Der Zug des Jobmotors CARE darf nicht ungebremst durch den Gewerkschaftsbahnhof fahren – die Gewerkschaften müssen sich dringend um diesen Sektor kümmern

In der öffentlichen Diskussion besteht Einigkeit darüber, dass Beschäftigte im Care-Sektor bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Entlohnung verdient haben.

Mit dem „Care“-Begriff werden die Arbeitsinhalte und die Beziehungsaspekte von Sorgearbeit beschrieben, Care-Arbeit umfasst bezahlte, sowie unbezahlte Arbeit. Diese orientiert sich an den Bedürfnissen anderer Personen. Die Berufe im Care-Sektor sind anspruchsvoll, fordernd und gesellschaftlich unverzichtbar.

Der Unterschied zu anderen Beschäftigungssektoren besteht darin, dass die Care-Arbeit wichtig für die Wirtschaft insgesamt ist, da sie erst die Erwerbstätigkeit vieler Menschen ermöglicht. Weiter unterscheidet sie sich von den meisten Bereichen der Industrie, in denen starke Gewerkschaften großen, einheitlich agierenden Arbeitgeberverbänden gegenüberstehen und Tarifverträge für ganze Branchen aushandeln und dagegen in der Care Arbeit die Landschaft der Arbeitsbeziehungen institutionell und regional zersplittert ist. Dies führt zu unterschiedlichen Arbeitsbedingungen in diesem Sektor.

Es lohnt sich, einen genauen Blick auf die Struktur der Arbeitsbeziehungen in der Care-Arbeit zu werfen.Als ein Diskussionsbeitrag für die wichtige gewerkschaftspolitische Entwicklung in diesem schnell wachsenden Arbeitsgebiet ist hier die Analyse von Michaela Evans vom Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen hilfreich. Sie hat die Arbeitsbeziehungen in der Care-Arbeit analysiert, die unterschiedlichen Formen der Arbeitsbeziehungen in Unternehmen und Regionen herausgearbeitet sowie konkrete politische Handlungsempfehlungen für die Zukunft formuliert.

Obwohl Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend durch Care- Arbeit geprägt werden, stand diese bislang eher am Rand der Arbeitspolitik. Care-Arbeit zielt auf Lebensqualität, auf die gesundheitliche und pflegerische Versorgung von und durch Menschen. Sie ist eingebettet in die Organisationsform sozialer Dienste in der Sozialwirtschaft.

Eine menschenwürdige Pflege etwa ist nur durch professionelle Care-Arbeit möglich. Die Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung oder mit Pflege von Familienangehörigen ist ohne Care-Arbeit nicht zu schaffen. Care-Arbeit sichert sowohl Produktionsarbeit in anderen Wirtschaftssektoren und ist selbst ein bedeutendes Wirtschafts- und Beschäftigungsfeld. Obwohl sich in ihrem Themenfeld die Zukunft von Sozialstaat, Arbeitsmarkt und Wirtschaft verdichtet, hat sich die Forschung bislang kaum mit den überbetrieblichen Arbeitsbeziehungen der Care-Arbeit beschäftigt. Der Care-Bereich wird sich zukünftig enorm vergrößern und entsprechend wird der Bedarf an Arbeitskräften ansteigen. Es darf aber bezweifelt werden, ob mit den gegenwärtigen Rahmenbedingungen genügend Menschen für diese gesellschaftlich so wichtige Arbeit gewonnen werden können. Außerdem ist es nicht ratsam, einen stark wachsenden Bereich der Wirtschaft mit schwierigen Arbeitsbedingungen zuzulassen, der das soziale Gefüge des Arbeitsmarktes insgesamt negativ beeinflusst.

Die Rufe nach besseren Arbeitsbedingungen und Entlohnung sind begründet. Dies wurde bei den machtvollen Auseinandersetzungen in den Kitastreiks mit dem Slogan „Wir sind es wert“ noch einmal deutlich. Allerdings werden die Rahmenbedingungen der Care-Arbeit in Deutschland nicht im öffentlichen Diskurs ausgehandelt, sondern im Rahmen von Arbeitsbeziehungen zwischen Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften.

Der Wettbewerbsdruck z.B. im Pflegebereich hat verschärfend dazu geführt, dass es wenige Spielräume für eine Aufwertung der Berufe und bessere Arbeitsbedingungen gegeben hat oder dass dieser Spielraum von den Unternehmen der Sozialwirtschaft nicht genutzt wurde. Es wäre unklug, diesem Pfad weiter zu folgen.

Die Bedeutung des Care-Sektors nimmt durch die Alterung der Gesellschaft und der damit verbundenen steigenden Zahl von Pflegebedürftigen zu. Dies spiegelt sich auch in den Zahlen wieder. Monat für Monat werden die höchsten Zuwächse von Stellen auf dem Arbeitsmarkt im Care-Sektor registriert, beispielsweise verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit in ihrem Monatsbericht für Juli 2016 einen Zuwachs von Stellen im Bereich „Pflege und Soziales“ um ganze 109.000 Arbeitsstellen im Vergleich zum Juli 2015.

 

Hier ist die Analyse von Michaela Evans vom Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen hilfreich:

„Das System ihrer Arbeitsbeziehungen ist in seinem institutionellen Rahmen pluralisiert, fragmentiert und desorganisiert.

Im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbranchen konnten hier zentrale Besonderheiten herausgearbeitet werden:

Care-Arbeit ist eingebettet in ein System korporatistischer Regulierung und marktlich-wettbewerblicher Steuerung, mit vielfältigen horizontalen und vertikalen Arenen der Aushandlung von Entgelten und Arbeitsbedingungen. Isolierte Arbeitsrechtssysteme, Akteursstrukturen, Verhandlungsarenen und Handlungsroutinen haben nicht nur eine atomistische Landschaft tariflicher Abschlüsse und Vereinbarungen hervorgebracht. Dieses verbändegeprägte Institutionensystem trägt auch dazu bei, dass die Verhandlung und Durchsetzung arbeitspolitischer Interessen in der Care-Arbeit gegenüber der Politik, aber auch gegenüber anderen Wirtschaftsbranchen, derzeit deutlich erschwert ist.

Wandel der Arbeitsbeziehungen mit unterschiedlicher Dynamik und Reichweite

Auf regionaler Ebene lassen sich differenzierte Ausgangslagen und Entwicklungspfade im Wandel der Arbeitsbeziehungen nachzeichnen. Sie werden durch neue Akteurskonstellationen und Handlungsorientierungen, den Wandel von Tarif- und AVR- Strukturen sowie durch die Novellierung rechtlich-institutioneller Normen befördert. Angesichts differenzierter wirtschaftlicher, struktureller und institutioneller Ausgangslagen in der Care-Arbeit vollzieht sich der Wandel der Arbeitsbeziehungen auf regionaler Ebene mit unterschiedlicher Dynamik und Reichweite. So lassen sich Regionen identifizieren, in denen neue institutionelle

Arrangements der Arbeitsbeziehungen bislang als Option noch nicht gehandelt werden (Persistenzregionen). In anderen Regionen versuchen einzelne Träger und Einrichtungen, sich durch Kooperation und Bündnisse neue und erweiterte Optionen im Wettbewerb zu erschließen (Opting-out-Regionen). Und schließlich lassen sich Regionen benennen, in denen neue Arrangements der Arbeitsbeziehungen mit dem Ziel entstehen, durch träger- übergreifende Kooperationen die regionalen Markt- und Wettbewerbsverhältnisse auch tarifpolitisch entscheidend zu beeinflussen (Transformationsregionen).

Strukturell-institutionell verankerte Ungleichheit von Care-Arbeit

Diese Entwicklungen zeigen, dass die Ökonomisierung von Care-Arbeit nicht allein das Ergebnis der Einführung marktlich-wettbewerblicher Mechanismen in den Sozialsektor war. Die Abwärtsspirale von Löhnen und Arbeitsbedingungen wurde erst durch das Zusammenwirken von branchenspezifischer korporatistischer Regulierung und marktlich-wettbewerblicher Steuerung vor dem Hintergrund eines fragmentierten und desorganisierten institutionellen Rahmens zur Aushandlung von Entgelten und Arbeitsbedingungen in der Care-Arbeit möglich.

Das System der Arbeitsbeziehungen bietet keine integrierende Arena, in der man im politisch gewollten Wettbewerb der Anbieter trägerübergreifend Standards für Arbeitsbedingungen und Entgelte verhandeln kann.

Die Ökonomisierung der Sozialwirtschaft ist somit nur vordergründig Folge der Implementierung marktlich-wettbewerblicher Steuerung im Sozialwesen. Eigentlich wird ein fragmentierter und desorganisierter institutioneller Rahmen der Arbeitsbeziehungen sichtbar, der Konsequenzen von Markt und Wettbewerb für Entgelte und Arbeitsbedingungen in der Care-Arbeit nicht auffangen kann. Dies beschreibt den Kern der strukturell-institutionell verankerten Ungleichheit von Care-Arbeit.

Das System der Arbeitsbeziehungen mit seinen differenzierten Arbeitsrechtssystemen, Akteursstrukturen und Handlungsorientierungen ist historisch gewachsen und letztlich das Ergebnis einer zwischen Staat, Wohlfahrtsverbänden und Wirtschaft verhandelten Ordnung. Mit der Einführung neuer Steuerungs- und Regulierungslogiken wurde – begründet auch durch internationale Erfahrungen – der Implementierung von Markt und Wettbewerb in das Sozialwesen viel Aufmerksamkeit geschenkt, ohne jedoch der spezifischen Governance-Struktur und -Logik von Care-Arbeit als Befähiger-Dimension Rechnung zu tragen.

Dies hat zwar dazu beigetragen, das Ziel der wirtschaftlichen Effizienz durch betriebswirtschaftliches Management, Budgetierung und Pflegesatzverhandlungen in der Care- Wirtschaft aufzuwerten.

Allerdings wurde diese Entwicklung durch eine Abwärtsspirale bei Entgelten und Arbeitsbedingungen erkauft. Die Probleme der Care-Arbeit sind damit eben nur auf der ‚Vorderbühne‘ als Klage und Streit um Entgeltungleichheit sichtbar.

Entscheidend ist aber die ‚Hinterbühne‘ des institutionellen Rahmens der Arbeitsbeziehungen und der Handlungslogiken der Akteure, die diesen reproduzieren.

 

HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN

Die Diskussion um die Zukunft der Care-Arbeit darf sich nicht ausschließlich auf einzelne Inhalte (Policy) der Arbeitspolitik, wie höhere Entgelte, fokussieren. Zusätzlich ist es dringend notwendig, sich mit den Strukturen (Polity) und Prozessen (Politics) der Kommunikation, Verhandlung und Durchsetzung arbeitspolitischer Normen und Standards in der Care-Arbeit zu befassen. Hieraus lassen sich als Fazit fünf konkrete Handlungsempfehlungen ableiten:

  1. Die Überwindung der strukturell-institutionell verankerten Ungleichheit von Care-Arbeit kann gegenwärtig nicht durch einen einzelnen Akteur durchgesetzt werden. Ausgehend hiervon wäre es sinnvoll, auf Einladung der Politik einen arbeits- politischen Zukunfts- und Branchendialog in der Sozialwirtschaft zu initiieren. Die institutionelle Verfasstheit der Pflegemindestlohnkommission bietet hierfür eine organisatorische Basis, sollte jedoch durch weitere Akteure der Arbeitsbeziehungen in der Sozialwirtschaft ergänzt werden.
  2. Im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbranchen gibt es für die Sozialwirtschaft derzeit kein Monitoring-Instrument, das geeignet ist, die Entwicklungsdynamik der Tarif-/AVR- Landschaft zuverlässig abzubilden. Vorliegende Instrumente berücksichtigen entweder nicht die unterschiedlichen Tarifsysteme der Sozialwirtschaft, oder sie bilden zwar Tarife und AVRs ab, treffen aber keine Aussagen über Tarifbindung, Tarifstreuungen, Anwender oder die Entwicklung neuer tariflicher Arrangements. Mit welchen konkreten Fragestellungen, Indikatoren und regionalen Abgrenzungen ein solches Monitoring sinnvoll aufgebaut werden kann, könnte im Rahmen des Branchendialogs unter wissenschaftlicher Begleitung mit den Branchenpartnern gemeinsam erarbeitet werden.
  3. Die Ergebnisse dieser Ausführungen legen nahe, sich künftig intensiver mit den Gestaltungsvoraussetzungen und -spielräumen neuer trägerübergreifender Arrangements der Arbeitsbeziehungen auf regionaler Ebene zu beschäftigen. Neue regionale Arrangements können dann zu einem Erfolgsmodell werden, wenn ihre Vorteile nicht nur für die beteiligten verbandlichen Akteure, sondern unmittelbar auch für die Beschäftigten klar erkennbar und erfahrbar werden. Zudem sollte das tatsächlich vorhandene Potenzial neuer Arrangements der Arbeitsbeziehungen mit langem Atem und wechselseitigem Verständnis entwickelt, und nicht als kurzfristige Marktregulierungsstrategie instrumentalisiert werden.
  4. Neue Arrangements der Arbeitsbeziehungen können dann auf Dauer erfolgreich sein, wenn sie auf Augenhöhe aller Beteiligten initiiert werden. Angesichts der unterschiedlichen wirtschaftlichen und institutionellen Ausgangslagen in den Bundesländern und Teilregionen erscheinen tarifpolitische „One-size-fits-all“-Lösungen“ wenig vielversprechend. An dieser Stelle ist intensiver nach Möglichkeiten zu suchen, gemeinsame tarifpolitische Ziele unter Berücksichtigung sämtlicher regionaler Ausgangslagen zu realisieren. In diesem Zusammenhang könnten beispielsweise regionale Entgeltkorridore mit trägerspezifischen Zulagensystemen interessante Entwicklungsoptionen bieten. Und schließlich sollten die arbeitsbezogenen Interessen der Sozialwirtschaft, ihrer Unternehmen und Beschäftigten in den bestehenden Institutionensystemen gestärkt werden. Hier sind mehrere Zugänge denkbar: So könnte im Rahmen des Pflegestärkungsgesetzes (PSG) III auch über Refinanzierungsanreize für freiwillige trägerübergreifende Qualitäts- und Verantwortungsgemeinschaften nachgedacht werden. In der Definition von Leistungszielen dieser Verantwortungsgemeinschaften könnten auch trägerübergreifende Orientierungen für Entgelte und Arbeitsbedingungen eine Rolle spielen. In den Pflegesatzverhandlungen sollten die Interessen der Beschäftigten in rechtlich-abgesicherter Form berücksichtigt werden. Zudem müsste überprüft werden, ob die Besetzung von Tarifausschüssen bzw. Landestarifausschüssen als Kontroll- und Gestaltungsorgane den gewandelten Wirtschaftsstrukturen in Deutschland noch gerecht wird.
  5. Ein letztes Argument zielt auf die förderpolitische Unterstützung der Arbeitsbeziehungen in der Sozialwirtschaft Deutschland. Während andere Wirtschaftsbranchen mit dem förderpolitischen Instrument des „Branchendialogs“ die Möglichkeit haben, Themen, Kultur und Praktiken ihrer Arbeitsbeziehungen unter Rückgriff auf öffentliche Fördergelder weiterzuentwickeln, standen der Sozialwirtschaft entsprechende Möglichkeiten bisher nicht zur Verfügung. Es ist deshalb unerlässlich, dass sich die arbeitspolitischen Akteure der Sozialwirtschaft künftig selbst stärker für die Kommunikation, Verhandlung und Durchsetzung arbeitspolitischer Standards in der Care- Arbeit engagieren“.

Die Untersuchung Arbeitsbeziehung der Care-Arbeit im Wandel von Michaela Evans ist ein wichtiger Diskussionsbeitrag für die Weiterentwicklung der gewerkschaftspolitischen Ausrichtung in diesem schnell wachsenden Arbeitsgebiet.

 

Quelle und Grundlage des Artikels: WISO-Diskurs: Arbeitsbeziehung der Care-Arbeit im Wandel   http://library.fes.de/pdf-files/wiso/12940.pdf

Bild: flickr.com