Am Morgen des 27. Juli ereignete sich auf dem Gelände des Leverkusener Chemparks eine Explosion, die sieben Menschen-Opfer forderte. Zudem verletzten sich 31 Personen zum Teil schwer. Noch in 40 Kilometer Entfernung von der Unglücksstelle schlugen die Messgeräte des nordrhein-westfälischen Geologischen Dienstes aus, eine solche Kraft hatten die Druckwellen. Die Giftwolke war ebenfalls weithin sichtbar. Eine Warn-Meldung der Kategorie „extreme Gefahr“ setzten die Behörden ab. Die nächsten Wohnhäuser liegen noch nicht einmal einen Kilometer von dem „Entsorgungszentrum“ entfernt. Neue Anlagen dürfen nach den Maßstäben der – von der Industrie massiv bekämpften – Seveso-III-Richtlinie gar nicht mehr so dicht an Siedlungen heranreichen.
Die Detonation ereignete sich in dem Tanklager der Sondermüll-Verbrennungsanlage, in dem nicht nur die Produktionsrückstände von Chemie„park“-Firmen wie BAYER, COVESTRO oder LANXESS, sondern auch externer Unternehmen gesammelt werden, ehe sie in die Brennöfen kommen. Der hochgegangene Tank enthielt nach Angaben des Chempark-Betreibers CURRENTA 14 Kubikmeter phosphor- und schwefelhaltige Substanzen, die aus der Agrochemie-Produktion stammen. Die anderen sieben Tanks, auf die das sofort nach dem großen Knall entstehende Feuer übergriff, waren mit chlorierten Kohlenwasserstoffen, die das Nervensystem, Leber, Niere, Herz und Atemwege schädigen können, und anderen lösemittel-haltigen Fabrikationsresten befüllt.
Da die Explosion auch eine Starkstrom-Leitung durchtrennte, musste die CURRENTA diese erst vom Netz nehmen und erden, bevor die Feuerwehr sich ans Löschen machen durfte, was wertvolle Zeit kostete. Trotzdem gelang es den Löschzügen, das Feuer bis gegen Mittag unter Kontrolle zu bringen und die Flammen nicht auf weitere Tanks übergreifen zu lassen.
Die Feuerwehr mahnte die Bevölkerung eindringlich, die niedergehenden Ruß-Partikel nicht zu berühren, kein befallenes Obst und Gemüse aus den eigenen Gärten zu essen und verschmutzte Gegenstände nicht selbst zu reinigen. Die Stadt Leverkusen sperrte alle Spielplätze, und die Landwirt*innen der Umgebung behielten ihre Kühe in den Ställen. Eine Größe von bis zu zwei Zentimetern erreichten die Flocken und waren nicht ohne: Mitunter fraßen sie sich durch die Schutzschicht von Autolacken.
Das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (LANUV) machte krebserregende Substanzen wie Dioxin, PCB und Furane in dem Schwarzen Regen aus, gab allerdings drei Tage später Entwarnung. „[E]ine nur geringe Schadstoff-Belastung“ stellte die Behörde fest. „Bei den Stoffgruppen der Dioxine (einschließlich dioxin-ähnliche PCB) wurde die Bestimmungsgrenze nicht erreicht. Bei den Polychlorierten Biphenylen (PCB) und den polyzyklischen Aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) wurden sehr geringe Werte gemessen, die die Bewertungsgrenzen unterschritten“, so das LANUV. Nach anderen Stoffen hatte die Einrichtung allerdings zu der Zeit noch nicht gefahndet, daher empfahl sie, zunächst noch alle Schutzmaßnahmen aufrechtzuerhalten. Erst nach einer Untersuchung von Boden- und Pflanzenproben auf 450 Agrochemie-Bestandteile, die „keine relevante Konzentration und keinerlei Grenzwert-Überschreitungen“ ergeben hatte, mochte sie zu einer Aufhebung raten. „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die einzelnen Bestandteile der Agrar-Chemikalien aus den Tanks durch den unmittelbar nach der Explosion einsetzenden Brand fast vollständig zerstört wurden“, so das Amt.
An den Dioxin-Befunden des LANUV erhoben sich jedoch sogleich Zweifel. So machte der „Bund für Umwelt- und Naturschutz“ (BUND) auf die geringe Anzahl der genommenen Proben aufmerksam und kritisierte die Aussage des LANUV-Mitarbeiters Ulrich Quaß, „dass die Ruß-Flocken auch für Kinder völlig unkritisch seien, selbst wenn diese so einen Brand-Rückstand verschlucken sollten“, als „völlig unangebracht“. Wenig später sah sich diese Skepsis durch eine Greenpeace-Untersuchung bestätigt, die sich auf 20 statt bloß auf drei Proben stützte. „Teilweise wurden höhere Konzentrationen nachgewiesen als in den veröffentlichten Mess-Ergebnissen des Landesamts für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (LANUV)“, vermeldete die Organisation. Während die Greenpeace-Chemiker*innen in den Wischproben von Staub auf Spielplätzen und in Hausgärten genauso wenig wie ihre LANUV-Kolleg*innen gefährliche Rückstände aufspüren konnten, stießen sie in dem Ruß sehr wohl auf bedenkliche Werte. „In vier von sieben quantitativ untersuchten Proben von Ruß-Niederschlägen werden Polychlorierte Dibenzo-Dioxine und -Furane in Konzentrationen oberhalb der Bestimmungsgrenze nachgewiesen“, heißt es in dem Bericht der Initiative. „Die Entwarnung kommt zu früh“, konstatierte Greenpeace deshalb: „Kinder sollten auf keinen Fall mit diesen Fundstücken in Berührung kommen.“ Die Stadt forderten die Umweltschützer*innen auf, die Rückstände flächendeckend und systematisch zu analysieren und die CURRENTA, die Rußpartikel einzusammeln und fachgerecht zu entsorgen.
Zur genauen Unfall-Ursache weiß der Chempark-Betreiber noch nichts zu sagen. Die Untersuchungen laufen noch, heißt es. Die Kölner Staatsanwaltschaft hat unterdessen Ermittlungen gegen unbekannt wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung und fahrlässiges Herbeiführen einer Sprengstoff-Explosion aufgenommen.
Bereits in den Wochen zuvor hatten sich auf dem Areal des Chemparks zwei Störfälle „mit Produktaustritt“ ereignet. So gelangte am 17. Juni Phosphortrichlorid ins Freie. Zwei Beschäftigte verletzten sich dabei; einer von ihnen schwer. Auch im Entsorgungszentrum selber kam es über die Jahre immer wieder zu Zwischenfällen. Im November 2012 entwich rund sieben Kubikmeter der giftigen und ätzenden Chemikalie Benzylchlorid. 2011 ging von der Sondermüll-Verbrennungsanlage aus ein Sandregen über Teile Leverkusens nieder. 2010 entzündete sich ein Feuer, und 2009 traten nach einem Defekt in der Dosier-Einrichtung der Abluft-Behandlung Schadstoffe aus. Im Jahr 1986 kam es in einem Müll-Ofen zu einer Detonation, bei der Nitrose freigesetzt wurde. 1980 schließlich explodierten Stoffe im Anlieferungsbunker. Sie töteten einen Bagger-Fahrer und zerstörten das „Entsorgungszentrum“ zum größten Teil.
Die erste Vorrichtung zur Sonderabfall-Verbrennung in Leverkusen wurde 1957 in Betrieb genommen. Neue Öfen folgten in den Jahren 1967 und 1976. Erbaut hat sie der BAYER-Konzern, der das ganze Gelände lange Zeit auch exklusiv nutzte. Durch Produktionsverlagerungen bzw. -schließungen oder kleiner dimensionierte Neu-Anlagen entstanden jedoch immer mehr Freiflächen. Da machte das Unternehmen aus der Not eine Tugend bzw. einen Chem„park“. Es wandelte sein Werk-Areal zu einem offenen Gewerbe-Gebiet um und warb andere Chemie-Firmen als Mieter an. Das „Park“-Management inklusive „Müllabfuhr“ übertrug der Multi dabei seiner Dienstleistungstochter BAYER INDUSTRY SERVICES (BIS).
Und wie alle anderen seiner ab 2002 gegründeten Holding-Gesellschaften hielt der Konzern die BIS ebenfalls dazu an, auf eigene Rechnung zu arbeiten. So entwickelte sich dann aus der Entsorgung nach und nach zu einem lukrativen Business. Die BIS-Manager*innen versuchten noch aus den entlegensten Erdteilen gefährliche Produktionsrückstände zu akquirieren. Dazu erweiterten sie ständig die Kapazitäten der Öfen und schufen riesige Tank-Anlagen als Zwischenlager-Stätten. Wenn sich die Service-Gesellschaft darauf beschränkt hätte, nur den auf dem Chem„park“ selber regelmäßig anfallenden Sondermüll zu verbrennen, hätte es solcher großen Vorrichtungen gar nicht bedurft, aber da war die Profit-Gier vor. Wegen dieses Eifers, aus der Beseitigung von Fabrikationsresten einen blühenden Geschäftszweig gemacht zu haben, bezeichnete die ehemalige NRW-Umweltministerin Bärbel Höhn BAYER deshalb einmal als „Müllstaubsauger“. Und so stammen dann auch die Agrochemie-Rückstände, die zu der Explosion führten, von einem „außerhalb des Chem‚parks’ ansässigen Kunden aus dem EU-Ausland“.
Im Jahr 2005 trennte sich BAYER von seiner Chemie-Sparte und Teilen des „Plaste & Elaste“-Segments und gab der fortan unter LANXESS firmierenden Abspaltung 40 Prozent der BIS-Aktien mit auf den Weg. Drei Jahre später verschwand „BAYER“ aus dem Namen, CURRENTA nannte sich die Service-Gesellschaft nun. Und 2019 schließlich veräußerten BAYER und LANXESS ihre Beteiligung an die australische Investmentbank MACQUARIE, genauer: an MIRA, den Infrastruktur-Fonds des Geldhauses. Ein langfristiges Engagement stellte dieser nicht in Aussicht. „Wir gehen von einer Haltedauer von zehn bis zwölf Jahren aus“, so Deutschland-Chef Hilko Schomerus damals.
Aber immer noch unterhält der Leverkusener Multi vielfältige Geschäftsbeziehungen zu seiner Ex-Tochter und lässt beispielsweise seine Produktionsrückstände weiter von ihr entsorgen. Er wähnt diese bei einem Finanzmarkt-Akteur nach wie vor in guten Händen. „BAYER erklärt auf Anfrage, man gehe davon aus, dass sich an den Sicherheitsstandards nach dem Verkauf nichts geändert habe“, vermeldet die Rheinische Post. Es gäbe Sicherheitsvereinbarungen, erklärte der Agro-Riese der Zeitung gegenüber, überdies behielten die verantwortlichen Manager*innen sich Kontrollen vor. Und auch die CURRENTA versicherte, die Schutzmaßnahmen seien „nie heruntergefahren worden“. Aber offensichtlich reichten schon die bestehenden nicht aus.
Und dafür hat BAYER so einiges getan. „Chemie-Anlagen sind keine Schokoladen-Fabriken“, bekundete der damalige Vorstandsvorsitzende Manfred Schneider 1994 auf der Hauptversammlung und insinuierte auf diese Weise, Anwohner*innen und Beschäftigte hätten die Risiken und Nebenwirkungen dieser Art der Produktion als Schicksal hinzunehmen. Gegen schärfere Sicherheitsvorschriften setzte sich BAYER stets mit allen Mitteln zur Wehr. So gelang es dem Konzern etwa, den nordrhein-westfälischen Abstandserlass, der nach mehreren Beinahe-Katastrophen keine gefährlichen Fertigungsstätten in der Nähe von Wohngebieten mehr zulassen wollte, zu verwässern. Bestehende Werke nahm die Landesregierung auf Druck des Unternehmens ausdrücklich von den Regelungen aus. Gegen die verschiedenen Seveso-Richtlinien, welche die Europäische Union nach dem verheerenden Chemie-Unglück, das sich 1976 in der Nähe der italienischen Stadt Seveso ereignete, auf den Weg brachte, opponierte der Multi ebenfalls. Er sprach sich gegen die festgeschriebene Prüfung aller zu einer Firma gehörigen Anlagen aus und kritisierte den bürokratischen Aufwand. Die Aufsichtsbehörden sollten nicht auf Zwangsmaßnahmen setzen, sondern auf ein „partnerschaftliches Miteinander“, meinte die Aktien-Gesellschaft.
Die Bezirksregierung Köln, welche die Industrie-Anlagen zu überwachen hat, praktizierte dieses partnerschaftliche Miteinander ganz selbstverständlich. Sie überprüfte die Tanks zuletzt vor über fünf Jahren und brauchte dazu lediglich eine Stunde. Die letzte Störfall-Inspektion des gesamten Areals fand 2018 statt. Und auch bei dieser Gelegenheit nahm die Behörde die Tanks nicht genauer in Augenschein. Es handelte sich da nach Angaben der Landesregierung nämlich um eine „System-Prüfung, d. h. es wird kein einzelner Tank überprüft, sondern es wird überprüft, ob die grundsätzlichen technischen und organisatorischen und management-spezifischen Vorkehrungen des Betreibers geeignet sind, Störfälle zu verhindern“. Die nächste, turnusmäßig für 2020 vorgesehene Kontrolle ließ die Bezirksregierung ausfallen und holte sie auch im April 2021 nicht komplett nach. Wegen Corona fand lediglich eine Video-Konferenz statt. Richtig in Augenschein nehmen wollten die Beamt*innen alles erst diesen August.
„Es stellt sich die Frage, warum zwar die Fußball-Bundesliga trotz Pandemie stattfinden kann, nicht aber ein für die Sicherheit der Beschäftigten und Anwohner*innen so wichtiger Lokaltermin, zumal sich das Tanklager draußen befindet und die Innenräume einer Sondermüll-Verbrennungsanlage nicht gerade eng bemessen sind“, kritisierte die Coordination gegen BAYER-Gefahren in einer Presseerklärung. Und auch zur Explosion nahm sie ganz klar Stellung: „Dieser Beinahe-GAU zeigt einmal mehr, welche Gefahr von Produktion und Entsorgung chemischer Stoffe ausgeht, wenn diese der Profit-Maximierung dienen.“
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Der Autor:
Jan Pehrke ist Journalist und Vorstand der Coordination Gegen Bayer-Gefahren
Der Beitrag erschien am 12.08.2021 auf https://www.isw-muenchen.de/ und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion gespiegelt Bild: wdr.de