Corona in deutschen Schlachthöfen! Zustände jetzt plötzlich ein Skandal! Und in den letzten Jahrzehnten war alles in Ordnung??

Von Dieter Wegner

Die schlimmen Zustände in den deutschen Schlachthöfen gibt es nicht erst seit kurzem!

Schon 2006 schrieb der ZDF-Journalist Adrian Peter das Buch: „Die Fleisch-Mafia. Kriminelle Geschäfte mit Fleisch und Menschen“. Das Vorwort „Den Fleisch-Markt transparent und nachhaltig gestalten“ hatte Renate Künast geschrieben, Partei: Die Grünen, von 2001 bis 2005. Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.

Zu dem Buch gab es seit 2006 etliche Veranstaltungen und Lesungen, so auch am 15.11.2012 eine Podiumdiskussion in Oldenburg mit Matthias Brümmer von der NGG Oldenburg, wo der Saal mit 300 Plätzen bei weitem nicht ausreichte. Wo Adrian Peter bedauerte „dass sich trotz jahrelanger Debatte die Verhältnisse in der Branche seit dem Erscheinen seines Buchs „Die Fleischmafia“ 2006 kaum verändert hätten“. Adrian Peter hatte 2006 schon einen Doku-Film gedreht: Die Fleisch-Mafia. (ausgestrahlt im WDR).

Seit 2013 ist Pfarrer Peter Kossen, zusammen mit seinem Bruder, dem Arzt Florian Kossen aktiv gegen die Zustände der Fleisch-Industrie, gegen das Werkvertragssystem mit seinem Subunternehmertum.

Auch schon in 2013 hat Inge Bultschnieder, zusammen mit einigen MitstreiterInnen in Rheda-Wiedenbrück, dem Sitz des Tönnies-Konzerns, die Initiative gegründet: IG Werkfairverträge.

In Gütersloh (direkt angrenzend an Rheda-Wiedenbrück), entstand 2017 das „Bündnis gegen die Tönnies-Erweiterung“.

In Kellinghusen (Holstein) gibt es seit 2016 die Initiative Saustarkes Kellinghusen gegen den Konzern Tönnies, der dort die Schlachterei Thomsen aufgekauft hatte und den Betrieb vergrößerte. 2018 entstand ebenfalls in Kellinghusen der Stützkreis, der es sich zum Ziel machte, die Arbeits- und Lebensverhältnisse der WerkvertragsarbeiterInnen bei Tönnies zu verbessern.

Alle diese Initiativen und Personen skandalisierten die Zustände bei Tönnies und in den Großschlachtereien, vor Ort und allgemein. Am wirksamsten war wohl Pfarrer Peter Kossen mit seiner klaren und scharfen Kritik am System Tönnies – er bewirkte einige Aufmerksamkeit.

Es wurden einige kurze Filme (Dokus) über die Arbeit in Fleischfabriken gedreht, so der von Annette Niemeyer vom NDR, die den rumänischen Werkvertragsarbeiter George Berca interviewte, der sich bei einem Arbeitsunfall mehrere Finger abschnitt. Und dem von Tönnies und der Berufsgenossenschaft Selbstverstümmelung vorgeworfen wurde.

Es gab auch mehrere Konferenzen zum Thema der Arbeitssituation in Großschlachtereien, so zwei in Breklum (bei Husum) und eine in Elmshorn (bei Hamburg), die organisiert waren vom Kirchlichen Dienst der Arbeitswelt (KDA) und dem DGB Schleswig-Holstein.

Man kann also nicht sagen, daß interessierte Bürger und erst recht nicht Politiker nichts wußten über die Zustände in der Fleischindustrie!

Man kann aber sagen, Politiker und Verantwortliche wollten nichts wissen! Die WerkvertragsarbeiterInnen waren für sie Schattenmenschen. Man wollte nicht wissen, daß in der Stadt Menschen wohnen, zu viert in einem Zimmer, mit 250 Euro pro Bett. Die bis zu 16 Stunden am Tag an sechs Tagen die Woche arbeiten mußten. Sklavenarbeiter in Deutschland, „Wegwerfmenschen“ wie Pfarrer Kossen sie nennt. Das zur Kenntnis zu nehmen, störte den Seelenfrieden und den status quo, in dem man sich eingerichtet hatte, gut Freund zu sein mit den Fleisch-Baronen. Verantwortung zu zeigen gegenüber den Zuständen der Schlachtindustrie hätte geheißen, sich seine Freunde zum Feind zu machen. Und für wen? Für die Schattenmenschen und Wegwerfmenschen und die lieben Mitbürger, die auf den Genuß der Billig-Steaks verzichten sollen?

Jetzt, wo die Corona-Pandemie sich massenhaft in mehreren Großschlachtereien in NRW, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Bayern ausgebreitet hat, da stürzen sich die deutschen Qualitätsmedien auf „Experten“ aus den Initiativen für Interviews und stories!

Was ist das System Tönnies?

Warum bezeichnen die Initiativen ihren Kampf als einen gegen das „System Tönnies“? Wo es doch um Werkverträge und Subunternehmer geht? Und um die Bundesregierung und die Landesregierungen, um Parteien und Politiker, die dieses System nicht nur dulden sondern auch fördern und beschirmen.

Es geht in dem Kampf um mehr als Clemens Tönnies und die Firma Tönnies. Tönnies und alle anderen Großschlachtereien sind „nur“ Nutznießer der Werkvertragsmöglichkeit. Es ist erfreulich, wenn Vertreter von DGB-Gewerkschaften jetzt radikalere Töne anschlagen und die Abschaffung des Werkvertragssystems fordern. Bisher argumentierten sie immer mit den Begriffen Mißbrauch und Gestaltung. Hoffentlich schließt sich auch die IGM in Sachen Leiharbeit an und fordert Abschaffung statt Gestaltung!

Am exorbitantesten und skrupellosesten nutzt Tönnies seine gesetzlichen Möglichkeiten aus, hat daraus ein System gemacht. Er hat seine Schlachterei in wenigen Jahren zur größten Schlachterei in Europa gemacht und ist mehrfacher Milliardär. Blutgeld aus dem Leid und Elend von zigtausenden WerkvertragsarbeiterInnen.

Die Möglichkeit von Werkverträgen gibt es seit der Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), seit 1900. Sie waren gedacht als Gewerke, vergeben an andere Handwerksbetriebe, die eine notwendig gewordene, dem Betrieb fremde Arbeit („Gewerk“) ausführen. Werkverträge werden heute jedoch von Großschlachtereien (auch von Baufirmen und Paketdiensten!) benutzt, um bis zu 90 Prozent ihrer Stammbelegschaft zu ersetzen durch WerkvertragsarbeiterInnen, die bei Sub-, Subsub- und Subsubsub-Unternehmern beschäftigt sind – formal als Selbständige. Welch ein Hohn! Ein Selbständiger (!), arbeitend zum Mindestlohn oder darunter, hausend im Mehrbett-Zimmer. Diese seltsame Art von Selbständigkeit ist noch keinem Politiker aufgefallen? Und Werkverträge, die praktisch die gesamte Produktion abdecken, sind die den verantwortlichen Politikern auch noch nicht aufgefallen? Als Selbständige haben sie ja keine Rechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz oder laut Mitbestimmung, kein Tarifrecht gilt für sie. Und an dem Ganzen trägt der Konzern keine Verantwortung – bei Kritik verweist er auf die Subunternehmen.

Falls es um Schuldige geht für das Werkvertragssystem: Die Großschlachtereien sind „nur“ die Nutznießer. Schuldig sind die Parteien und Politiker, die von dem System wissen, es dulden und manchmal auch davon profitieren. Sie dulden es deswegen, weil damit der „Standort Deutschland“gestärkt wird. Deutschland ist zum Fleischparadies Europas geworden. Und zum Exportland. Dänische, holländische und französische Großschlachtereien siedeln sich in Deutschland an wegen des Werkvertragssystems und weil es keine oder nur lasche Kontrollen gibt.

Fleisch-Mafia in Deutschland

Das Werkvertragssystem, besonders bei den Großschlachtereien, wird seit Jahren als mafiotisch bezeichnet. Was funktioniert hier in Deutschland wie die Mafia in Italien? Die Inhaber der Großschlachtereien vergeben Aufträge (Gewerke) an Subunternehmer. Das sind deutsche oder auch Unternehmer aus Rumänien oder anderen osteuropäischen Staaten. Ihre Aufgabe ist es, die verbrauchten ArbeiterInnen mit frischen aus Rumänien, Bulgarien, Polen oder anderen osteuropäischen Staaten auszutauschen. Sie übernehmen auch die Aufgabe, Unterkünfte nahe des Werkes zu beschaffen und für den Transport der ArbeiterInnen zur Arbeit zu sorgen. In den Ohren des Normalbürgers klingt das zwar ein bischen kompliziert, aber die Argumentation von Tönnies&Co wird dann doch akzeptiert, deutsche Arbeiter bekäme man nicht in die Fabrik, deshalb müsse man welche aus dem Ausland holen, diese Dienstleistung erledigten die Subunternehmer. Das wird akzeptiert – auf das preiswerte Steak will niemand verzichten. Wenn dann öfter von Skandalen berichtet wird, vom Verkauf von Gammelfleisch oder schlimmen Zuständen in den Unterkünften, dann waschen die Schweine-Barone ihre Hände in Unschuld und weisen auf die „Schwarzen Schafe“ bei den Subunternehmern.

Wie es jedoch wirklich dort zugeht, beschrieb schon im Jahre 2015 eine ARD-Dokumentation:

Die Fleisch-Mafia – Das geheime Netzwerk der Schlachthöfe (27 Minuten)

https://www.youtube.com/watch?v=yMbQ0D9LaqA

Das System wird charakterisiert mit Begriffen wie: Steuerhinterziehungen in Millionenhöhe, mafiöse Strukturen, vertuschte Skandale, ausgebeutete Arbeiter, geheime Firmen-Netzwerke, Strohmänner, Schweigegelder, Schwarzgeldkonten, Scheinfirmen, ominöse Briefkästen.

Man muß schon ein genauer Kenner der Mafia in Italien sein, um Unterschiede zu Deutschland feststellen zu können.

Was diese Doku der ARD beschreibt, kann man schon in dem bereits erwähnten Buch  „Die Fleisch-Mafia“ von Adrian Peter von 2006 nachlesen.

Warum das System Tönnies so effektiv ist:
  1. a) exorbitante Ausbeutung der WerksvertragsarbeiterInnen durch Niedrigstlöhne
  2. b) Errichtung eines Angst- und Brutalo-Regimes
  3. c) Tönnies kann die Schuld für Mißstände den Subunternehmern zuschieben
  4. d) Tönnies hat ein effektives System gegen seine Kritiker entwickelt: Er bietet Runde Tische an. Er hat 2014/2015 Selbstverpflichtungen unterschrieben, auch zur Abschaffung des Werkvertragssystems – die er nicht einhält. Alles dient dazu, Zeit zu schinden!
  5. e) Tönnies unterhält ein ausgefeiltes Netzwerk mit Politikern auf allen Ebenen: kommunal, Land, Bund, international
  6. f) Mitbestimmung und fundamentale Arbeitsrechte für die Mehrzahl der bei ihm Beschäftigten sind ausgehebelt. Die NGG kann kaum Gewerkschaftsarbeit leisten.
  7. g) Öffentlichkeitsarbeit: Ganz volkstümlich glänzet er als Vorsitzender von Schalke 04 und großzügiger Spender in Rheda-Wiedenbrück.

Zum System Tönnies gehört außerdem, und auch da ist er „Marktführer“, allerhöchste Kontakte zu haben: Wie zu Gabriel (ehemaliger Ministerpräsident von Niedersachsen und Wirtschaftsminister), zu Schröder (ehemaliger Bundeskanzler), zu Carstensen (ehemaliger Ministerpräsident von Schleswig-Holstein), sogar zu Putin als Gasprom-Vermittler bei Schalke 04. Diese Politiker sind nicht nur in der Öffentlichkeit seine Fürsprecher und Beschützer, die deutschen Politiker sorgen auch dafür, daß das System Werkverträge erhalten bleibt und die Subventionen aus Brüssel weiter fließen.

Die Subunternehmer bieten einen Rundum-Service. Sie besorgen in den osteuropäischen Ländern die ArbeiterInnen, besorgen in Deutschland Unterkünfte. Sorgen für den Transport von der Unterkunft zur Arbeitsstelle. Und entsorgen die verbrauchten ArbeiterInnen wieder. Und besorgen Neue, denn die Fluktuation bei hohem körperlichen und psychischen Verschleiß ist groß – eben Wegwerfmenschen!

BR-Vorsitzender: Werkverträge braucht man nicht!

Eine Beschäftigung im Normalarbeitsverhältnis wäre betriebswirtschaftlich ohne Weiteres möglich.

Der Betriebsratsvorsitzende von Vion (Bad Bramstedt/Holstein), ebenfalls einer Großschlachterei, erklärte, daß eine Produktion ganz ohne Werkvertragssystem möglich sei, mittels Arbeitszeitkonten könnten Spitzen bei erhöhtem Arbeitsanfall bewältigt werden.

Schauspiel im Bundestag: „Corona-Skandal in den Schlachthöfen“

Am 13.5.2020 gab es eine Aktuelle Stunde im Bundestag, von den Grünen beantragt. Thema: Werkverträge und Subunternehmer in der Fleischindustrie.

Abgeordnete und Minister bejammerten einen Zustand, den sie selbst mit herbeigeführt haben, durch die Duldung und Förderung der Werkverträge.

Es wurde ein makabres Schauspiel im Bundestag aufgeführt: „Corona-Skandal in den Schlachthöfen“.

Makaber ist, daß das Stück jetzt aufgeführt wird. Der Stoff ist eine alte Kamelle. Makaber und ein Hohn ist weiterhin, daß die Täter in den Rollen von Kümmerern und Krisenlösern agieren. Ob nicht viele Zuschauer hinter die (Corona)-Masken schauen?

Es geht um das System Tönnies, die exorbitante Ausbeutung der WerkvertragsarbeiterInnen durch Subunternehmen. Tönnies ist dabei der Erfolgreichste und Profitabelste, daher der Name: System Tönnies. Zum System gehört auch, das Unschuldslamm zu spielen und den Schwarzen Peter haben die Subunternehmer.

Arbeitsminister Laumann, NRW, ließ 2019 unangemeldete Kontrollen in den dortigen Großschlachtereien durchführen. Es wurden 9.000 (!) Mängel festgestellt. In einem Interview mit der Journalistin Christiane Kaess vom Deutschlandfunk gibt er -zu Recht- die Schuld dem System der Werkverträge. Und verweist auf die Mehrheiten im Bundestag: „Aber der Deutsche Bundestag war ja immer der Meinung in der Mehrheit, dass solche Werkverträge in Ordnung sind. Ich persönlich bin der Meinung, dass das Problem wahrscheinlich in der Struktur liegt, wie wir Schlachthöfe organisieren und wie die Schlachtwirtschaft sich selber organisiert hat“.

https://www.deutschlandfunk.de/corona-hotspot-kein-vertrauen-in-die-arbeitsbedingungen.694.de.html?dram:article_id=476413

Statt daß es am 13.5. eine Stunde der Wahrheit gab, in der die Akteure bekannten: Wir haben alles gewußt aber wir haben über 20 Jahre lang weggeschaut und alles toleriert, machen sie aus der Tragödie ein Schmierenstück. Das ist sehr verständlich, wer streut gern Asche auf sein Haupt, wird vom Paulus zum Saulus?

Minister Laumann attestiert den Akteuren im Bundestag also zu Recht: Ihr seid die Täter!

In den Hauptrollen des Bundestags-Stückes waren Kanzlerin Merkel, die von „erschreckenden Nachrichten“ aus der Fleischindustrie sprach. Ihr Arbeitsminister Heil (SPD) sagte: „Wir werden aufräumen mit diesen Verhältnissen.“ Und Hofreiter von den Grünen verlautete: „Die Betriebe müssen häufiger und besser kontrolliert und die Hauptverantwortlichen der Konzerne konsequenter zur Rechenschaft gezogen werden“. Für alle, die die Zustände in den Schlachthöfen kennen, sind diese Aussprüche und Zitate unglaubhaft. Für sie ist die Aufführung der Staatsschauspieler nur makaber. Für sie ist es eine Tragödie, die sich seit über 20 Jahren abspielt. Aktuell gibt es zwar viele Infizierte, die in Quarantäne müssen, aber wirkliche Opfer gibt es seit Jahrzehnten: Verletzte, Verätzte, körperlich und psychisch Kaputte!

Von den osteuropäischen WerkvertragsarbeiterInnen wird sich wegen mangelnder Deutschkenntnisse keine/keiner das Stück im Bundestag angeschaut haben. Was wären ihre Gedanken, falls jemand es ihnen gedolmetscht hätte? „Diese Leute haben doch all die Jahre geduldet, daß wir nicht gleichgestellt waren mit der Stammbelegschaft. Das sind doch nur Krokodilstränen und keine echte Besorgnis um uns. Und jetzt sind sie durch Corona gezwungen, über uns zu diskutieren! Und werden sie was ändern? Auf welcher Seite stehen sie, auf Seiten der Fleisch-Barone und Subunternehmer oder auf unserer?“

Nachdem die Grenzen offen waren für ArbeiterInnen aus den osteuropäischen Ländern, schafften die Großschlachtereien die Normalarbeitsverhältnisse mit Stammbelegschaften ab zugunsten von WerksvertragsarbeiterInnen aus Polen, Rumänien, Bulgarien. Jetzt ist es so, daß bis zu 90 Prozent der Belegschaften aus WerkvertragsarbeiterInnen bestehen. Damit wurden nicht nur gewerkschaftliche Strukturen in den Betrieben beseitigt. Die Rest-Stammbelegschaften hatten keine Durchsetzungsmacht mehr, bestimmend sind als Maßstab die WerkvertragsarbeiterInnen mit ihrem Mindestlohn. Auch die NGG setzte als sozialpartnerschaftliche Organisation -bisher-  auf sozialen Frieden in Betrieb und Gesellschaft und schlug nie Alarm.

Gewerkschaftssekretäre wie Matthias Brümmer in Oldenburg, Ostfriesland – der selbst einmal Schlachter war – dürften eine wohltuende Ausnahme sein.

Gewerkschaftsleben findet in den Großschlachtereien nur noch selten statt, was entstanden ist, sind Beratungsstellen durch Arbeit und Leben, Fair Mobility (DGB, mitfinanziert durch Bund), die von Pfarrer Peter Kossen in Lengerich gegründete Beratungsstelle, ALSO in Oldenburg, Caritas (soweit MitarbeiterInnen osteuropäischer Sprachen vorhanden waren) und einzelne Ansprechpartner, die die Sprachen der ausländischen KollegInnen sprechen. Es wird beraten und geholfen in der schwierigen sozialen Lage, in der sich die Opfer des System Tönnies befinden. Aber es kann nicht geworben werden für eine gewerkschaftliche Organisierung. Aber um Organisierung, Kollektivität, Aufbau von Widerstand ginge es, die Aufhebung des Werkvertragssystems wäre dafür die Voraussetzung. In den USA gibt es das politische Schlagwort und die Praxis (!) der Organisierung der Nicht-Organisierbaren. Damit sind hauptsächlich Frauen aus Lateinamerika in der Fischindustrie gemeint. Bei den SchlachthofarbeiterInnen in Deutschland ist die Voraussetzung für die Organisierung der Unorganisierbaren die Abschaffung des Werkvertragssystems.

Zustände in Schlachthöfen waren unbekannt und unbegreiflich!

Wir vom Jour Fixe Gewerkschaftslinke unterstützen seit 2005 KollegInnen bei ihren konfliktiven Aktivitäten im Betrieb oder Streiks. Erst im Stützkreis Kellinghusen erfuhren wir durch authentische und konkrete Schilderungen von den Arbeits- und Lebensbedingungen der ArbeiterInnen bei Tönnies, die wir in unserer Republik nicht für möglich gehalten hatten. Es sind tatsächlich Schattenmenschen, die nicht auffallen und die nicht auffallen sollen, Wegwerfmenschen für die Firma und die Subunternehmer.

Auch der Stützkreis war aus Erschrecken und Empörung entstanden: So etwas gibt es mitten unter uns, in unserem Kellinghusen?!

Bisher war es uns immer möglich gewesen, Kontakt zu aktiven KollegInnen aufzunehmen. Das war bei Tönnies in Kellinghusen nicht möglich, die rumänischen WerksvertragsarbeiterInnen lebten isoliert, nicht integriert, konnten kein Deutsch. Seltener Kontakt war nur über eine rumänisch sprechende Unterstützerin möglich.

Integration wird erst möglich sein, wenn das Werkvertragssystem mit dem Subunternehmertum abgeschafft wird. Wenn die osteuropäischen KollegInnen unter das Betriebsverfassungsgesetz und das Mitbestimmungsgesetz fallen. Wenn ihnen menschenwürdige Wohnungen zugestanden werden.

Cleverer Clemens: Wende um 180°! – Oder doch nicht?

Clemens Tönnies reagierte nach der aktuellen Stunde im Bundestag prompt!

Man konnte sehr verblüfft sein, als man beim WDR am 15.5. von einem Rainer Striewski in einem Artikel „Lockerungen nun auch im Kreis Coesfeld“ ganz nebenbei im letzten Satz erfuhr: „Clemens Tönnies habe sich laut Laumann in einem Brief auch für die Abschaffung der Werkverträge ausgesprochen – wenn die Regelung für alle gelte“.

Was bezweckt Clemens Tönnies mit seiner Kehrwendung um 180°? Mit seinem früheren Weg, der Selbstverpflichtung der Schweinebarone von 2014/15 ist er ja gut durchgekommen. Sie brauchten nichts liefern, konnten aber immer auf die Selbstverpflichtung verweisen. Und speziell Clemens Tönnies bot, immer wenn Kritik aufkam, Runde Tische an. Mit mehr oder weniger Erfolg. Er setzte erfolgreich auf Zeit!

Der Corona-Virus und die Infizierung in den Schlachthöfen machten ihm einen Strich durch die bisherige Rechnung, die er zweifellos noch etliche Jahre fortgesetzt hätte. Die massenhaften Corona-Fälle in etlichen Schlachthöfen wurden Medienereignisse, am 13.5. im Bundestag behandelt. Jetzt schaltete er blitzschnell um, es zeigt sich, daß er nicht umsonst der Primus der Schweinebarone ist!

Den BürgerInnen der Republik werden innerhalb weniger Tage Begriffe wie Werkvertragssystem und Subunternehmer sehr geläufig, die Ausbreitung von Corona wird darauf zurückgeführt. Viele Abgeordnete von SPD, Grünen, Linkspartei, CDU sprechen sich gegen das Werkvertragssystem aus, bis hin zur Abschaffung.

Tönnies bezweckt zweierlei: Einmal will er das Thema, die Zustände in der Fleisch-Industrie, möglichst schnell aus der medialen Schußlinie nehmen, zweitens will er mit am Tisch bei der Modellierung des Werkvertragsgesetzes für die Fleischindustrie sitzen. Denn er weiß natürlich, daß es zu einem Kompromiß kommt, trotz der radikalen Sprüche einiger Politiker oder Minister. Und er strebt natürlich an, daß die großen Fleisch-Konzerne bei dem Kompromiß besser wegkommen als die kleineren Schlachtereien. Das nennt man Marktbereinigung. Ist Tönnies doch gerade bestätigt worden, daß er systemrelevant sei!

Nun erfahren wir heute (20.5.2020), daß das Kabinett beschlossen hat, für Großschlachtereien die Werkverträge abzuschaffen und für kleinere Schlachtereien nicht. Wir dürfen gespannt sein, inwieweit Tönnies&Co werden Einfluß nehmen können bei Arbeitsminister Heil, der das Gesetz auszuarbeiten hat. Oder wie sie innerbetriebliche Umgestaltungen vornehmen werden, um ihre hohen Profite zu wahren.

Clemens Tönnies fährt – scheinbar – einen Zickzack-Kurs. Aber nur scheinbar! Er handelt reagierend auf die jeweilige politische Situation: Am 14.5., einen Tag nach der Aktuellen Stunde im Bundestag bietet er noch an, auf Werkverträge ganz zu verzichten.

Laut Zeit online vom 20.5.2020 schreibt er an Minister Heil: „Ein generelles Verbot von Werkverträgen in der Fleischwirtschaft hätte massive, strukturell-negative Veränderungen für die Agrarwirtschaft zur Folge.“ Und er bietet an, „seine Fachexpertise in den Gesetzgebungsprozess“ einzubringen, damit Werkverträge nicht abgeschafft, sondern „fair“ gestaltet würden.

Ähnlich reagiert die Fleischindustrie und die hinter ihr stehenden Politiker. Ralf Brinkaus, CDU-Fraktionschef im Bundestag, Abgeordneter aus Rheda-Wiedenbrück und gut bekannt mit Tönnies, schreibt in der Rheinischen Post, die Große Koalition müsse „sehr ernsthaft daran arbeiten, wie wir das Konstrukt der Werkverträge zielgenau für die Fleischindustrie einschränken können“.Also nur noch „zielgenaue Einschränkung“ statt Abschaffung.

Sowohl CDU/CSU und FDP als auch der Verband der Fleischindustrie praktizieren, wie seit Jahrzehnten, die „Schwarze Schafe Theorie“. Der Verband „wies pauschale Verurteilungen der gesamten Branche zurück“. (Sächsische Zeitung vom 19.5.2020). Ob diese Theorie noch jemand glaubt, wo jetzt bekannt ist, daß in jeder Großschlachterei 20 bis 90 Prozent der Beschäftigten WerkvertragsarbeiterInnen sind? Die Theorie müßte umgekehrt werden, in eine Weiße Schafe Theorie!: Ein paar weiße Schafe in der Herde der schwarzen Schafe! Zu den -wenigen- weißen Schafen gehören die kleineren Schlachtereien: Brand in Lohne, Schulte in Lastrup und Böseler Goldschmaus in Garrel. Sie haben Stammbelegschaften und sorgen für menschenwürdige Unterkünfte ihrer Beschäftigten. Und ihre Profite scheinen ausreichend zu sein – seit Jahrzehnten!

Ein zentraler Punkt sind häufigere und strengere Kontrollen in den Großschlachtereien. Der Landtagsabgeordnete Kay Richert, Sprecher der FDP- Landtagsfraktion für Arbeitsmarkpolitik, Wirtschaft und Verkehr, wurde am 8.2.2020 auf einer Tagung von DGB und KDA (kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt) in Breklum (Nordfriesland) gefragt, warum „sein“ Minister, Dr. Bernd Buchholz, FDP nicht auch unangemeldete Kontrollen -wie sein Amtskollege Laumann in NRW- in den schleswig-holsteinischen Schlachthöfen veranlassen könnte? Die lapidare Antwort: Keine Kapazitäten!

Er hat insofern Recht, als in den vergangenen Jahren auch Vertreter des Zolls, der Polizei, der Justiz und der Agenturen für Arbeit über zu wenig Personal für Kontrollen geklagt haben. Aber Minister Laumann hatte bewiesen, daß trotzdem bei entsprechendem Willen, große unangemeldete Kontrollen möglich waren!

Wir dürfen gespannt sein, wieviel tausend Kontrolleure bei Zoll, Polizei, Justiz und der Agentur für Arbeit demnächst eingestellt werden!

Auf jeden Fall ist die Aufgabe der Initiativen gegen das „System Tönnies“ keineswegs vollendet! Im Gegenteil. Die Gesetzesänderungen, deren genaue Ausformung und Verabschiedung auch erstmal abzuwarten ist, werden voraussichtlich den Handlungsspielraum für Gewerkschaften und Exekutive erweitern. Unsere Beobachtungs-, Veröffentlichungs- und Skandalisierungsaufgaben bleiben unverändert. Das bleibende Ziel, die menschenunwürdigen Zustände der WerkvertragsarbeiterInnen bei der Arbeit und beim Wohnen zu beseitigen, wird noch viele Auseinandersetzungen und Kämpfe erfordern.

Ein erster Schritt dahin ist mit der geplanten Abschaffung des Werkvertragssystems getan. Unsere Erfahrungen seit vielen Jahren mit dem System Tönnies werden uns bei der Beobachtung der Umsetzung von Nutzen sein. Ein Zusammengehen aller dabei, ob aus gewerkschaftlicher, kirchlicher oder zivilgesellschaftlicher Richtung wird weiter notwendig sein. Und erfreulich ist, daß gute Kontakte bei unserem gemeinsamen Kampf zu Tierschutz- und Tierrechtsgruppen entstanden sind! Die Kontrollen der Schlachtbetriebe waren bisher lasch. Es kommt jetzt darauf zu beobachten, ob sich das bessert. Und es geht nicht nur um Werkverträge in Großschlachtereien sondern auch in allen anderen Branchen.

Uns ist aber auch klar, daß nicht wir Initiativen es waren, die die Mauern des Werkvertragssystems zum Einsturz brachten sondern der Corona Virus, der erst massenhaft ausländische KollegInnen in den Großschlachtereien anstecken mußte.

Es wird jetzt Aufgabe der Gewerkschaften (NGG) sein, Mitarbeitervertretungen mit den ausländischen KollegInnen in den Großschlachtereien aufzubauen! Eine große Aufgabe, ein weites Feld. Eine große Chance, Verlorenes wieder aufzuholen!.

Dieter Wegner, aktiv bei Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg

 

 

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem demnächst erscheinenden Buch der Buchmacherei (Berlin):
„Das Schweinesystem. Aufhebung der Werkverträge und des Subunternehmertums!“

Veröffentlicht am 23/05/2020 von Redaktion — gewerkschaftslinke hamburg
Bild: nrw linke.de