In den Metropolen des Nordens trifft das SARS-CoV-2-Virus („Corona-Virus“) auf einen Gegenwartskapitalismus, der sich schon vor der Pandemie in keinem guten Zustand befand. Soziale Ungleichheit, Klimakrise, Rechtspopulismus und andere Missstände prägten ihn. Daher ist und bleibt die immer wieder durchbrechende Sehnsucht nach der Normalität der guten alten Vorkrisen-Zeiten mehr als problematisch. Zielführender wäre die Rückbesinnung auf die weitgehend verstummte Transformations-Debatte, vor allem auf Überlegungen zu einem neuen Wachstumsmodell und neuen Formen demokratisierter Arbeit und Wirtschaft.
Eine solche Perspektive weist über das hinaus, was heute – innerhalb wie außerhalb der Organisationen der abhängigen Arbeit – als gewerkschaftliche Aufgabe betrachtet wird. Weitgehend vergessen scheint, dass die Gewerkschaften sich als reformistische Schutzorganisationen der Lohnabhängigen die gegen die wirtschaftliche und soziale Übermacht des Kapitals gegründet haben; dass sie sich aber lange Zeit auch als Akteure der Überwindung des Kapitalismus verstanden.
Hier war die berühmte Formulierung von Karl Marx aus seiner Schrift „Lohn, Preis und Profit“ prägend. Dort heißt es: „Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ (MEW Bd. 16, S. 152)
Ob und wie sich diese Doppelaufgabe aus täglichem Interessenschutz und Abschaffung des Lohnsystems in konkrete Politik übersetzen sollte, gehörte zu den Dauerthemen gewerkschaftlicher Strategiedebatten. Das ist heute anders. Von einer Politik der „Überwindung“ des Lohnsystems oder der kapitalistischen Produktionsweise ist in Programmatik und Politik der heutigen Gewerkschaften keine Rede mehr. Warum das so ist, ist nicht leicht zu beantworten. Es zu diskutieren, wäre ein eigenes Thema. Klar ist: Aus marxistischer Sicht ist diese historische Entsorgung der Kapitalismusüberwindung fatal. Nichts spricht aus unsrer Sicht dafür, dass der globale Kapitalismus die Gattungsprobleme unserer Zeit, vor allem Armut und Ausbeutung, Naturzerstörung und Klimakollaps sowie rassistische und sexistische Unterdrückung und Demokratiezerstörung, zu lösen in der Lage ist.
Doch das ist heute nicht, oder nur indirekt unser Thema. Hier soll ein anderer Akzent gesetzt werden. Die Dringlichkeit der Pandemiebekämpfung wie die Abwendung des Klimakollapses geben uns eine Problemagenda vor, die sofortige Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensweise erzwingt. Gefordert ist m. E. eine sicherlich radikaler, vor allem aber beschleunigter Reformismus. Er würde den Kapitalismus wohl nicht beseitigen, müsste aber für einen Pfadwechsel der sozial-ökonomischen Entwicklung sorgen. Ein Wechsel in Richtung auf mehr soziale, ökologische und auch epidemiologische Nachhaltigkeit.
Doch selbst das wird nicht ohne Eingriffe in die kapitalistischen Eigentums- und Verfügungsrechte machbar sein. Mit anderen Worten: Ein solcher Pfadwechsel ist ohne eine umfassende Demokratisierung der gesellschaftlichen, vor allem der ökonomischen Verhältnisse nicht zu haben. Das ist die zentrale These meines Vortrags. Demokratie ist der Schlüssel, der die Tür zu einem anderen gesellschaftlichen Entwicklungsmodell öffnen muss. Die ökologische Transformation und die Demokratisierung von Arbeit und Wirtschaft müssen Hand in Hand gehen, oder beide werden scheitern.
Ich möchte wie folgt vorgehen: Nach einer Erörterung des gesellschaftlichen Charakters der Corona-Pandemie werde ich einige Einschätzungen zur gegenwärtigen Krisenpolitik formulieren. Dem schließt sich die Benennung von Essentials einer kapitalismuskritischen Pfadwechselpolitik an. Sie erheben keinen Anspruch auf eine stringente, durchbuchstabierte Strategie. Vielmehr betonen sie ausgewählte Politikfacetten, die m. E. in der Debatte der Linken innerhalb wie außerhalb der Gewerkschaften zu kurz kommen.
Die Coronakrise und der Gegenwartskapitalismus
Gegenwärtig, also im Herbst 2020, dominiert der Kampf gegen die Corona-Pandemie nahezu alles. Aus marxistischer Perspektive ist es zwingend, die Pandemie als gesellschaftliches Phänomen und nicht unabhängig von der Dominanz des neoliberalen Kapitalismus in der Weltgesellschaft zu betrachten. Natürlich: Das Virus ist weder kapitalistisch noch neoliberal. Aber die Pandemie und ihr Verlauf sind geprägt durch den neoliberalen Kapitalismus. Die kapitalistischen Verhältnisse prägen Entstehung, Verlauf und Auswirkungen der Coronakrise mehr als die öffentlichen Debatten es erahnen lassen. Systemisch, im Sinne von kapitalistisch, ist die Coronakrise daher in mehrfacher Hinsicht.
- ∙Zum einen gilt als erwiesen, dass die fossilistisch-kapitalistische Produktions- und Lebensweise zunehmend Biodiversität und intakte Ökosysteme bedroht und damit Krankheitsausbrüche bis hin zu Pandemien befördert. Vor allem das Vordringen der Menschen in bisher lediglich von Tieren bewohnte Flächen und Regionen intensiviert den Tier-Mensch-Kontakt und befördert das Überspringen von Tierkrankheiten auf den Menschen. Mechanismen der „kapitalistischen Landnahme“ (Klaus Dörre) greifen im ursprünglichen, weil räumlichen Sinne und dringen in immer weitere Bereiche bisher nicht kapitalisierter Sphären vor. Das alles befördert als „zoonotisch“ bezeichnete Epidemien.
- ∙Der Kapitalismus prägt die Pandemie aber auch durch die kapitalistische Globalisierung. Die globale Integration von Ökonomie, Politik, Kultur und Kommunikation hat mit dem Kapitalismus eine neue Qualität erreicht. Nicht nur Finanz- und Kommunikationsnetze sind heute engmaschig wie nie. Auch die industrielle Wertschöpfung ist längst ein globales System mit regionalen Verdichtungen. Die Netzwerke von Wertschöpfung, Handel und Dienstleistungen liefern die Kanäle, über die sich das Virus mit hoher Geschwindigkeit verbreitete. Hinzu kommen die Gewohnheiten der kapitalistischen Lebensweise. Vor allem der Massentourismus wirkte als Vehikel der Pandemie. Ohne die kapitalistische Globalisierung wären Ausmaß und Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus kaum denkbar gewesen.
- ∙Die kapitalistische Produktions- und Lebensweise verteilt aber auch Krisenrisiken und vor allem die sozialen Ressourcen, mit denen die Individuen diesen begegnen, höchst ungleich. Entscheidend sind Status- und Klassenstrukturen. Der Corona-Virus mag für alle menschlichen Organismus gefährlich sein. Doch Vorerkrankungen, (Arbeits-)Belastungen, körperliche und geistige Fitness usw., bestimmen nicht ohne Grund über die Zugehörigkeit zu Risikogruppen, die einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind. Die daraus resultierenden Erkrankungsrisiken und Gesundheitschancen folgen signifikant der Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und Bildung.
Dieser Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Gesundheitschancen gilt übrigens auch für die Arbeitswelt. Auch dort entfalten sich gesundheitliche Risiken entlang von Wirtschaftszweigen und Branchen, aber auch von betrieblichem Status und Hierarchien. Die Coronakrise hat dies erneut sichtbar gemacht. Die Kräfte in den Gesundheits—und Pflegesektoren waren einem signifikant höheren Infektionsrisiko als die Durchschnittsbevölkerung ausgesetzt; die Beschäftigten in der industriellen Produktion konnten sich weniger schützen als administrative Beschäftigte und in der Regel höherqualifizierte Expert*innen im Homeoffice; Personen ohne Hochschulabschluss und Beschäftigte in der Produktion waren häufiger von Kurzarbeit und den damit verbundenen Einkommenseinbußen betroffen.
Krisenpolitik als Klassenpolitik
Die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen der Pandemie werden erst im Zeitablauf erkennbar sein. Die Corona-Unterbrechung traf auf eine Ökonomie, die bereits ins Stocken geraten war und mit Strukturproblemen zu kämpfen hatte. Doch die abrupte Vollbremsung vieler wirtschaftlicher Aktivitäten führte die Weltwirtschaft endgültig in eine Krise historischen Ausmaßes. Im April des Jahres 2020 sagte der Internationale Währungsfonds (IWF) einen Wachstumseinbruch der Weltwirtschaft von 3 Prozent und der entwickelten Ökonomien von 6,1 Prozent voraus. Für die USA wurde der Rückgang auf 5,9 Prozent, für die Euro-Zone auf 7,5 Prozent geschätzt, wobei den vier wichtigsten Volkswirtschaften (Spanien minus 8, Italien minus 9,1, Frankreich minus 7,2 und Deutschland minus 7 Prozent), die nahezu ein Viertel der Wirtschaftsleistung dieser Zone ausmacht, ein Minus von 7 bis 9 Prozent vorausgesagt wurde. Die Prognosen für das Jahr 2021 fielen dem gegenüber erstaunlich positiv aus. Demnach wachsen die Volkswirtschaften der USA und der Euro-Zone um jeweils 4,7 (Spanien plus 4,3, Italien plus 4,8, Frankreich plus 4,5 und Deutschland plus 5,2 Prozent); die Weltwirtschaft insgesamt wird ein Wachstum von 5, 8 Prozent vorausgesagt.
Auf Seiten des Kapitals wurde die Krise schnell als verteilungspolitische Chance begriffen. Jedenfalls blieben die Interessen der Shareholder trotz Auftragseinbrüchen und abgerissenen Wertschöpfungsketten lange geschützt. Großkonzerne wie BMW, Daimler, Volkswagen und Zulieferer wie Continental gingen mit ansehnlichen Finanzpolstern in die Krise. Insgesamt wuchs das Eigenkapital der DAX-Konzerne im Geschäftsjahr 2019 um vier Prozent auf 656 Milliarden Euro, was einer durchschnittlichen Eigenkapitalquote von stattlichen 34,5 Prozent entspricht. Der operative Cashflow stieg im selben Jahr um gut elf Prozent, was die liquiden Mittel auf 142, 8 Milliarden erhöhte. Davon verfügte Volkswagen über knapp 31 Milliarden, die Telekom über 23 und Daimler über 13 Milliarden.
Mehr noch, aus Sicht der Kapitalverbände schien die Gelegenheit früh günstig, lange gehegte Wünsche nach einer drastischen Deregulierung der Arbeits- und Sozialverfassung zur Grundlage des politischen Lobbyings zu machen. So legte der Arbeitgeberverband der Metall- und Elektro-Industrie »Gesamtmetall« im Mai 2020 gesammelte »Vorschläge für die 2. und 3. Phase der Corona-Krise« vor. Diese sollen das Votum für ein »Belastungsmoratorium« der Unternehmen mit der Forderung nach weitreichenden Eingriffen in Arbeits- und Sozialrechte der Beschäftigten verbinden. In seiner Gänze gleicht das Konzept einem Schuss mit der Schrotflinte auf den Wohlfahrtsstaat. Gefordert werden massiven Einschnitte in der Alterssicherung, der Arbeitsmarktpolitik und das Arbeitszeitrecht.
Auch die betriebliche Mitbestimmung und die Schutzregeln des Arbeits- und Gesundheitsschutzes rückten ins Fadenkreuz. „Eine Beschleunigung der Verfahren nach § 87 BetrVG (ist) erforderlich, etwa bei Verkürzung und Verlängerung der Arbeitszeit, bei der Gefährdungsbeurteilung und beim Gesundheitsschutz. (…) Insbesondere muss auf eine Ausweitung der Mitbestimmung über den Hebel des Arbeits- und Gesundheitsschutzes verzichtet werden. Das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG muss auf seinen Kern beschränkt bleiben und darf nicht als ‚Supermitbestimmungsrecht‘ bei anderen Themen wie etwa der Arbeitszeit, dem mobilen Arbeiten, dem Homeoffice oder der Personalbemessung zur Anwendung kommen.“ Neben der Abwehr angeblich drohender Supermitbestimmungsrechte (sic!) werden zugleich alte, gleichwohl offensive Forderungen nach Bürokratieabbau und Verzicht auf überzogene Regulierungen erhoben. Diese reichen bis zur Aussetzung der gesetzlich fixierten Rangfolge technischer, organisatorischer und persönlicher Arbeitsschutzmaßnahmen.
Wohin fließen die Krisen-Milliarden?
Die Politik reagierte uneinheitlich. In zwei „Sozialschutzpaketen“ mobilisierte die sie Milliarden: für eine materiell aufgestockte Kurzarbeit, eine leichter zugängliche Grundsicherung und Entschädigungen für Eltern, die aufgrund geschlossener Kitas oder Altenheime ihren Erziehungs- und Pflegeaufgaben nachkommen und deshalb von der Arbeit fernbleiben mussten. Auch im viel gescholtenen Konjunkturpaket fanden sich sozialpolitische Leistungen wie der Kinderzuschuss in Höhe von 300 Euro pro Kind, der bei Besserverdienenden mit Steuerfreibeträgen verrechnet werden soll. Weitere Unterstützungen für Familien wurden angekündigt.
Doch Krisenpolitik im Kapitalismus ist immer auch Klassenpolitik. Auch diesmal wurde sie nicht im luftleeren Raum, sondern unter kapitalistischen Verhältnissen definiert und exekutiert. Entsprechend wies die soziale Verteilung der mobilisierten Ressourcen eine verteilungs- und klassenpolitische Schlagseite auf. Der Privatbetrieb ist die dominante Grundeinheit der kapitalistischen Wirtschaft. Wenn eine solche Wirtschaft eine Existenzkrise gerät und die Politik die Wirtschaft nicht transformieren, sondern stabilisieren will, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Krisenmittel in die Betriebe und damit in die Taschen der Betriebsbesitzer*innen fließen. Das kann, muss aber keineswegs zu Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen der Beschäftigten führen.
Es kann also kaum verwundern, dass auch diesmal der größte Teil der Krisenmilliarden der Wirtschaft zufloss, ohne weitreichende Beschäftigungszusagen. Vor allem Großkonzerne profitierten. Hohe Einkommen und großen Vermögen wurden nicht zur Finanzierung herangezogen. Doch spätestens bei der Aufstellung von Tilgungs- und Refinanzierungspläne wird seine verteilungspolitische Brisanz der kapitalistischen Staatsverschuldung sichtbar werden.
Dennoch: Ordnungspolitische Ausrichtung und Dimensionen der Krisenpakete waren mehr als erstaunlich. Der Krisensturm blies hegemoniale Erzählungen wie die von der „Schwarzen Null“ einfach hinweg. Erneut bestätigte sich ein Faktum, das bereits bei den Reaktionen auf die Finanzmarktkrise der Jahre 2008ff. zu beobachten war. Ab einer gewissen Krisentiefe greift ein Not-Pragmatismus um sich, der sich nicht von ordnungspolitischen oder ideologischen Vorprägungen ablenken lässt. Maßnahmen werden (zumindest kurzzeitig) vor allem an ihrem Beitrag zur Vermeidung des ökonomischen Kollapses gemessen. Ökonomische Wirksamkeit, nicht ideologische Konformität avancieren zum handlungsleitenden Prinzip des „ideellen Gesamtkapitalisten“ Staat.
Gewerkschaften und sozial-ökologische Transformation: Orientierungspunkte einer offensiven Interessenpolitik
Und was heißt das alles für die Gewerkschaften? Das Problempanorama, das ich lediglich kursorisch skizziert habe, ist, zurückhaltend formuliert, komplex und anspruchsvoll. Sichtbar wird: Neben einer effektiven, nachhaltigen und sozial verträglichen Bekämpfung der Pandemie bleibt die sozial-ökologische Transformation die vielleicht vordringliche Aufgabe. Nicht nur, aber auch für die Gewerkschaften; und nicht nur für die Marxist*innen in ihnen, aber auch für die.
Heißt das, dass aktuelle Umweltfragen in den Strategien von Gewerkschaften und linken Parteien die traditionellen Klassenfragen verdrängt haben – oder verdrängen sollten. Nein! Nicht nur die Pandemie weist ein klassenpolitisches Profil auf. In kapitalistischen Entwicklungsmodellen sind Klassen- und Naturfragen ineinander verwoben. Kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch muss das Verhältnis von sozialer Klassen- und ökologischer Nachhaltigkeitspolitiken bestimmen. Der viel zu früh verstorbene Elmar Altvater formulierte das so: „Die bisherige Geschichte war eine Geschichte von Klassenkämpfen, schreiben Marx und Engels im ‚Kommunistischen Manifest‘. Das wird auch in Zukunft so sein. Allerdings wird es in den zukünftigen Kämpfen nicht nur um Lohn, Leistung und Quantität und Qualität der Beschäftigung im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft und bzw. oder um deren Überwindung gehen, sondern um Arbeits- und Lebensbedingungen in einer Gesellschaft an den Grenzen der planetarischen Leistungsfähigkeit.“
Ökologie und Lohnarbeit
Für Organisationen wie die IG Metall kann ein solcher Strategiewechsel kaum als geradliniger Fortschrittsprozess verlaufen. Zu sehr sind Mitglieder- und Organisationsinteressen mit der industriell-fossillistischen Wertschöpfung verbunden. Fortschritten folgen fast zwangsläufig Rückschläge. In ihnen kommt eine widersprüchliche Interessenlage der abhängig Arbeitenden zum Ausdruck. Als Erdenbewohner*innen teilen Lohnabhängigen ein generelles Überlebensinteresse an der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlage des Globus. Doch als marktvermittelter Prozess kann die Beendigung der Inwertsetzung der Natur auch mit dem Ende der Verwertung der Arbeitskraft einhergehen. Und das hat unter kapitalistischen Verhältnissen den Verlust von Arbeitsplatz und Einkommen und der Abhängigkeit von staatlichen Lohnersatzleistungen zur Folge.
In der kurzen Frist kann also das kurzfristige Beschäftigungsinteresse mit dem mittel- und langfristigen Überlebensinteresse der Gattung kollidieren. Im Zeitalter des „Kapitalozän“ (Elmar Altvater), in dem die grenzenlose Kapitalakkumulation die Grenzen planetarischer Leistungsfähigkeit zu überschreiten droht, verbinden sich für die abhängig Arbeitenden die sozialen Risiken der Lohnarbeitsexistenz mit dem Risiko des Klimakollapses.
Ökologie der Arbeit
Diese Einsicht liegt den Bemühungen um die Formulierung einer „Ökologie der Arbeit“ zugrunde. Sie versucht Anforderung unterschiedlicher Art in ein Konzept gewerkschaftlicher Arbeitspolitik zu integrieren. Aus dieser Perspektive sind die Gewerkschaften in ihrer gesellschaftlichen Funktion und mit ihrem politischen Mandat mit drei Reproduktionskreisläufen konfrontiert, die Nachhaltigkeitskreisläufe werden müssen: die Reproduktion der Arbeitskraft, die Reproduktion der Gesellschaft und die Reproduktion der Natur. Alle drei Kreisläufe sind höchst relevant, ja essenziell. Es geht um ein neues Wachstums- und Entwicklungsmodell, das sich von kapitalistischen Akkumulationsimperativen befreit, gesellschaftlich und nach demokratischen Spielregeln über Wachstums- und Rückbaufelder entscheidet und zugleich die sozialen und kulturellen Lebensinteressen jener schützt, die zu Verlierer*innen des notwendigen sozial-ökologischen Umbaus werden könnte.
Holistisches Denken und Abschied von der Natureroberung
Eine solche Politik der Arbeitsökologie versucht Schritte in Richtung eines „holistischen Denkens“ zu gehen. Dieses war den Vorläufer*nnen der heutigen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung durchaus nicht fremd. Das galt nicht zuletzt für Friedrich Engels, dessen 200erster Geburtstag in diesem Jahr zur Feier ansteht. In verschiedenen Schriften widmete er sich dem, was er als „Dialektik der Natur“ fasste. Dabei legte er seinen Analysen einen weiten Dialektik-Begriff zugrunde. Dialektik fasste er als „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“, als „die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.“ (MEW Bd. 20. S. 307 und 131f.)
Bei aller Bewunderung für die Dynamik kapitalistischer Produktivkraftentwicklung, die ihm wie Marx zweifelsohne eigen war, warnt Engels vor jenen Interventionen, die im Zeitalter der kapitalistisch-industriellen Moderne der partiellen Logik kurzfristiger Profitorientierung folgen und die längerfristigen Folgen in der Natur vernachlässigen: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. (…) Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“ (MEW. Bd. 20, S. 452f.) Diese Absage an die Erobererperspektive im gesellschaftlichen Naturverhältnis ging der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung im fossilistischen Kapitalismus verloren. Damit auch ein Verständnis, dass den Menschen und seine Produktions- und Reproduktionsprozesse als Teil eines sozio-ökologischen Gesamtzusammenhangs sieht. Es wiederzuentdecken und sich anzueignen gehört zu den wichtigsten Aufgaben progressiver Gegenwartspolitik.
Doch das hätte Konsequenzen. Wenn kapitalistisches Wachstum und Wertschöpfungszuwächse nicht mehr wie im „golden age“ des Kapitalismus zur Verfügung stehen, läuft das auf eine Zuspitzung gesellschaftlicher Verteilungskonflikte hinaus. Zugleich würde die Notwendigkeit von Eingriffen in die Produktions- und Verteilungsverhältnisse deutlich.
Ein neues Wachstumsmodell
Ausgangspunkt sollte die Erkenntnis sein, dass der Gegenwartskapitalismus sich in einer profunden „ökonomisch-ökologischen Zangenkrise“ befindet (Klaus Dörre). Vor allem sein Wachstumsmodell wird zunehmend repulsiv. Es befördert gesellschaftliche Spaltung, indem es die Vermögen der Reichen mehrt und zugleich immer mehr Menschen in prekäre Lebenslagen abdrängt. Und es nimmt die Natur in einem Maße in Anspruch, das ihre Regenerationsfähigkeit überfordert. Daher führen die traditionellen Strategien zur Ankurbelung des Wachstums nicht aus der Krise, sondern weiter hinein.
Doch die generelle Abkehr von jeglichem Wachstum, wie sie mitunter im sogenannten De-Growth-Spektrum aus nachvollziehbaren G wäre auch eine kurzschlüssige Antwort. So sympathisch sie auf den ersten Blick sein mag, sie übersieht, dass die Gegenwartsgesellschaften nicht nur Überfluss-, sondern auch Defizitgesellschaften sind. Umweltschädlicher Luxusproduktion stehen Investitionsrückstände bei sozialer Sicherheit, im Gesundheits- und Sorgebereich, im Bildungs- und Kultursektor und bei der Mobilität von Menschen und Gütern gegenüber. Sie zu beheben erfordert weiterhin die Produktion von Gütern wie Zügen, Bussen und Autos; und von sozialen Diensten wie Pflege. Und es erfordert wirtschaftliche Wertschöpfung, die in öffentliche Investitionen in öffentliche Güter umverteilt werden muss. Weder traditionelle Wachstumssehnsucht, noch pauschaler Wachstumsverzicht führen weiter. Zielführend wäre eine Wirtschaft, die nicht unter einem profitgetriebenen Wachstumszwang ächzt, sondern die wächst, wo sie wachsen soll und auf Wachstum verzichtet, wo es die Gesellschaft spaltet oder die Natur überfordert.
Ein solches, gesellschafts- und naturverträgliches Wachstum unterschiede sich grundlegend vom bisherigen. Es fiele wohl flacher aus, da es nicht Wachstum auf Teufel komm raus förderte, sondern nur dort, wo gesellschaftlicher Nutzen zu erwarten ist; es wäre nachhaltiger, da es die Grenzen der Natur als Grenzen des Wachstums akzeptierte; und es müsste sich gerechter vollziehen, indem es die Verliererinnen und Verlierer des Strukturwandels nicht in Arbeitslosigkeit oder Armut abdrängt, sondern ihnen mit gesellschaftlichen Ressourcen neue Perspektiven eröffnet
Solche Ansprüche überfordern den Markt. Er stellt eine Spielanordnung dar, in der private Akteure nach maximalem Profit oder Nutzen jagen und anfallende Kosten auf die Gesellschaft oder die Natur abgewälzt werden können. Und in der wirtschaftliche Macht in politische Vetomacht umschlägt. Sollen gesellschaftliche Gebrauchswerte, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zu Zielmarken werden, sind andere Spielregeln unverzichtbar. Das erfordert politische Eingriffe in die Märkte, bis in die Unternehmensentscheidungen hinein.
Demokratisierte Wirtschafts- und Strukturpolitik
So unverzichtbar Markteingriffe und Machtkontrolle auch sind, unverzichtbar ist auch die Erweiterung des Verständnisses einer progressiven Wirtschafts- und Strukturpolitik. Ein solches Verständnis liegt den Konzepten einer „fundamentalökonomischen Infrastrukturpolitik“ zugrunde. Der Begriff stammt aus der Diskussion der britischen Linken. Er erfasst die institutionellen Voraussetzungen, ohne die komplexe Ökonomien nicht funktionieren können. Dabei geht es um mehr als wirtschaftliche Infrastruktur. Der Kerngedanke ist einfach: Gesellschaftliche Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Wohnen, Bildung, Kommunikation und Mobilität sollten in Form öffentlicher Güter ohne soziale Zugangsschranken bereitgestellt werden. Sie wären als Verbindungselemente zwischen wirtschaftlicher Wertschöpfung und sozialer Wohlfahrt zu begreifen und bedürfen in Strategien der ökologisch-sozialen Transformation einer neuen strategischen Aufmerksamkeit. In Formen des öffentlichen Eigentums organisiert, mit ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet und nach demokratischen Spielregeln verwaltet könnten sie als Ankerpunkte öffentlicher Bedarfe und ihrer Befriedigung zu tragenden Säulen einer ökologisch-sozialen Wirtschaftsdemokratie avancieren.
Nachhaltige Regulierung
Soll ein demokratisiertes Modell des selektiven Wachstums ökologisch nachhaltig bleiben, müssen also dem kapitalistischen Wachstumsdrang Grenzen gesetzt werden. Grenzen, unterhalb derer sich der Strukturwandel der Transformation vollziehen kann – und muss. Wo diese Grenzen liegen und welcher Spielraum der Wachstumsdynamik verbleibt, muss unter Einbeziehung ökonomischer, sozialer und vor allem ökologischer Expertisen gesellschaftlich diskutiert und politisch entschieden werden.
Die so definierten Grenzwerte müssen das Ausmaß an Naturge- und verbrauch markieren, das die Regeneration der Öko-Systeme sichert. Es geht um eine Methode, die auch den „Pariser Grenzwerten“ zum CO2-Ausstoß zugrunde gelegt wurde. Global geltende Öko-Standards müssen politische Ziel- und Grenzwerte setzen, deren Einhaltung über verbindliche Normen und politische Interventionen zu garantieren ist. Grenzwerte dieser Art sind mit Blick auf alle ökologisch relevanten Faktoren denkbar: für Emissionen aller Art, für die Belastung der natürlichen Senken und für die Entnahme von Rohstoffen oder seltenen Erden.
Ausblick
Mein Fazit lautet: Der Versuch, das Recht auf Arbeit in der ökologischen Transformation zu schützen, ist für sich genommen eine Herkulesaufgabe. Die Verbindung mit eingreifenden Maßnahmen in die fossilistische Wertschöpfung macht die ganze Sache zu einer Jahrhundert-Aufgabe. Die heftigen Konflikte um die Frage, ob der strauchelnden Automobilindustrie mit einer Kaufprämie für Autos mit Verbrenner-Antrieben unter die Arme gegriffen werden soll, zeigt, wie spannungsgeladen solche Fragen sind.
Welche Schlussfolgerungen könnten aus der Spannung zwischen Arbeits- und Naturinteressen in der kapitalistischen Ökonomie gezogen werden? Auf jeden Fall, dass politische Allianzen in diesen gesellschaftlichen Settings unverzichtbar sind – und fragile Angelegenheiten bleiben werden. Ein Mindestmaß an Bereitschaft zur wechselseitigen Anerkennung von Interessenlagen, Sichtweisen und Politikpräferenzen ist unverzichtbar.
Zweifelsohne müssen die Gewerkschaften ihre Brücken-Forderungen zwischen Beschäftigung und Umwelt härter auf ihre Tauglichkeit für eine sozial-ökologische Transformation prüfen. Und der Eindruck eines klassenvergessenen krisenkorporatistischen Lobby-Bündnisses zwischen Kapital und Arbeit sollte von Beginn an vermieden werden. Doch auch die Kritiker*innen aus dem Öko-Lager sollten es sich nicht zu leichtmachen. Auch sie sollten sich vor der Unterbewertung der Reproduktionsinteressen der abhängigen Arbeit hüten und die sozialen Zukunftsängste der Industriebeschäftigten ernst nehmen.
Gefragt ist also eine reflektierte bündnispolitische Toleranz. Natürlich darf diese Toleranz das gemeinsame Ziel der sozial-ökologischen Transformation und des Übergangs zu einem neuen Wachstums- und Entwicklungsmodell nicht konterkarieren. Denn dann verlören die Allianzen Identität, Sinn und Berechtigung. Doch unabweisbar ist auch: Angesichts der notwendigen Gegenmacht, ohne die eine sozial-ökologische Transformation nicht gelingen kann, sind breite gesellschaftliche Bündnisse unverzichtbar. Die Gewerkschaften oder die marxistische Linke alleine werden das nicht schaffen. Dass es mitunter schwierig und konfliktreich sein wird, in heterogenen Bündnissen gemeinsame Politiken zu formulieren, sollte nicht entmutigen. Eine Leitlinie für alle Beteiligten an solchen Bündnissen könnte sein, was Marx in der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1864 mit Blick auf die Arbeiterklassen sagte: „Ein Element des Erfolges besitzt sie (die Arbeiterklasse), die Zahl. Aber Zahlen fallen nur in die Waagschale, wenn Kombination sie vereint und Kenntnis sie leitet.“ (MEW 16, S. 12) Die Marxist*innen sollten versuchen, aus ihrer Perspektive an dieser Kenntnis mitzuarbeiten.
Bei dem Text handelt es sich um die transkribierte und überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor am 21. 11. 2020 vor der Marx-Engels-Stiftung (online) hielt. Der Vortragscharakter wurde weitgehend beibehalten.
Dr. Hans-Jürgen Urban, geb. 1961, ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, Privatdozent für Soziologie an der Universität Jena und Mit-Herausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“.
Der Beitrag erschien in den Marxistische Blätter 2_2021 Neue Impulse Verlag GmbH (neue-impulse-verlag.de) und wird mit freundlicher Genehmigung gespiegelt. Bild: https://www.zeitschrift-luxemburg.de/
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