Das Kreuz mit der Wahl – Die Tücken der freien und geheimen Wahl

 Von Frank Bernhardt

Früher galt das nur für rückständige, arme Entwicklungsländer: In diesen „Bananenrepubliken“, so der Vorwurf der ‚wahren‘ Demokraten, mach(t)en die Wähler ihr Kreuz bei den falschen Kandidaten; somit erging für diese Staaten das Urteil, sie wären noch nicht reif für die Demokratie.

Im Zuge der Krisen ist das nun seit einiger Zeit in den Metropolen eingetreten, was dem langjährig bewährten Parteienspektrum nicht gefährlich wurde oder gar als rechte Positionen in den meisten Parteien seinen Platz hatte, ist jetzt zu einem unliebsamen, schlecht auszuhaltenden Problem in der Parteienkonkurrenz geworden. Populisten, Ultranationale bis rechtsextreme Parteien, sind an die Schaltstellen der Macht gewählt worden.

Was ist los in Europa, Amerika etc.? Über Jahrzehnte war es doch Usus, das ungenierte Durchregieren der etablierten Parteien in verschiedenen Koalitionen zu beglückwünschen, nun nimmt eine neue Entwicklung rasant ihren Lauf. Es ist nicht mehr damit getan, das freie und geheime Wahlrecht auszuüben, jetzt wird das Urteil gefällt, ob richtig oder falsch gewählt wurde. Der Falschwähler wird sogleich aus dem Kreis des demokratischen Konsenses ausgeschlossen, seine Stimmabgabe taugt nichts und folglich könnte „Europa sterben“, so der BR-Chefredakteur C. Nitsche (www.br.de v. 9.6.24) in seinem Werbefeldzug zur „Europawahl – Gegen Putin stimmen!“ (alle Zitate aus dem Text). Dazu folgende Anmerkungen.

Russlands Ausweitung der Macht – stirbt jetzt Europa?

Nitsche ruft nicht das russische Wahlvolk zum Wahlboykott seines Präsidenten Putin auf, allerdings sollen seine sonstigen Machenschaften ihn diskreditieren. Der Mann ist ja seit der kriegerischen Auseinandersetzung in der Ukraine zur ‚Inkarnation des Bösen‘ mutiert. Diese Kennzeichnung war eigentlich Adolf Hitler mit dem Verweis auf die Einzigartigkeit seines millionenfachen Ausrottungsprogramms vorbehalten. Mittlerweile gibt es nach dem Faschismus schon einige neue Hitler, aktuell Putin, davor Breschnew, Mao, Milosevic, Saddam Hussein etc. Letzterer war einmal für den Westen brauchbar, später landete er am Galgen.

Bekannt sind dem Herrn Redakteur sicherlich die nationalistischen Zustimmungswerte von etwa 80% für Putin in den Umfragen. Wie jeder Nationalismus produziert auch der russische prinzipielle Zustimmung zu dem, was die Politik beschließt. Das deutsche Volk wird z.B. aufgefordert bei der Europa-Wahl sein Kreuz bei denjenigen Parteien zu machen, die für den Stellvertreterkrieg stehen, den Deutschland mit seinen NATO-Verbündeten auf dem Gebiet der Ukraine gegen Russland seit über zwei Jahren führen lässt. Kriegsgegner aller Couleur sind nicht mehr zu dulden. Und der Krieg, in dem schon Hunderttausende von Toten auf beiden Seiten zu beklagen sind und der trotz hoher Opferzahlen weiterhin mit zig Milliarden für Militärgüter und zusätzlich zur Erhaltung des maroden ‚Pleitestaates‘ vom Westen finanziert wird, geht weiter.

Ein sukzessiv mit immer weitergehenden Boykottmaßnahmen ausstaffierter Wirtschaftskrieg soll „Russland ruinieren“, so die feministische Außenministerin zu Beginn des Krieges. Das Gegenteil ist eingetreten, bisher hält sich die russische Wirtschaft aufrecht und die Deutschlands verharrt im Krisenmodus. Die Produktion der BRD war im Mai vergleichsweise zum Vorjahr rückläufig. „Die deutsche Wirtschaft tut sich schwer, die Stagnation zu überwinden“ (www.tagesschau.de v. 24.6.24), so der Ifo-Präsident C. Fuest. Von Kapitalflucht wird sogar gesprochen, da auch der Mittelstand jetzt mehr im Ausland investiere.

Die Wahl soll Putin „abschrecken“

Bekannt war bis jetzt, dass Abschreckung nur mit modernster Technik bei konventionellen und atomar bestückten Waffen funktioniere. Die Mär, ein massenhaftes Wählen der Regierenden oder der Opposition von CDCSU könne Putin „abschrecken“, ist eher ein frommer Wunsch. Und verfolgt andere Zwecke.

Das Hghlight der Demokratie ist nämlich die Wahl, da wird das Herrschaftspersonal an die Macht gebracht, damit und danach ist der Wähler wieder auf seine ohnmächtige Rolle verwiesen.

Ansonsten führt Putin nicht nur einen Krieg, sondern dazu einen „Informationskrieg“, der schon „viele Jahre“ läuft. Propaganda, Desinformationskampagnen, Intensivierung der Nachrichtendienste etc. – alles hat der Feind in petto, den Freunden der Freiheit soll das total unbekannt sein!?

„Waffen“ entscheiden also nicht allein über Sieg und Niederlage – so der Kommentator -, eine bislang unbekannte Sichtweise, wo doch Teile der Regierungskoalition und der Opposition immer neue Waffen mit größerer Reichweite und Sprengkraft für die Ukraine fordern, um im Krieg eine Wende zugunsten der Ukraine herbeizuführen. Einen „Diktatfrieden“ mit Putin dürfe es nicht geben, so die einhellige Meinung der Verantwortlichen. Vielmehr soll der Souverän zur EU-Wahl an die Urnen gerufen werden, um „dem russischen Aggressor Einhalt [zu] gebieten.“ Wie das funktionieren könnte, bleibt schleierhaft.

Am Wahltag, der alle vier Jahre stattfindet, beauftragt der wählende Staatsbürger die Parteien für den Zeitraum zwischen den Wahlen, unabhängig von den Regierten die Regierungsgeschäfte zu führen. Für diesen einen Tag ist das Volk der Souverän; danach liegt die gesamte Entscheidungshoheit bei den Gewählten, alle Wähler mit ihrem millionstel Anteil sind ausgemischt, die Macht liegt nach der Stimmenauszählung ausschließlich in den Händen der politischen Klasse.

Der schlaue Herr Redakteur weiß gewiss um die vielen Notlagen in dieser Gesellschaft und sieht Ungemach bei der Wahl aufziehen. Die Prognosen zur EU-Wahl für ‚seine‘ wählbaren Parteien waren nicht verheißungsvoll. So identifiziert er die Wähler als nationale Affäre, die ihr Kreuz millionenfach an der falschen Stelle machen. Wo doch das Kreuz an der richtigen Stelle dafür sorgen sollte, sich „gegen Putin“ zu behaupten. Und da zeigt sich der Zweck seiner Litanei: Deutschland – als Weltmachtaspirant zudem wichtiger Teil der Allianz der Kriegsfinanzier – erwartet von seinem Wahlvolk, dass sein Handeln als Kriegspartei im Wartestand mit allen Aufrüstungs- und Kriegsplänen auf breitester Ebene in der Wahl Zustimmung erlangt.

„Steigbügelhalter“

Bekannt ist, nicht alle zur Wahl zugelassenen Parteien halten – diesen – Krieg für das adäquate Mittel und sind damit keine Adresse für die Stimme gegen Putin. Wer bei der AfD und dem BSW sein Kreuz macht, wird daher als Antidemokrat beschimpft, der „Extremisten“ an die Macht wählen will, denn das sind die „Steigbügelhalter eines Diktators, der massenhaft Menschen vernichtet“.

Was im Krieg übrigens für beide Seiten gilt. Beide häufen im großen Stil Kriegsmaterialien in mehr oder weniger langer Friedenszeit an, dann hält eine Partei die Drangsale des Konkurrenten nicht mehr aus und beginnt das Schießen und Bombardieren.

Zum Krieg gehören eben immer zwei verfeindete Parteien. Wobei sich gegenwärtig noch einige als Sponsoren im Hintergrund halten. So hält der Angegriffene diesmal hauptsächlich mit vom Westen gesponserten Tötungsmaterial dagegen. Letztendlich entscheidet die Gewalt, wer Recht hat. Also von wegen, das richtige Wählen hätte irgendeine Bedeutung für Putins Anliegen! Die Russen metzeln ukrainische Soldaten nieder, die ukrainischen Kombattanten machen umgekehrt Dasselbe. Allerdings wird letzteres laut Öffentlichkeit zu etwas ganz Anderem, denn die Ukrainer verteidigen heldenhaft die Freiheit Europas, weil Putin „seine Macht nach Europa auszudehnen“ will. Aus den verantwortungsbewussten Sprachrohren der westlichen Öffentlichkeit tönt es: Nach der Ukraine will Putin das ‚Reich des Kreml‘ auferstehen lassen.

„Gehen wir hin“ zur Wahl!

Die NATO, die sich als ein reines Verteidigungsbündnis aufgestellt hat, verteidigt wie jede Staatsmacht angeblich nur ihr Territorium und ihr darauf lebendes Inventar. Das nahm, wenn man weiter zurückblickt, seinen Lauf für die USA mit der Monroe-Doktrin 1823, mündet im 20. Jahrhundert dann in den Aufstieg zur Welt- und Supermacht. Seitdem ist klar, dass die US-Macht mit ihren überlegenen Gewaltmitteln gegen unliebsame Staaten oder Gruppierungen vorgeht und das als einen „Akt der Selbstverteidigung“ darstellt. Den Anspruch untermauert der aktuelle US-Präsident, wenn er in einem Interview sagt, er „regiere die Welt“ (www.n-tv.de v. 6.7.24). Er reklamiert für die USA das Recht, ihren Willen überall auf dem Globus nach dem Totrüsten und Abdanken des Systemgegners SU erst recht militärisch durchzusetzen. Also ist in dieser Welt die Vormachtstellung der USA durch ein überlegenes Militärpotenzial aufrecht zu erhalten.

Aussagen von Politikern, das Versprechen von Genscher gegenüber Gorbatschow, die NATO nicht über die Grenzen der ehemaligen DDR auszuweiten, waren schnell Makulatur. Hinter der Fassade der ‚bunten Revolutionen‘ zeigt sich immer wieder die Fratze der maßgeblichen imperialistischen Macht, die mittels Geldmacht locker einige Milliarden aufbringt, um damit einen Putsch gegen den gewählten Präsidenten der Ukraine anzuzetteln und sich seit 2014 mit Waffenlieferungen und CIA-Hilfen bis in die Nähe die Westgrenze Russlands ausbreitet. Eine von dort abgefeuerte Rakete braucht nur noch einige Minuten, um in Moskau einzuschlagen.

Die Verkehrung von geopolitischen Interessen in moralische Kategorien – also die Rede vom ‚guten‘ Westen und vom wieder rundum ‚bösem‘ Osten – ist eben nichts als die alte Feindschaft gegen die SU, jetzt mit dem politischen Interesse, die von Russland reklamierte Einflusszone mit Gewalt dem Westbündnis zuzuschlagen. Das was der übermächtige Westen mit seiner NATO nach Weltkriegsende Nr. 2 schon alles an Regime Change, Kriegen und diversen Scharmützeln auf dem Globus angerichtet hat und weiter anrichten kann, bezeugen die fast 800 Militärbasen der USA auf der ganzen Welt. Der Westen nimmt sich zur Verteidigung seiner Werte – unter dem Motto „Demokratie versus Autokratie“ – heraus, unliebsame Herrscher mit Gewalt abzulösen, auch wenn es sich um solche Kaliber wie die Atommacht Russland und das vom Entwicklungsland zur ‚Weltwirtschaftsmacht‘ aufgestiegene China handelt.

Angeblich zündelt Putin jetzt sogar im Kosovo

Neuerdings werden die seit dem Jugoslawienkrieg aufgestachelten Nationalismen im Kosovo, einem Gebilde unter NATO-Besatzung, zum Thema. Die aktuell wiederaufgeflammten Konflikte, die sich der „Befriedung“ durch die NATO verdanken, werden in der hiesigen Öffentlichkeit zu „Zündeleien“ – wie „Experten sie natürlich von Putin“ erwarten. Der könnte so einen „neuen Krieg auch im Zentrum Europas“ anzetteln. Das alles will der Kommentar aus Bayern nun mittels Wahl gegen Putin verhindern.

Deshalb muss der Wähler in aller Eindringlichkeit vor Fehlverhalten gewarnt werden. Wenn die Wagenknecht-Partei sich für Verhandlungen einsetzt, mutiert sie zur „5. Kolonne“ Putins. So einfach geht die Verunglimpfung. Wenn ergo richtig gewählt wird, so der Herr Chefredakteur, kann die „Europawahl also auch eine Wahl gegen Putin sein. Sie muss es sein. Gehen wir hin!“ Das „muss“ verweist auf den Anspruch – nach Jahrzehnten des Friedens -, dass hart durchgegriffen wird. ‚Weicheier‘, die ihr Kreuz an der falschen Stelle machen, sind in diesem Land Putins Agenten, die mit „Propaganda und Desinformation“ vor allen über „Social Media“ auf den „Teil seiner Kriegsführung“ hereingefallen sind. In den herrschenden Demokratien gibt es das alles nicht, hier werden nur objektive Wahrheiten verbreitet, Schön wär‘s!

Wählen gehen, damit wir „wehrhaft“ sind und kriegstüchtig werden!

Alles dreht sich um Gewalt, ohne die diese Gesellschaft schon in Friedenszeiten nicht auskommt. „Wehrhaft sein!“ ist nichts anderes als das Programm, diesen Staat kriegsfähig zu machen; dafür wird ein Milliarden-Aufrüstungsprogramm mit neuen Schulden finanziert, es soll, so der Anspruch, für die Herstellung der Kriegstüchtigkeit in der gesamten Gesellschaft sorgen! Es kann nämlich nicht angehen, dass „nur 35 Prozent“ dieser Gesellschaft „bereit wären, sich auch mit der Waffe in der Hand im Ernstfall zu wehren“, so die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Strack-Zimmermann in der FDP-Pressemitteilung vom 7.3.24.

Die Ansage „Kanonen und Butter“ ist realitätsfern, heißt es ganz offenherzig, „es wäre schön, wenn das ginge, aber das ist Schlaraffenland, das geht nicht.“ (IFO-Vorsitzender C. Fürst in www.taz.de v. 26.2.). Der Spruch erörtert, worauf Hochrüstung und Kriegstüchtigkeit basieren: Die Verarmung der Bevölkerung ist das Mittel für einen aktuellen Krieg in der Ukraine und einen möglichen Krieg in einigen Jahren direkt gegen Russland. Denn „Ernstfall“ heißt Krieg, in den keiner der Politiker ziehen wird, dafür werden die Rekruten, nach den Jahren der Aussetzung des verpflichtenden Wehrdiensts, demnächst vorerst für den „Neuen Wehrdienst“ (www.bmvg.de v. 12.6.24) nach jahrgangsmäßiger Fragebogenaktion in unbrauchbar und brauchbar sortiert und dann dem Wehrdienst zugeführt. Wenn dieses Modell von Pistorius „Auswahlwehrdienst“ (www.sueddeutsche.de v.12.6.24) getauft wird nicht das erwartete Resultat bringt, ist doch selbstverständlich, dass § 12a des GG Anwendung findet, „Männer können“ mit 18 Jahren, „zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet werden.“ Der gemeine Soldat wird in den Krieg ziehen müssen und steht mit seinem Leben für die Anliegen der Politik als letztes Mittel wieder mal gerade.

Deswegen müssen die in Konkurrenz mit unterschiedlichen Anliegen zueinander stehenden Menschen (Unternehmer vs. Arbeiter, Vermieter vs. Mieter, Verkäufer vs. Käufer etc.) in Vorkriegszeiten zu einer Volkseinheit zusammengeschweißt werden, in der alle Gegensätze zwischen diese ökonomischen Charakteren aufgehoben sein sollen. Die Entscheider von oben diktieren ihren Untertanen, wie der Ablauf bis zum nächsten Feldzug gegen die Russische Föderation auszusehen hat, so diese nicht klein beigibt. In erster Linie darf kein Blatt mehr zwischen den Anspruch der Politik und der Stimmung im Volk passen. Der Zusammenschluss zu einer veritablen Kriegsgemeinschaft erfordert strammes Zusammenstehen im Schützengraben und an der Heimatfront, jede Art von Kritik ist dann demokratiefeindlich, wehrzersetzend und gehört strafverfolgt! Ein Vorgeschmack darauf sind die Repressionen gegen Kritiker des fürchterlichen (Vergeltungs-)Krieges Israels gegen die Palästinenser.

 

 

 

 

 

Bild: pixabay cco