Anfang des Jahres ist ausnahmsweise Streik ein großes Thema in Deutschland, von „französischen Verhältnissen“ ist gar die Rede. Auch wenn die beteiligten Gewerkschaften ihre Streikmacht ausdrücklich nicht zusammenlegen, überschneiden sich für kurze Zeit von der GDL und ver.di organisierte Warnstreiks der Lokführer und des Bodenpersonals von Flughäfen. Während ver.di sich mit den Flughafenbetreibern erst auf eine Schlichtung und dann auf deren Ergebnis einigt, lehnt die GDL das Ergebnis eines zwischenzeitlich ebenfalls angestrengten Schlichtungsverfahrens ab und befeuert mit weiteren Streiks eine Debatte, die ganz schnell bei Forderungen nach Modifikationen des Streikrechts landet.
Die deutschen Verhältnisse
Die GDL erledigt die Sache einer Gewerkschaft. Neben einer Kompensation der stattlichen Verarmung durch Inflation ist ihre „Kernforderung“ die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich für Schichtarbeiter, hinter der sie ihre Lokführer versammelt. [1] Und sie muss zur Kenntnis nehmen, dass die Bahn nicht nur ihre Forderung nach einer Entlastung kategorisch als Verhandlungsgegenstand ablehnt, sondern in der Tarifverhandlung ihrerseits über den erreichten Status quo hinauskommen will: „Die DB will außerdem das einmal im Monat zu gewährende, mindestens 60 Stunden dauernde Wochenende dergestalt aufweichen, dass bei Zugverspätungen auch bis Samstag, 2:00 Uhr gearbeitet werden darf, soweit trotzdem 60 Stunden Ruhezeit zur Verfügung stehen. Diese Gegenforderung ist geradezu unmöglich, denn es handelt sich um das einzige Wochenende im Monat, auf das insbesondere das Zugpersonal Anspruch hat…Eher unscheinbar kommt der Punkt ‚multifunktionaler Einsatz von Arbeitnehmern‘ daher. Bei den Detailverhandlungen zu diesem Punkt stellte sich aber heraus, dass insbesondere DB Cargo dadurch einen erheblichen Personalabbau erreichen will. Dies betrifft die Berufsgruppe der Wagenmeister, deren Aufgaben auf Lokomotivführer und vor allem auf Lokrangierführer verlagert werden sollen.“ (GDL, Informationen zum Moderatorenvorschlag, 6.3.24)
Das Unternehmen stellt Gegenforderungen nach mehr Freiheit für die Praxis, einerseits per Verfügung über die Lebenszeit der Angestellten die kostensparend kalkulierten Betriebsabläufe am Laufen zu halten, andererseits möglichst viel Arbeit in jede bezahlte Stunde zu packen, um Lohnzahlungen einzusparen und so das Verhältnis von geldwertem Ertrag zu bezahltem Aufwand zu steigern. Was der gewerkschaftlichen Forderung kompromisslos gegenübersteht, ist das mit der Kommandomacht des Eigentums ausgestattete Interesse an möglichst viel von der Arbeit, wie sie sich das Unternehmen mit dieser Macht gemäß dem Kriterium der Rentabilität zurechtmacht.
Die Gewerkschaft bringt den Gegensatz der Interessen unmissverständlich auf den Tisch – „Die GDL wird einem solchen Tun nicht auch noch durch tarifvertragliche Regelungen die Hand reichen.“ (ebd.) – und stellt sich der Machtfrage, die dieser ist: Nach Warnstreiks und Schlichtungsversuch ruft sie einen knapp einwöchigen Streik sowie anschließende, kurzfristig anberaumte, nicht mit Ersatzplänen auffangbare „Wellenstreiks“ aus. Ihr Kampfinstrument soll möglichst wirksam sein, der Streik deswegen für die Bahn unkalkulierbar und schlecht handhabbar. Natürlich bedeutet das für die Kunden, dass die Bahn „kein verlässliches Verkehrsmittel“ mehr ist, dazu bekennt sich der GDL-Chef ausdrücklich – „Jeder in dieser Republik soll merken, worum es uns geht, nämlich um die 35-Stunden-Woche.“ (Weselsky im ZDF, 4.3.24) –, nicht ohne die Frage der Schuld an den dafür fälligen Störungen gleich mitzubeantworten, die alleine die andere Seite mit ihrer Uneinsichtigkeit trägt: „Wenn die eine Seite ablehnt, über die Arbeitszeitabsenkung zu reden, wird sichtbar, dass man auf dem Verhandlungsweg nicht zusammenkommt. Wir sind bereit zur Auseinandersetzung, wenn die eine Seite das möchte, dann bekommt sie das.“ (ders., tagesschau.de, 9.11.23)
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Mit den neuerlichen Streiks ist für die öffentliche Betrachtung das Maß endgültig voll. Die Empörung folgt einem Muster, das jederzeit durch Interviews am Bahnsteig abrufbar ist: Zwar hat man durchaus Verständnis für die Forderungen der Lokführer, die man im Einzelnen gar nicht kennen muss, und womöglich auch noch für ein wenig Streik; schließlich hat die Bahn, auch wenn sie natürlich auf Wirtschaftlichkeit achten muss, ihrerseits irgendwie Zugeständnisse zu machen und wahrlich keinen guten Ruf. Aber doch nicht so! Mit Blick auf die betroffenen Reisenden und Pendler, aber auch auf Wirtschaft und Nation als Ganze geht diese Gewerkschaft doch entschieden zu weit. So wird der GDL schlicht die Betroffenheit zur Last gelegt, die sie als Mittel zur Durchsetzung ihres Anliegens erzeugt. Was sie fordert, warum es das braucht und gegen welchen Widerstand dafür gekämpft wird: nichts davon wird als der Interessengegensatz zur Kenntnis genommen, der da inmitten der gehobenen Welt der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung das Lohnarbeitsverhältnis so eindrücklich prägt. Er verschwindet restlos hinter dem Vorurteil, dass es zu einer Einigung allein des guten Willens zum Kompromiss bedarf, sodass man fragen muss, welche Seite diesen Willen nicht aufbringt und damit die Schuld am gestörten produktiven Zusammenwirken trägt. Und die Frage beantwortet sich mit dem von der GDL offensiv erklärten Willen, den Bahnverkehr lahmzulegen, wie von selbst. Dass die Zurückweisung des Schlichtervorschlags für sie damit zusammenfällt, sich zwecks Durchsetzung ihrer Position störend bemerkbar machen zu müssen, macht sie zum Störenfried, der eigensinnig sein Partikularinteresse auf Kosten der Allgemeinheit vertritt. Die Machtfrage, die die GDL austrägt, wirft kein schlechtes Licht auf die Unvereinbarkeit der Interessen, sondern auf die Gewerkschaft selbst: Dass es ihr womöglich bloß um Macht geht, entdeckt man bevorzugt am Auftreten ihres Vorsitzenden, der zum großen Karrierefinale noch einmal die Konkurrenz von der EVG ausstechen und sich selbst ein Denkmal setzen wolle.
Es nützt der GDL nichts, vehement auf die Intransigenz der Bahn hinzuweisen, die das Schlichtungsmodell ihrerseits keineswegs als neue Gesprächsgrundlage akzeptiert. Das Unternehmen ist schließlich jederzeit zu Folgegesprächen im laufenden Betrieb bereit, in dem das Druckmittel der Gewerkschaft lahmgelegt ist. Und weil die Bahn ihr Geschäft mit einer Dienstleistung betreibt, auf die alle Welt angewiesen ist, gilt ihr Interesse in der Tarifauseinandersetzung keineswegs als bloß partikular, sondern genießt auch moralisch den Standortvorteil, mit dem Allgemeinwohl zusammenzufallen. Der versammelte Unmut der Republik ergießt sich – wieder einmal – über die GDL und, im Besonderen, über ihren Vorsitzenden.
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Juristisch gesehen hat dieser Unmut das Streikrecht eher nicht auf seiner Seite. Ein ums andere Mal wird anlässlich von Klagen der Bahn richterlich festgestellt, dass nicht nur die Interessen der Lokführer irgendwie legitim, sondern auch die aktuellen Streiks der GDL, mit denen sie für diese Interessen eintritt, völlig legal sind. Allerdings gehen selbst die wohlmeinenderen Abteilungen der Öffentlichkeit davon aus, dass bei dieser Wahrnehmung des Streikrechts zumindest ein Verstoß gegen die gute Absicht des Gesetzgebers vorliegt: „Wirken Streiks wie Erpressungen und nicht mehr wie Arbeitskämpfe der Schwachen, dann droht uns, dass wir die Einschränkung des Streikrechts im nächsten Wahlkampf auf die politische Agenda bekommen. Das kann eine Mehrheit nicht wollen.“ (taz, 14.3.24)
Das Recht zu streiken, das die Schwachen brauchen, dürfen sie nicht dadurch verspielen, dass sie den Streik als ihr Machtinstrument gebrauchen – logisch. Nämlich tatsächlich ganz der eigentümlichen Logik dieses Rechts folgend, wie sie einer der Wahlkämpfer in spe locker hinsagt: „Deutschland ist kein Streik-Land. Das Streikrecht ist ein hohes Gut, die GDL missbraucht es aber leider immer mehr. Das ist auf Dauer nicht hinnehmbar. Der unverhältnismäßige Streik schadet den Menschen, der Wirtschaft und unserem Wohlstand.“ (Markus Söder, merkur.de, 12.3.24)
Das Recht auf Störung als hohes Gut, dessen Wahrnehmung kein maßgebliches Interesse stören darf – diese widersprüchliche Anforderung behandelt Söder mit Verweis auf die gebotene Verhältnismäßigkeit als deutsches Qualitätsmerkmal und feststehenden Besitzstand, an dem sich die GDL vergeht. Dasselbe politische Missbrauchsurteil präsentiert der zuständige Transportminister ungeniert als (s)ein allgemein-menschliches Gefühl: „Ich finde, dieser Tarifkonflikt nimmt zunehmend Züge an, die nicht mehr nachvollziehbar sind. Die Bürgerinnen und Bürger leiden unter dieser Situation. Und auch die Art und Weise, wie jetzt ‚Wellenstreiks‘ angekündigt werden, hinterlässt ein merkwürdiges Gefühl. Wer vom Streikrecht Gebrauch macht, der muss auch Verantwortung übernehmen und das heißt: konstruktiv verhandeln. Hier entsteht der Eindruck, dass Gründe zum Streiken gesucht werden, anstatt Lösungen im Tarifkonflikt.“ (Volker Wissing, tagesschau.de, 6.3.24)
Das Streikrecht verpflichtet auf eine Verantwortung für das große Ganze, an der sich die Sache der Streikenden zu relativieren hat. Wer das missachtet, den stellt der Minister mit seinem gefühlten „Eindruck“, es ginge um Streik um des Streiks willen, mal eben ins moralische Totalabseits.
Bleibt die Frage, ob tatsächlich gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht, dem Missbrauch noch wirkungsvoller vorzubeugen, als es die bestehenden Regelungen des Streikrechts bereits vorsehen. Die Debatte darüber überdauert auch die Tarifeinigung, zu der es ganz ohne die vielzitierten Wellenstreiks kommt. [2] Der Umstand, dass die GDL nach allgemeinem Dafürhalten als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgeht, kommt eher erschwerend hinzu; das Beispiel soll nicht Schule machen. Insbesondere „im Bereich der kritischen Infrastruktur und der öffentlichen Daseinsvorsorge“ – also überall dort, wo Streiks trotz der rechtlich gebotenen Begrenzung auf einzelne Branchen bzw. Betriebe leicht große Wirkung entfalten können – denken die Experten der Opposition über zusätzliche gesetzliche „Bedingungen“ nach, die das Streiken weiter erschweren („ein obligatorisches Schlichtungsverfahren vorab“) bzw. ihm die Wucht nehmen(„eine Mindestfrist für die Ankündigung eines Streiks; verpflichtende Vereinbarungen der Tarifparteien zur Mindestversorgung und von Notdiensten“). Der oberste Zuständige für das Wirtschaftliche steuert noch den Grund für den staatlichen Bedarf nach noch mehr sozialem Frieden bei: „Die Dauer-Streiks in Deutschland machen dem Wirtschaftsminister große Sorgen. Im Moment werde ‚ein bisschen zu viel für immer weniger Arbeit‘ gestreikt, sagte Robert Habeck (Grüne) am Mittwoch in Berlin. ‚Und das können wir uns in der Tat im Moment nicht leisten.‘“ (Der Spiegel, 14.3.24)
Die Nation lebt eben – von wegen „im Moment“, als würde es ihm morgen besser passen – davon, dass möglichst viel rentabel gearbeitet wird.
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Was andererseits dagegen spricht, das Streikrecht weiter einzuschränken, erklärt der DGB: „Hände weg vom Streikrecht! Derzeit mehren sich die Angriffe auf das Streikrecht. Fährt etwa die Bahn nicht oder heben Flugzeuge nicht ab, dann kommen Rufe nach einer Einschränkung des Streikrechts. Aber ohne Streikrecht blieben Beschäftigten und ihren Gewerkschaften nur das ‚kollektive Betteln‘… Der Streik ist in Deutschland als rechtlich zulässiges Mittel vorgesehen und verfassungsrechtlich geschützt… Es geht um Augenhöhe, die zwischen den Tarifvertragsparteien gerade nicht ohne Weiteres besteht. Für Beschäftigte ist das Streikrecht das letzte und einzige Mittel, um für ihre berechtigten Interessen einzustehen und ebenbürtig zu verhandeln… Da es beim Streikrecht um den Ausgleich eines bestehenden Ungleichgewichts geht, darf und soll der Streik Druck aufbauen und Wirkung zeigen. Dazu gehört auch, dass er betriebswirtschaftlichen Schaden für das bestreikte Unternehmen herbeiführt.“ (DGB Newsletter Klartext, 5.4.24)
Da wird man beim DGB grundsätzlich und kommt auf den Kern des „hohen Guts“ zurück: Lohnabhängige müssen ihre Anstrengungen, von ihrer Arbeit zu leben, um den Kampf für ihre Interessen ergänzen. Warum diese Zusatzanstrengung beständig und dauerhaft notwendig ist und was das über den ökonomischen Inhalt des „bestehenden Ungleichgewichts“, nämlich über das herrschende Interesse an rentabler Arbeit und das davon abhängige Interesse an einem auskömmlichen Lebensunterhalt verrät, tut für den DGB nichts zur Sache, wenn er die notwendige Gegenwehr als anerkanntes und höchstinstanzlich abgesichertes Recht ins Spiel bringt, das er sich nicht nehmen lassen will. Die maßgeblichen Gewerkschafter der Nation erklären, wofür sie die Lizenz zur Gegenwehr brauchen und gebrauchen wollen – für ihren Kampf um einen Ausgleich der Interessen, den sie als vernünftige Sozialpartner stets verantwortlich führen: „An alle, die sich bemüßigt fühlen, über die Einschränkung unseres Streikrechts zu fabulieren: Wir machen verantwortliche Tarifpolitik.“ (Yasmin Fahimi am 1. Mai) „Französische Verhältnisse? Bei Weitem nicht. Die Zahlen zeigen: Wir haben keine übermäßigen Streiks – weder aktuell hier in Deutschland noch im internationalen Vergleich. In Europa liegen wir im unteren Mittelfeld, hinter Frankreich und Italien, wo die Bereitschaft zum Streik viel ausgeprägter ist.“ (dies., 16.3.24) „Die DGB-Mitgliedsgewerkschaften schlossen im Jahr 2023 etwa 6.000 Tarifverträge. Die meisten Tarifverhandlungen gehen geräuschlos vonstatten. Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung zeigen, dass hierzulande auf 1.000 Beschäftigte durchschnittlich 18 Arbeitstage aufgrund von Streiks ausfallen.“ (DGB Newsletter Klartext, 5.4.24)
Auch das macht eben die deutschen Verhältnisse aus: ein nationaler Gewerkschaftsbund, der mit seiner Geräuschlosigkeit und der Leistung angibt, die Anzahl der Streiktage zu einer kalkulatorisch locker einzupreisenden Größe gemacht zu haben. Er nimmt das Streikrecht ganz im Sinne seines Erfinders wahr; an diesen nationalen Besitzstand zu rühren, hält dann auch der Bundeskanzler für unnötig: „Das Land könne ‚stolz‘ sein auf die Sozialpartnerschaft. Eine gesetzliche Regelung des Streikrechts halte er nicht für nötig, sagte Scholz – und richtete einen Appell an die Tarifpartner: ‚Es kommt immer darauf an, dass alle von ihren Möglichkeiten auch einen guten Gebrauch machen.‘“ (Tagesschau, 13.3.24)
Wo er recht hat…
Anmerkungen:
[1]Um Erläuterungen, was im bisherigen System von nominell 38 Stunden Schichtdienst in der Woche bereits alles möglich ist und was es daher so schlecht aushaltbar macht, sind die Kollegen nicht verlegen: „Viele sind fix und alle … durchgängig Sechs-Tage-Wochen – bei eigentlich 38 Stunden Regelarbeitszeit und fünf Arbeitstagen“; häufig 12- bis 14-Stunden-Schichten, die „mal um zwei anfangen, mal um vier anfangen, dann mal wieder um sieben, am nächsten Tag um fünf“, die voll verdichtet sind: „die komprimierten Schichten sind das Anstrengende: Das bedeutet, wir sind von Minute zu Minute durchgetaktet und da bleibt wenig Zeit zum Durchatmen. Das ist, was eine Schicht wirklich anstrengend macht.“ (Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 28.1.24)
[2]Vereinbart wird die stufenweise Einführung von 35 Stunden als Referenzarbeitszeit bis 2029 mit der gleichzeitigen Möglichkeit für die Bahn, sich im Rahmen individueller Vereinbarungen, die den freien Willen nach zusätzlichem Verdienst ansprechen, bis zu 40 Wochenstunden als Normalarbeitszeit zu sichern. Auch in Sachen Lohn und Laufzeit gibt es einen Kompromiss, sodass zu Ostern der Verkehr reibungslos rollt und bis März 2026 garantiert der Frieden herrscht, in dem die Gründe für den nächsten Arbeitskampf geschaffen werden.
Quelle: Der Beitrag erschien auf https://de.gegenstandpunkt.com/cco Bild: GdL