Von Hannes Hofbauer & Andrea Komlosy
Von Woche zu Woche blamieren sich Wirtschaftsforschungsinstitute mit ihren Prognosen. War am Anfang des Lockdowns noch von Produktionseinbrüchen von 2 Prozent für das laufende Jahr 2020 die Rede, sagte man bald das Zehnfache davon voraus. Ähnlich wie bei den Mathematikern in den Corona-Fachstäben, die medizinische Fallzahlen aggregieren, fehlt auch den Rechnern für die zukünftige Wirtschaftsleistung jede seriöse Datenlage. Wie lange bleiben welche Grundfreiheiten und Beschränkungen aufrecht? Welche Art von Mobilität wird wann und wem erlaubt sein? Wann und wie dürfen Handels-, Industrie- und Dienstleistungsmessen stattfinden? Wie sollen Staaten die versprochenen Billionen-Hilfen für alles und jeden zuerst auftreiben und später wieder eintreiben? Welche Kosten verursachen Arbeitslosigkeit und Insolvenzverfahren? Ohne solche Kenntnisse fehlen jeder Gleichung die Zahlen, die ein gültiges Resultat ergeben könnten.
Wir wollen uns in der Folge einem vorhersehbaren, tiefgreifenden Zyklenwechsel widmen, der die Menschheit in ein neues kybernetisches Zeitalter im Sinne einer Verbindung von Mensch und Maschine führt.
Das auf Covid-19 getaufte Corona-Virus beschleunigt einen Prozess, der schon seit längerem im Gang ist. Ehrlicher wäre es freilich, dafür nicht dem Virus die Schuld zu geben oder die Ehre zu erweisen, sondern den verordneten Maßnahmen zu seiner Eindämmung. Das Virus ist in doppelter Hinsicht zum Instrument geworden, gleichzeitig den Staat – bzw. genauer: die Exekutiven – enorm zu stärken und den neuen Leitbranchen ihren Weg zu ebnen. Dass es ausgerechnet ein Virus bzw. dessen Bekämpfung ist, die einer kybernetischen Wende den Weg ebnet, war freilich kein Zufall.
Denn zum einen stößt die herrschende ressourcenverschleudernde Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft an ihre Grenzen; gerade auch im physischen Sinn. Die Zurückdrängung der Wildnis und die Ausbreitung der Massentierhaltung erleichtern viralen Erregern das Überspringen der Tier-Mensch-Schranke, sodass es verstärkt zu unbekannten Seuchenbildungen kommt.
Zum anderen arbeitet der biotechnisch-pharmazeutische Komplex – wie der erfolgreiche Vorgänger, der militärisch-industrielle Komplex – seit Jahrzehnten an seinem Aufstieg. Nun scheint ein Durchbruch bevorzustehen. Von großer Bedeutung dafür war, das Virus in seiner Gefährlichkeit zu überhöhen. Wie bei jedem erklärten Krieg bedarf es einer entsprechenden Feinddarstellung, die Angst verbreitet. Sonst geht keiner hin, sonst befolgt keiner die Maßnahmen. Eine vielfach unterschätzte Drehscheibe in der Lobbyarbeit für diesen Krieg gegen Covid-19 ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die als Sonderorganisation der UNO 1948 gegründete Gesundheitsagentur geriet in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive in die Hände der Pharmaindustrie. Ihre Finanzierung speist sich mittlerweile zu 75 Prozent aus Spenden. Die größten Geldgeber sind die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung und die Impfallianz Gavi, erst an dritter Stelle folgt mit Großbritannien der erste Staat.[1] Neben dem Ehepaar Gates und Sohn ist mit Warren Buffet der drittreichste Mann der Welt im Vorstand der Stiftung, die über ein Kapital von 50 Milliarden US-Dollar verfügt und ihrerseits 75 Prozent der Anteile der Impfallianz Gavi hält, vertreten. Wie keine andere Kapitalgruppe der Welt verkörpert die Gates-Stiftung den Übergang von der Industrie- zum Cyber-Zeitalter. So hält sie in ihrem Portfolio einerseits Aktienpakete der Unternehmen BP, ExxonMobil, Shell, Eni oder Coca Cola und hat andererseits stark in Pharmakonzernen wie Merck, Novartis und Pfizer investiert. Der von ihr mitfinanzierten WHO empfiehlt sie die Vergabe von Aufträgen an die Letztgenannten.[2] Hinter der fragwürdigen Corona-Politik der WHO, der außer Schweden, Belarus und Mexiko fast alle Länder der Welt folgen, steckt also keine Verschwörungspraxis, sondern beinhartes wirtschaftliches Interesse ihrer Geldgeber.
Dies kam auch am 4. Mai 2020 zum Ausdruck, als sich 40 Staaten und Organisationen per Videokonferenz darauf verständigten, 7,4 Milliarden Euro zu sammeln, um sie dem Kampf gegen Covid-19 zu widmen. Laut Homepage der deutschen Bundeskanzlerin soll das Geld, zu dem die BRD 520 Millionen Euro beisteuert, an drei Organisationen verteilt werden: die WHO, die Impfallianz Gavi und die Epidemie-Koalition Cepi. Auffallend dabei ist die finanzielle Präsenz von Bill Gates in allen dreien. Während er als größter Geldgeber der WHO auf diese UN-Organisation enormen Einfluss hat, finanziert seine Stiftung 75 Prozent der als „Öffentlich-rechtliche Partnerschaft“ organisierten Impfallianz Gavi und ist auch bei der „Koalition für Innovation in der Epidemievorbeugung“ (Cepi) finanziell mit an Bord. Der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring schreibt zur Corona-Geberkonferenz vom 4. Mai 2020: „Lange musste Gates der UN und den Regierungen Geld geben, um die Welt mitregieren zu dürfen. Nun dreht sich das um.“ Und weiter: „Wenn Regierungen Steuermilliarden für Gates und das Weltwirtschaftsforum einsammeln, haben die Konzerne die Weltregierung übernommen.“ Die Präsidentin von „Brot für die Welt“, Cornelia Füllkrug-Weitzel, warnte schon Anfang 2017 vor dem wachsenden Einfluss philanthropischer Stiftungen und forderte „rote Linien für die Kooperation (…), um möglichen Risiken und negativen Nebeneffekten vorzubeugen.“ Damals ging es um umfassende und risikoreiche Impfprogramme für Afrika, diesmal geht es um die Welt. Das Prozedere ist ähnlich, kritisiert Füllkrug-Weitzel auch die Covid-Geberkonferenz massiv: „Diejenigen, die sicherstellen, dass die Menschen auch wirklich geheilt werden, die sitzen alle nicht mit am Tisch. Es sitzen die am Tisch, die jetzt verdienen können.“ Beim biotechnisch-pharmazeutischen Komplex laufen viele Fäden in der Gates-Stiftung zusammen.
Als unerlässlich für den Zyklenwechsel vom Industrie- ins Kybernetik-Zeitalter entpuppt sich der starke Staat. Er allein ist es, der den Lockdown verordnen und damit wirtschaftliche Konzentrationsprozesse beschleunigen sowie dirigistisch eingreifen kann. In der Folge profitiert der biotechnisch-pharmazeutische Komplex von Staatsaufträgen in ungeahnter Höhe, sei es für Forschung, Test- und Impfstoffe, Schutzkleidung, Verhaltens- und Trackingtechnologien etc. Diese Zukunftssektoren übernehmen Leitfunktionen für einen neuen kapitalistischen Akkumulationszyklus und sie tun dies, wie alle ihre Vorgänger, mit staatlicher Unterstützung. Dabei paart sich der kybernetische Keynesianismus mit autoritären politischen Strukturen. Beides gemeinsam droht in einen organisierten Kapitalismus zu münden, der sich am chinesischen Modell orientiert.
Krise als Katalysator
Jede Krise trägt eine Chance mit sich. Wenn das Alte zusammenbricht, kann Neues entstehen. Not macht bekanntlich erfinderisch. Schon länger anstehender Modernisierungsdruck kann im Moment der Krise einen entscheidenden Impuls erhalten. Verschiedene Interessen bringen sich in Stellung, wohin der Wandel gehen soll.
Im historischen Rückblick auf das Industriesystem haben zyklisch auftretende Krisen stets neuen Leitsektoren, Antriebstechnologien und Arbeitsregimen zum Durchbruch verholfen. Die dezentrale Produktion des Verlagssystems[3] machte mit der Erfindung der Spinnmaschine um 1780 dem Fabriksystem Platz; aus der Depression des Vormärz führte die Eisenbahn in den Aufschwung der „ersten Gründerzeit“ (1867-1873); nach dem Börsenkrach 1873 war es die Elektro-, Nahrungsmittel- und chemische Industrie, die das nächste Konjunkturhoch einleitete. Die beiden Weltkriege brachten mit der Rüstungsindustrie militärtechnische Zugpferde mit eingebautem Zerstörungspotenzial hervor; im Wiederaufbau sprang dies auf andere Sektoren wie Automobil und Haushaltstechnik über. Die Profitklemme nach dem Wiederaufbauhoch in den 1970er Jahren eröffnete die Suche nach kostensparenden Innovationen: organisatorisch verhalf die Globalisierung der Güterketten, das heißt die Verlagerung der Produktionsstätten in den globalen Süden, der industriellen Massenproduktion zu einer neuen Blüte; technologisch revolutionierten Informationstechnologien die Abläufe in den Verarbeitungsbranchen sowie in dem in den alten Industrieländern überhand nehmenden Dienstleistungssektor. Welches neue Arrangement den Weg aus der globalen Wirtschaftskrise 2007/08 zeigt, lässt sich noch nicht eindeutig beantworten. Bereits hier zeichnen sich Robotik und Künstliche Intelligenz, die umfassende Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche und die Einführung selbst-regulierender Systeme ab, die zum einen immer weniger menschliches Zutun erfordern, zum anderen den Menschen in seiner biologischen Existenz und in seinem Verhalten selbst zum Gegenstand haben.
Die hier skizzierten Konjunkturzyklen, die auch als „lange Wellen der Konjunktur“ nach ihren Erfindern Kondratieff oder Schumpeter bezeichnet werden, sind in zwei weitere zyklische Veränderungen eingebettet. Beim Hegemonialzyklus erleben wir den Niedergang des westlichen Hegemons in Gestalt der USA und den Aufstieg von Ländern des globalen Südens, die sich aus der Rolle als verlängerte Werkbank befreien konnten, zu neuen Zentren. Mit China entsteht ein Anwärter auf hegemoniale Nachfolge. Die zweite Veränderung betrifft die Ablöse des industriellen durch das kybernetische Prinzip der Produktion, die viel langfristigere Prozesse des Wandels in der Menschheitsgeschichte betrifft.
Bisher erlebte die Menschheit in der Evolution vom JägerInnen-SammlerInnen-Dasein zwei große Revolutionen: die neolithische Revolution, die mit der Sesshaftwerdung Landwirtschaft und Handwerk hervorbrachte, und die industrielle Revolution, die mit arbeitsorganisatorischer Spezialisierung und Mechanisierung dem Fabrikprinzip zum Durchbruch verhalf. Mit der Computerisierung kündigte sich bereits in den 1950er Jahren das kybernetische Prinzip an, das mit der Selbstregulierung von Kommunikation und Information generierenden Technologien einen neuen Aggregatzustand der Menschheit einleitet.
Die russischen Risikoforschung- und Foresight-Analytiker Leonid und Anton Grinin und Andrey Korotayev am Wolgograder Zentrum für Sozialforschung arbeiten seit Jahren an Prognosemethoden, um auf der Basis historischer Veränderungen Schlussfolgerungen für wahrscheinliche Zukunftsszenarien zu entwickeln.[4] Ihnen zufolge gehört die Zukunft Technologien, die maximale Anpassungs- und Kommunikationsfähigkeit, Selbststeuerung, Kontrollierbarkeit, Miniaturisierung, individuelle und situative Anpassung sowie sparsamen Ressourcen- und Energieeinsatz gewährleisten. Die Unkalkulierbarkeit des „Faktors Mensch“ in seiner politischen, sozialen und biologischen Form gilt es auszuschalten bzw. zurückzudrängen.
Vor dem Hintergrund der Corona-Krise erhalten diese Szenarien hochaktuelle Bedeutung. Die Foresight-Analysen weisen darauf hin, dass der Medizin- und Biotechnik-Sektor die Trägerrakete der kybernetischen Produktion sein wird, die auf alle anderen Bereiche ausstrahlt. Grinin und Korotayev sprechen vom MBNRIC-Komplex (Medizin, Bio, Nano, Robo, Info, Cognitiv), der nicht nur neue Produkte (z.B. künstliche Körperteile, Medikamente, Impfstoffe, Steuerungs- und Überwachungsgeräte) hervorbringen wird, sondern auch neue Nachfrage nach Optimierung (Gesundheit, Fitness, Schönheitsästethik, genetische Modellierung) und maßgeschneiderter Lebensbegleitung. Dass der Optimierungsgedanke das Tor für Kontroll-, Sicherheits- und Überwachungstechnologien öffnet, die auch andere Zielsetzungen verfolgen, versteht sich von selbst. Das Testset, die Impfung und die Corona-App, stehen stellvertretend für diese, durch die Dämonisierung des Virus erzeugten Bedürfnisse.
Norbert Elias und Michel Foucault haben aufgezeigt, dass die Akzeptanz solcher Verhaltensweisen gar keines staatlichen Zwangs bedarf, sondern sich mit dem Zivilisationsversprechen in die Körper und Psyche der einzelnen Menschen einschleichen kann. Als massenpsychologisches Phänomen haben Theodor Adorno und Max Horkheimer die Anpassungsbereitschaft der Menschen an autoritäre Vorgaben am Beispiel des Faschismus erforscht. Auf diesen Grundlagen erhalten die in den vergangenen Monaten gesetzten Verordnungen und mehr noch das, was an neuen Sozialtechniken als „neue Normalität“ auch nach der Testphase beibehalten wird, ihren Sinn. Sie trainieren den Menschen, damit er im Umgang mit den selbstregulierenden und optimierenden kybernetischen Systemen der Zukunft seine Rolle bestmöglich erfüllen kann. Durch Corona hat sich die Gelegenheit ergeben, diesen Übergang zu beschleunigen, das Virus-Management nimmt die Zukunft bereits vorweg.
Der neue Hegemon: China
Die Rettung aus seit Jahrhunderten zyklisch wiederkehrenden Verwertungskrisen des Kapitals kommt dieses Mal aus China; und dies in doppelter Hinsicht mit dem Vormarsch neuer Leitsektoren und als möglicher zukünftiger Hegemon. Schon vor den medizinisch erhöhten und politisch gehypten Fallzahlen von Covid-19 lagen die wirtschaftlichen Krisensymptome offen da. Die Pfeile für die statistische Darstellung der industriellen Produktion zeigten bereits 2019 klar nach unten. Im Euro-Raum sank der wesentliche Wachstumsindikator von Dezember 2018 bis Dezember 2019 um minus 4,1 Prozent.[5] Und in einem der wichtigsten alten Industriesektoren, der Pkw-Produktion, war der Peak am Ausstoß von Automobilen in den USA sowie der BRD 2016 und in China 2017 überschritten, ab 2018 ging es bergab.[6] Der weltweite Lockdown rafft nun das Schwache in Form von kriselnden Sektoren hinweg und offeriert dem Kapital neue, profitträchtige Branchen.
China ist auf diesem kybernetischen Weg weit vorangeschritten. Robotik und Künstliche Intelligenz spielen dort in der Produktion schon heute eine vergleichsweise große Rolle. Ein Drittel aller Roboter weltweit wird in China verkauft.[7] Dieser wirtschaftliche Vormarsch geht Hand in Hand mit digitalen Kontrollsystemen wie sozialem Tracking beispielsweise über gesichtserkennende Technologien. Mit seiner „Made in China 2025“-Strategie hat Peking einen gigantischen Wirtschaftsplan aufgelegt, der zu einem guten Teil auf Staatsnachfrage und staatlichen Subventionen in genau jene zukunftsträchtigen Cyber-Sektoren beruht und darauf Wert legt, dass in allen strategischen Bereichen mindestens 70 Prozent der Produktion im Inland hergestellt wird. Ein solch merkantilistisch-protektionistischer Zugang lag historisch bislang noch jedem erfolgreichen nachholenden Akkumulationsmodell zugrunde. China ist drauf und dran, alle Ingredienzien für zukünftige Hegemonie beisammen zu haben: technische Führerschaft, ausreichend Kapital und einen starken, autoritären Staat. Dazu kommt noch ein entscheidendes kulturelles Element: die weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz von Kontroll- und Überwachsungsmaßnahmen im Dienste eines staatlich organisierten Kapitalismus. Die viel zitierte westliche Wertegemeinschaft mit ihrer ausgeprägten Skepsis gegenüber derlei staatlichen Eingriffen hat diesbezüglich Nachholbedarf. Es macht den Eindruck, dass dieser mittels staatlich verordneter medizinischer und hygienischer Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise getestet werden soll, um nächstens auch auf soziale Bereiche ausgeweitet zu werden.
Den Fortschritt gestalten, aufhalten, neu definieren?
Spielen wir am Ende Überlegungen durch, wie sich systemkritische Menschen in einer solchen Situation verhalten können. Akzeptieren wir zunächst die Annahme, die kybernetische Wende, ob sie uns gefällt oder nicht, sei nicht aufzuhalten. Foresight-Studien legen nahe, dass dieser „Fortschritt“ unaufhaltsam sei und es darum gehe, sich als Individuum, als Gruppe, als Staat oder als Menschheit möglichst gut darauf einzustellen. Dabei unterscheiden wir zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze. Erstens jene Kräfte, die diesen Wandel im Sinn des größten Profits sowie der Stärkung der (supra-)staatlichen oder behördlichen Regulierung vorantreiben. Alt- und Neu-Liberale stellen Kapital- und Staatsinteressen gerne als Gegner dar, tatsächlich gab es keine historische Phase, in der der Kapitalismus ohne staatliche Begleitung und Unterstützung auskam. Zweitens jene im weitesten Sinn sozialistischen Kräfte, die die technologischen Möglichkeiten als Start in ein neues Zeitalter begreifen, wo Maschinen die schwere, notwendige Arbeit verrichten und die Menschen gesellschaftlich abgesichert Zuwendung, Kommunikation, Wissenschaft, Kunst und Politik betreiben. Marx/Engels im Originalton 1845/46: „Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht herauskann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigem Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“[8] Diese Interpretation des Fortschritts ist, obwohl Marx das Absterben des Staates in Aussicht stellte, eng mit der Erringung von Staatsmacht verbunden. Dies erklärt, warum viele Linke das Revival der Staatsmacht, das mit dem Krisenmanagement einhergeht, als Vorboten eines Sozialismus sehen. Gleichwohl sind sie überzeugt, dass der Sprung ins kybernetische Zeitalter, damit er allen zugutekommen kann, Kämpfe und sozialer Auseinandersetzungen auf nationaler wie internationaler Ebene bedarf, um Umverteilung und einen neuen Gesellschaftsvertrag zu erreichen.
Mit dem Corona-Management haben sich der Staat und jene Wirtschaftssektoren, die aus der Krise gestärkt hervorgehen, in dieser Auseinandersetzung bereits einen strategischen Vorteil gesichert. Sie haben Vertrauen und Gefolgschaft aufgebaut. Es ist jedoch möglich, dass die soziale Katastrophe und die Folgekrisen, die Erwerbsarbeitsverlust, Unternehmenszusammenbrüche und Schulden hervorrufen werden, die Schreckstarre aufbrechen und eine revolutionäre Situation hervorbringen. Darauf können Linke hoffen und dazu beitragen.
Es muss aber auch klar gesagt werden, dass der Fortschritts- und Technologieglaube, der die sozialistische und kommunistische Bewegung begleitet, noch nie auch nur annähernd die Hoffnung auf eine sozial gerechte Gesellschaft erfüllt hat. Immer und unter unterschiedlichsten ideologischen Vorzeichen wurden Technik und Rationalisierung im Sinne der herrschenden Klassen genutzt.
Abschließend stellt sich die Frage, ob es überhaupt Alternativen zur kybernetischen Wende geben kann, oder ob diese Alternativen im Rahmen dieser Wende möglich sind. Die Rede ist hier nicht primär von Eigentumsverhältnissen, denn erfahrungsgemäß gehören nicht nur Lohnabhängige und Erwerbsarbeitslose, sondern auch Kleinbauern, Gewerbetreibende, Klein- und Mittelunternehmen, Genossenschaften und Kommunalbetriebe der Daseinsfürsorge sowie sämtliche Branchen, die als unrentabel gelten, zu den potenziellen VerliererInnen des alternativlos dargestellten Modernisierungsweges in die „schöne neue Welt“. Für sie könnte die Krise eine Chance darstellen, neben der Verteidigung der bürgerlichen Grundrechte und verfassungsmäßig garantieren Freiheiten gegenüber autoritärer Anmaßung, Partizipation im Betrieb und der Gemeinde, Selbstverwaltung, Entschleunigung, weniger Mobilität sowie die generelle Aufwertung sozialer Verantwortung und pflegender Zuwendung in allen Lebens- und Arbeitsbereichen zu verlangen. Die Durchsetzung wird – ebenso wie die Sozialisierung des kapitalistischen Fortschritts – soziale Auseinandersetzung und Kämpfe erfordern, kann aber bereits heute als Schutzmaßnahme vor den Folgen einer in ihren Ausmaßen noch nicht abschätzbaren Krise begonnen werden.
Hannes Hofbauer lebt als Publizist und Verleger in Wien. Von ihm erscheint im Herbst 2020: Europa. Ein Nachruf.
Andrea Komlosy arbeitet am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Von ihr erschien zuletzt: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert.
Anmerkungen:
[1] Tagesschau vom 23. April 2020, siehe: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/who-finanzierung-101.html (2.5.2020)
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Weltgesundheitsorganisation#Finanzierung_und_Interessenkonflikte (2.5.2020)
[3] Das Verlagssystem war ein vorindustrielles Produktionsverhältnis, bei dem ein sogenannter Verleger z.B. in der Textilbranche den Rohstoff an HeimarbeiterInnen ausgegeben (verlegt) hat, die ihn dann versponnen und verwebt haben und anschließend das fertige Produkt an den Verleger zurückgaben, der es auf dem Markt verkaufte.
[4] Leonid und Anton Grinin, The Cybernetic Revolution and the Forthcoming Epoch of Self-Regulating Systems. Moskau 2016
[5] https://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/10159464/4-12022020-AP-DE.pdf/230feac2-5163-30ee-4953-85190a727d16 (3.5.2020)
[6 Lunapark21, Heft 49, S. 5.
[7] https://automationspraxis.industrie.de/news/wo-steht-china-bei-robotik-und-kuenstlicher-intelligenz/ (3.5.2020)
[8] Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie; in: MEW 3, S. 33.
Der Beitrag erschien in Lunapark21, Heft 50 und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt. Weitere Infos: https://www.lunapark21.net/ Bild: pixabay cco