Als Warren Buffett, einer der begabtesten Spekulanten unserer Epoche, der „New York Times“ 2006 ein Interview gewährte, hatte er 76 Lebensjahre auf dem Buckel und ein Vermögen von 52 Milliarden US-Dollar aufgehäuft. Er konnte sich bei der Beschreibung der Lage sowie der weiteren Aussichten vornehme Zurückhaltung sparen: „There’s class warfare, all right … but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.”
Nicht von ungefähr konnte dieser prominente Vertreter des Kapitals siegesgewiss sein: Das „goldene Zeitalter“ (Eric Hobsbawm) des westlichen Nachkriegskapitalismus, geprägt durch Vollbeschäftigung und Reallohnzuwächse, erweiterten Massenkonsum und den Ausbau sozialstaatlicher Institutionen, war bereits in den siebziger Jahren zu Ende gegangen.
Das Kapital hatte – in tiefer Sorge wegen rückläufiger Profitraten – den bis dahin geltenden informellen Klassenkompromiss aufgekündigt und eine Art neoliberaler Konterrevolution im Zeichen der Trinität von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung eingeleitet. Während es in den USA und Großbritannien recht zügig voranging, hinkte Kontinentaleuropa dieser segensreichen Entwicklung noch eine Weile hinterher. Erst nachdem der große Systemkonkurrent im Osten Europas beseitigt war, konnte der Fortschritt auch in „old Europe“ (Donald Rumsfeld) Fahrt aufnehmen.
Den entscheidenden Durchbruch in Deutschland besorgte ab 1998 eine wahre Reformkoalition. Der rot-grünen Regierung gelang es in recht kurzer Zeit, den „alten Schrott“ (Elements of Crime) ordentlich zu ramponieren. So teilprivatisierte sie nicht nur die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) und setzte Rentensenkungen um. Sie unterwarf auch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) dem Profitprinzip und übte stetigen Lohndruck durch die Errichtung eines Niedriglohnsektors aus. Wichtig für die Durchsetzung dieser Politik war, dass die Gewerkschaften im von der Regierung lancierten „Bündnis für Arbeit“ und Seit´ an Seit´ mit den Lobbyverbänden des Kapitals mitwirkten, um ein Aufbegehren unwilliger Lohnarbeiter institutionell einhegen zu können.
Unglücklicherweise endete das rot-grüne Reformprojekt 2006, bevor kompletter Vollzug gemeldet werden konnte: GRV und GKV hatten zwar Schlagseite, waren aber noch funktionstüchtig, und auf dem Arbeitsmarkt hielt sich hartnäckig ein Facharbeitersektor mit hohen Löhnen. Auf den beträchtlichen Vorarbeiten der Merkel-Kabinette aufbauend, trat im Dezember 2021 erneut ein rot-grünes Regierungsbündnis (mit einem gelben Beiboot) an, um das unvollendete Werk zu beenden. Wenige Wochen nach Regierungsantritt gab Kanzler Scholz anläßlich einer Rede in Davos das Ziel vor: „Deutschlands Transformation“. Den angestrebten rot-grünen Sprung nach vorn umschrieb er in gewohnt sozialdemokratischer Prosa: „Wir setzen uns dafür ein, dass die 2020er Jahre zu einem Neuanfang werden – zu einem Jahrzehnt des Wandels und des Fortschritts für unser Land.“
Um diese Drohung in die Tat umzusetzen, kann der sozialdemokratische Kanzler abermals auf die Mitarbeit der Gewerkschaften zählen. Konnte Gerhard Schröder sich bei der Agenda 2010 auf die Genossen Schulte und danach Sommer als DGB-Vorsitzende verlassen, so steht Scholz mit Yasmin Fahimi seit Mai 2022 eine erprobte Parteisoldatin an der Spitze des Gewerkschaftsbunds zur Seite. Fahimi war nicht nur SPD-Bundestagsabgeordnete, sondern auch Generalsekretärin der Partei, außerdem von 2016 bis 2017 Staatssekretärin unter Arbeitsministerin Andrea Nahles. Fahimis Funktion erinnert an die Aufgabe, welche „Katsche“ Schwarzenbeck einst im Spielsystem des FC Bayern München oblag – „Kaiser“ Beckenbauers transformative Vorstöße nach hinten abzusichern: Fahimi ist die Ausputzerin des Kanzlers.
Bei ihrer Inaugurationsrede predigte Fahimi das Neue Evangelium: „Alle reden von einer beschleunigten Transformation, die wir brauchen. Eine Art neuzeitliches Apollo-Projekt. Einverstanden!“ Und damit bei Olafs Mondfahrt alle unfreiwilligen Passagiere gleich schlecht behandelt werden, möchte die DGB-Vorsitzende dabei als Stewardess agieren: „Wir werden dafür sorgen, dass es auch in der Transformation gerecht zugeht und der soziale Frieden gesichert bleibt.“
Die postmaterielle Dialektik der großen Transformation beherrscht Fahimi aus dem Effeff. Einerseits steht sie „hinter dem Ziel einer klimaneutralen Wirtschaft und Gesellschaft“.
Andererseits argwöhnt sie, die Lohnabhängigen könnten und wollten „sich weder Einkommens- noch Energiearmut leisten“. Um dann als Synthese den Ladenhüter der Energiewende feilzubieten, den mit „deutlich mehr Konsequenz“ voranzutreibenden Umstieg auf erneuerbare Energien. Statt „gute Arbeit“ steht dann in recht kurzer Frist – um in Fahimis infantilem Idiom zu bleiben – „gute Deindustrialisierung“ und „gute Armut“ zu erwarten.
Fahimis Gelöbnis, „die gesetzliche Rentenversicherung als erste und wichtigste Säule der Alterseinkommen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen“, wird sich bald schon als Meineid entpuppen. Bereits im Zuge von Schröders Agenda-Politik hatten sich die Gewerkschaften die Teilprivatisierung der GRV („Riester-Rente“) für ein paar lausige Almosen (das Recht auf Entgeltumwandlung in der betrieblichen Altersvorsorge) abkaufen lassen. Wenn die DGB-Chefin sich derart aus dem Fenster lehnt, ist die gesetzliche Rente so gut wie erledigt. Hinter den Kulissen warten bereits eine kümmerliche Einheitsgrundrente und Lindners Aktienrente.
Mit Fahimis DGB an der Seite hat Scholz gute Chancen, das von Schröder begonnene Transformationswerk zu vollenden. Eine lohnabhängige Klasse, die Freunde wie den DGB hat, braucht keine Feinde mehr, nicht mal solche wie Warren Buffett.
Erstpublikationsort: Der Beitrag erschien zuerst in konkret 12/2022 Konkret Magazin Hamburg (konkret-magazin.de) und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt. Bild: spd.de