegenheiten.

Die ganze öffentliche Hetze gegen das Manifest speist sich also aus dem Verdacht, hier würde sich Kriegsmüdigkeit breit machen. Das darf in der Republik auf keinen Fall stattfinden! Die wenigen Verteidiger des Manifest stammen aus der linken Gegenöffentlichkeit, die sich – wie gezeigt – über den antimilitaristischen Gehalt dieses Papiers täuscht bzw. aus bündnispolitischer Perspektive täuschen will. Die Unterstützung der SPD-Dissidenten erfolgt in linken Kreisen allerdings auch nicht konsequent, wie man etwa in der Zeitschrift Sozialismus Nr. 7/8, 25 nachlesen kann. Der ehemalige Gewerkschaftssekretär Klaus Lang schießt dort im Eröffnungsbeitrag zu diesem Thema eine Breitseite aufs Manifest ab, ganz im Sinne des Vorwurfs „Realitätsverweigerung“ von Pistorius. Joachim Bischoff, Mitherausgeber der Zeitschrift, nimmt dann mit einigen zurückhaltenden Bemerkungen die SPD-Dissidenten in Schutz, findet dabei jedoch folgenden Gesichtspunkt besonders wichtig: „Ralf Stegner, einer der Erstunterzeichner*innen des ‚Manifestes‘, macht auf die wahlpolitische Dimension aufmerksam, die bei vielen aufgeregten Debattenbeiträgen ausgeblendet würde: Wenn die SPD nicht Richtung 10 % rutschen wolle, müsse die Partei darüber diskutieren, wie sie sich für Frieden und Abrüstung einsetzt.“ (S. 15)

In der Tat, das ist die erste und hauptsächliche Sorge des Manifests. Es geht ihm darum, dem Niedergang der Partei entgegenzutreten. Man will gegen den Profil-, Wähler- und Mitgliederschwund etwas unternehmen, indem man „die Partei darüber diskutieren“ lässt, wie eine erfolgreiche Strategie gegen den russischen Feind zu fahren wäre. Immerhin, so kommt man in die Öffentlichkeit. Und dann kann man vielleicht eine erkleckliche Anzahl Bürger, die verunsichert sind, „mitnehmen“. Das Sozialismus-Heft zitiert dazu zustimmend Herfried Münkler: „Die westlichen Regierungen müssen sich mit den Anliegen ihrer eigenen Bürger auseinandersetzen, von denen viele keine teure, endlose Auseinandersetzung mit Russland wollen.“ (S. 16) Das kommentieren die Herausgeber so: „Es geht darum, den Mangel einer kohärenten, langfristigen Strategie der westlichen Führungen in Bezug auf Russland aufzuheben“ (ebd.). Eben! Es geht darum, den Krieg gegen Russland zu einem erfolgreichen Ende zu führen und gleichzeitig die SPD als kluge, das Wahlvolk ansprechende nationale Alternative zu präsentieren. Mehr nicht.

 

Anmerkungen:

[1] In den kritischen Randglossen hieß es zu dem erwähnten und von vielen Kritikern als weltfremd angeprangerten Rekurs auf die alte sozialdemokratische bzw. sozialliberale Ostpolitik („Schrittweise Rückkehr zur Entspannung“ lautete die Manifest-Forderung): Die SPD-Dissidenten ignorieren einfach, dass damals „die Entspannungsära zielstrebig durch eine Spannungsphase abgelöst wurde – da der eingeleitete ‚Wandel durch Annäherung‘ seine zersetzende Wirkung entfaltet hatte und folglich wieder härtere Bandagen am Platz waren… Dass also Entspannung ein Modus war, die Systemgegnerschaft gegen den ‚totalitären‘ Osten nicht allein mit militärischen Mitteln auszutragen, sondern – notgedrungen, siehe das ‚atomare Patt‘ – durch Rüstungsdiplomatie etc. zu ergänzen, soll natürlich keiner wissen“. Dankenswerterweise hat J. Bischoff diesen Punkt in seinem Beitrag aufgegriffen und – im Prinzip zustimmend – daran erinnert, dass sich Pistorius in seiner Gegenrede ebenfalls auf den früheren Bundeskanzler Brandt stützen konnte. Brandt habe sich nämlich, so der deutsche „Verteidigungs“-Minister, „seinerzeit zu hohen Verteidigungsausgaben bekannt, weil er wusste, ‚dass man mit der sowjetischen Seite nur aus einer Position der Stärke heraus überhaupt verhandeln kann‘.“ (Sozialismus, S. 14) Als „Politik der Stärke“ firmierte die alte Adenauer-Linie in der ersten Phase des Kalten Kriegs, als noch ein „Roll back“ ins Auge gefasst wurde. Die wurde dann angeblich unter Kennedy in einen ganz anders gearteten Entspannungszustand überführt, den Brandt, Genscher und Co. weiter ausbauten. Bischoff bzw. Pistorius haben hier aber recht: Der offensive Standpunkt gegenüber einem Systemrivalen, der auf „friedliche Koexistenz“ plädierte, wurde im Westen nie aufgegeben, sondern nur wegen der beachtlichen Nachrüstungserfolge des Ostens in eine Strategie des „Containment“ überführt und um Interventionen auf wirtschafts- oder kulturpolitischer Ebene ergänzt. Die Aggressivität gegenüber einer östlichen Großmacht blieb im Westen immer erhalten – von der Gründung der NATO über alle Umbrüche hinweg bis auf den heutigen Tag, wo die Endlösung der Russlandfrage in greifbare Nähe gerückt ist.

[2] Bei der Dritten Gewerkschaftskonferenz für den Frieden in Salzgitter (11./12.25) durfte Stegner dann auf dem Podium auftreten. Eine bemerkenswerte Inszenierung als betroffener Privatmann, die Andreas Buderus kürzlich im Gewerkschaftsforum aufgespießt hat, die aber in der Jungen Welt auf wohlwollendes Verständnis stieß. Angeblich „widersprach Stegner erneut aktuellen Aufrüstungslogiken“ (JW, 15.7.25), dabei bekräftigte er – im Gegenteil – die Position des Manifests, in dem ja die neue „eigenständige“ europäische Aufrüstungslogik gutgeheißen wird. Positiv fand die JW auch, dass Stegner den Palästinensern das „gleiche Recht auf Humanität“ zugestand. Man höre und staune, auch die Elendsbevölkerung dort unten, wo Israel „für uns“ gerade die „Drecksarbeit“ erledigt, hat Rechte! Und das wurde vom Publikum sogar noch beklatscht…

 

 

 

 

Bild: manifest-der-spd-friedenskreise