„Bröckelt die Brandmauer?“ Das fragen sich Kommentare zu den jüngsten Entwicklungen ‚nach Aschaffenburg‘ und nach den Entscheidungen des Bundestags zum Thema Migration. Auf jeden Fall dürfte der Bundestagswahlkampf sein heißes Thema gefunden haben: Jenseits aller Sachfragen geht es jetzt um die brennende Frage, ob die Brandmauer gegenüber der AfD hält. So lautete die Eingangsthese eines Overton-Beitrags. Mittlerweile hat es weitere Kommentare gegeben, die auf denselben Punkt Nachdruck legen. Bei Telepolis hielt z.B. Harald Neuber fest: „Schwarz-blau ist jetzt: Wie die CDU sich nach rechts öffnet – und das als ‚Brandmauer‘ präsentiert“. Und mit Merkels Einspruch ist jetzt die Aufregung groß, ob wir nicht das Ende der liberalen Demokratie erleben.
Ausgangspunkt war die – sonst immer der AfD unterstellte – Praxis einer ‚disruptiven‘ Intervention. „Merz wagt den Tabubruch“, kommentierte die FAZ (25.1.25) zustimmend nach der letzten Amoktat in Aschaffenburg die Linie des CDU-Kanzlerkandidaten. Der hatte nach den Aufforderungen aus CDU/CSU, aber auch aus der Bildzeitung und anderen Medien angekündigt, rechtsstaatliche oder humanitäre Zimperlichkeiten in Sachen Migration endlich fahren zu lassen.
„Das Votum der Deutschen ist klar: Die große Mehrheit will sofortige und drastische Maßnahmen gegen die illegale Migration“, meldete Bild (bild.de, 26.1.25). Die „faktische Schließung deutscher Grenzen für illegale Migranten und Asyl-Sucher“ (Bild) sollte endlich das gefährdete Gemeinwesen wieder zur blühenden Landschaft machen. Das goldene Zeitalter, das Trump seiner Nation versprochen hat, soll also auch hierzulande einkehren.
Das hat Folgen, weniger hinsichtlich der praktischen Konsequenzen, die die nationale Politik ergreifen kann und darf (siehe dazu die Analyse bei 99zu1), als im Blick auf ein ideologisches Konstrukt, das in der BRD höchste politische Priorität besitzt bzw. besaß: Angeblich gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, die ja – in Teilen – als extremistisch zu gelten hat. Automatisch wirksam wird dieser Unterschied freilich nicht, die Demokraten müssen sich gegenseitig immer wieder dazu aufrufen, ihn wirklich zu beachten und die Konkurrenz von rechts aus dem normalen Parteienpluralismus auszugrenzen, eben durch besagte Brandmauer. Doch jetzt heißt es: „Plan zu Migrations-Stopp verändert ALLES“ (bild.de, 27.1.25).
Rechte gegen Genderwahn
Explizit in Frage gestellt wird diese Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen schon seit einiger Zeit. Zuletzt hatte die Brandenburger CDU-Politikerin Saskia Ludwig „eine Koalition ihrer Partei mit der AfD nach der Bundestagswahl für sinnvoll“ gehalten (Junge Welt, 24.1.25). Dabei wandte sie sich explizit gegen eine Brandmauer gegenüber der AfD, die nur dieser Partei und dem „linken Lager“ nutze. „Wenn über 50 Prozent Mitte-rechts wählen, dann muss es auch eine Mitte-rechts-Regierung geben für die Bürger“, sagte sie und warb dafür, „dass wir mit unserer Demokratie deutlich entspannter umgehen müssen und den Wählerwillen akzeptieren“. Arnold Schölzel resümierte zutreffend in der Jungen Welt (25./26.1.25): „Die lächerliche Brandmauer zwischen CDU und AfD, die es auf kommunaler Ebene nie gab und die auf Länderebene systematisch durchlöchert wurde, ist Geschichte.“
Ein Beispiel für diese Durchlöcherung hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn‘“ (2025) vorgelegt. Es geht um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen, gerade auch jüdisch-christlich-muslimischen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. Hier bewegt man sich natürlich auf der Ebene einer ideologischen Überhöhung, wo Leitbilder eines sittlich-geordneten Zusammenlebens gegeneinander gestellt werden und beide Seiten die Ebene der praktischen Maßnahmen verlassen, auf der um einzelne familien- oder sozialpolitische Änderungen gerechtet wird, stets kontrovers angesichts „knapper Kassen“ und „vielfältiger Herausforderungen“.
Der von rechts angegriffene Genderwahn soll das Werk eines „Kulturmarxismus“ sein. Sowohl Trump als auch Weidel verwenden diesen ideologischen Kampfbegriff, der den Urheber beim finalen Untergraben der nationalen Sittlichkeit benennen soll. Während der Marxismus politisch keine Rolle mehr spielt, hält er sich erstaunlich zäh als Feindbild – nicht nur rechts außen. Sachlich ist das nicht ganz falsch: Marx und Engels haben schließlich im Kommunistischen Manifest den Proletariern geraten, sich von der Nation und ihren Höchstwerten inklusive Kleinfamilie und Beschränkung der Frauen auf Hausarbeit zu verabschieden.
Der Witz ist nur: Das, was seit gut einem Vierteljahrhundert unter dem Ticket Gender Mainstreaming – ausgehend von UN-Konferenzen – in die europäische und nationale Gesetzgebung als Auftrag zur Gleichstellung von Männern und Frauen Eingang fand und zu verschiedenen (Pseudo-)Aktivitäten wie Genderforschung, Vorschriften für eine gendergerechte Sprache, Anerkennung bislang tabuisierter Sexualpraktiken etc. führte, hat mit dem Marxismus nichts zu tun. Es geht in der Hauptsache darum, wie Menschen, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, im Berufsleben oder dem öffentlichen Raum vor Diskriminierungen geschützt, also mit anderen Konkurrenzsubjekten rechtlich und damit dann irgendwie sozial gleichgestellt werden und wie sie das in ihrem Privatleben anhand partnerschaftlicher Leitbilder regeln sollen. Der familiäre Regelungsbedarf bezieht sich darauf, wie die lohnarbeitende Menschheit mit der großartigen Errungenschaft der bürgerlichen Frauenemanzipation fertig wird: dass nämlich die traditionelle Versorgerehe passé ist, in der das Einkommen des männlichen Verdieners den Lebensunterhalt bestritt, und dass mittlerweile beide Partner Geld verdienen müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen.
Die politischen Bemühungen um Gendergerechtigkeit zeigen jetzt, wie viel an materiellen Vorleistungen des Staates eingesetzt werden muss, wenn es darum geht, die Folgen der gigantischen Lohndrückungsaktion in den Griff zu bekommen und Friktionen der Konkurrenzgesellschaft dauerhaft zu beseitigen. Von der Empfängnisverhütung und dem Steuersatz auf Babywindeln über frühkindliche Erziehung, Kitawesen, Ganztagsschulen, berufliche Bildung bis zu Regelungen des Karrierewesens, der Betreuung einschlägiger Kollisionen oder schlussendlich der Ausmalung von Leitbildern muss alles Mögliche getan werden, um eine halbwegs funktionierende Work-Life-Balance hinzukriegen.
Wozu Leitbilder verleiten
Die praktischen Maßnahmen, die politisch ergriffen werden, um das Privat- und Familienleben funktional zu halten, sind das eine. Die Idealvorstellungen, die den Familienmenschen dazu nahe gebracht werden, stehen auf einem anderen Blatt. Auch das traditionelle Familienbild hat dabei schon einige Konjunkturen erlebt. Das weibliche Arbeitskräftereservoir staatlich zu erschließen ist ja nichts Neues, sondern seit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg eine Selbstverständlichkeit: Wenn Not am Mann ist, muss die Frau als Krankenschwester oder Rüstungsarbeiterin ihren Dienst leisten, und auch die Faschisten hatten keine Hemmungen, eine Leni Riefenstahl als ihre Starpropagandistin zu beschäftigen oder das weibliche Fußvolk als Funknachrichtenhelferinnen an die Front oder als Aufseherinnen in die KZ‘s zu schicken. Egal, welche idyllische Hausfrauenrolle im Nazi-Leitbild der Familie eigentlich vorgesehen war!
Das moderne Gender Mainstreaming gehört in die Abteilung der übergeordneten Leitbilder. Wie dargelegt, ist es – ganz anders, als die Rechten sich das vorstellen – ein Programm, das den nationalen Erfolg sicherstellen soll. Es tut dies mit einem gewissen idealistischen Überschuss, der sich ganz dem Dienst an den weiblichen, männlichen, diversen oder sonstwie sexuell orientierten Konkurrenzsubjekten verpflichtet weiß. Dass eine materielle, soziale Gleichstellung mit dem supranationalen Verbindlichmachen dieser Strategie erreicht worden sei, können die Vertreterinnen und Vertreter dieser Politik nicht gerade behaupten. Aber das spornt anscheinend nur dazu an, auf dem Ideal noch nachdrücklicher zu bestehen, polemisch gesagt: einen regelrechten Genderwahn zu entwickeln. So gesehen, können sich beide Seiten mit diesem Vorwurf beharken.
Und die wertegeleitete, „feministische Außenpolitik“, wie sie unter der Außenministerin Baerbock Kariere machte, schafft es ohne Weiteres, andere Länder (natürlich nur, wenn es politisch opportun ist) daran zu messen, ob in ihnen irgendeine sexuelle Orientierung aus dem LGBT*-Regenbogen auch angemessen respektiert wird. Und die AfD-Vorsitzende Weidel schafft es, den Wahlerfolg des mächtigsten Mannes der Welt deshalb als globalen Hoffnungsschimmer zu präsentieren, weil er mit der „Genderideologie“ Schluss machen will.
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„Schluss mit der Genderideologie!“
Unter dieser Überschrift standen die Glückwünsche an die Adresse von Donald Trump, die die AfD-Vorsitzende Alice Weidel am 6. November 2024 über diverse Nachrichtendienste mitteilte. „Nicht das woke Hollywood hat diese Wahl entschieden, sondern die arbeitende amerikanische Bevölkerung.“ So begann ihr erstes Statement zur US-Wahl. Im Interview erläuterte sie: „Vor allen Dingen haben junge Leute Donald Trump gewählt. Warum? Weil sie vernünftig ausgebildet werden wollen und nicht mehr diesen ganzen woken linken Genderquatsch gelehrt bekommen wollen… Ich werde Ihnen sagen, was passiert, wenn die AfD in der Regierung sitzt, sie wird genau diesen ganzen Genderquatsch aus dem Bildungsplan rauswerfen.“
Der „Genderquatsch“ lähmt die Tatkraft junger Leute, verhindert den wirtschaftlichen Aufschwung und lässt stattdessen Massenmigration mit ihrer Gefährdung der inneren Sicherheit zu – so das Credo der AfD-Vorsitzenden, die das totalitäre Gender-Projekt auch schon im Bundestag als radikalen Umbau der Gesellschaft brandmarkte: „Die sogenannte ‚gendergerechte‘ Sprache ist ein Orwell-Projekt. Sie … will über die Manipulation der Sprache auch unser Denken im Sinne der Gender-Ideologie beeinflussen und kontrollieren.“
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Vom Gender zur Migration
Was die Studie von Rüther schlüssig dargelegt hat, ist die Verbindung dieser Propaganda für das frühere Familienideal und seine klare heterosexuelle Orientierung an naturgegebenen bzw. naturrechtlichen Daten mit der Hetze gegen Migration. Und dabei wird auch deutlich, dass man es hier mit einem gemeinsamen ideologischen Besitzstand zu tun hat, den das konservative Lager, etwa CDU/CSU, mit radikaleren Vertretern von rechts teilt; dass hier von den grundsätzlichen Überzeugungen her gesehen überhaupt keine Brandmauer existiert, dass sie vielmehr erst künstlich hochgezogen werden muss – sei es, um parteipolitischen Konkurrenten eine Grenze zu setzen, sei es aus einem gewissen Modernisierungsbedarf heraus, den etwa eine Kanzlerin Merkel bei ihrem Agieren in Koalitionsfragen oder der Staatenkonkurrenz sah (und an dem sie jetzt mit ihrem Votum gegen Merz festhält).
Migration gilt den heutigen Rechten als Bedrohung der Volkssubstanz. Ins humanitäre Extrem getrieben – so lautete die damalige Polemik gegen die „Willkommenskultur“ Merkels, an der sich auch konservative Teile der CDU beteiligten und zu der Innenminister Seehofer (CSU) die Anklage vom „Unrechtsstaat“ beisteuerte – laufe sie mittels des initiierten „Bevölkerungsaustauschs“ auf einen nationalen „Volkstod“ hinaus. Eine Schreckensvision, die nicht nur Faschisten, sondern auch Demokraten umtreibt. So hat ja die postfaschistische Staatengemeinschaft nach dem Ende des Nationalsozialismus in einer eigenen Konvention den „Völkermord“ als das größte denkbare Verbrechen verurteilt. Die Ungeheuerlichkeit dieser Untat macht sich nicht an einem Massenmord fest, der hier geplant oder ausgeführt wird. Es kommt darauf an, dass der Täter oder die Täterin ein Volk zum Verschwinden bringen wollen, unabhängig davon, ob gegen viele Angehörige des Feindvolks vorgegangen wird oder nicht. So reicht ja auch schon der Hinweis auf die chinesischen Reeducation-Lager, in denen islamistische Uiguren gezwungen werden, Schweinefleisch zu essen und sich ins nationale Volksleben einzureihen, als Verdacht, dass hier ein „kultureller Genozid“ unterwegs ist.
Zuwanderung und Nachwuchsproduktion gehören – vom Standpunkt des Staates aus – zusammen. Es sind zwei Optionen, dem Bedarf nach einer brauchbaren Bevölkerung nachzukommen. Auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) kann man nachlesen (bmfsfj.de), dass es natürlich zu den Aufgaben demokratischer Politik gehört, „den Herausforderungen des demografischen Wandels“ – auch bekannt als die Überalterung unserer Gesellschaft – zu begegnen. Und bekanntlich hat ja Anfang der 2000er Jahre die CDU einen Landtagswahlkampf mit der Parole „Kinder statt Inder“ bestritten. Das könnte eine AfD unmittelbar für ihr Wahlprogramm benutzen! Wobei die AfD sich heute (s.u.) selber an notwendigen Modernisierungen beteiligt. Der Slogan von Rüttgers aus dem nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf des Jahres 2000 würde den Rechtspopulisten heute vielleicht zu sehr nach der Festlegung auf die Rolle „Gebärmaschine“ klingen?
Früher war diese Rolle selbstverständlich. Als „1953 die Regierung Adenauer die Familienpolitik in den Rang eines Ministeriums“ erhob, das erfährt man auch auf der Website des BMFSFJ, galt eine BGB-Praxis, die mit ihrer Benachteiligung von Frauen eindeutig verfassungswidrig war – wie man heute weiß. Die Berufstätigkeit der Frau war ständiger Kritik ausgesetzt, auch und gerade durch den ersten Familienminister Wuermeling (CDU), den das BMFSFJ mit folgenden Äußerungen zitiert: „Für Mutterwirken gibt es nun einmal keinen vollwertigen Ersatz“. Oder: „Eine Mutter daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen“. Laut Wuermeling war auch „der Frau die Aufgabe der ‚Selbsthingabe und Selbstverleugnung‘ zugewiesen, ein Dienst an ‚höheren Zielen‘: Fürsorge für Mann und Kinder“.
Die Verbindungslinie zum normalen Konservatismus – und damit der fiktive Charakter der besagten Brandmauer – hat übrigens FAZ-Redakteur Patrick Bahners in seinen Publikationen über die Ausländerfeindlichkeit („Die Panikmacher“, 2011) oder über den neuen deutschen Nationalismus der AfD („Die Wiederkehr“, 2023) besonders hervorgehoben. Die letztgenannte Studie sucht nach den intellektuellen Wurzeln der rechten Partei und wird dabei – wie schon in der Untersuchung zu den antiislamischen, migrationsfeindlichen „Panikmachern“ – im eigenen, nämlich konservativen Lager, speziell in einem von der FAZ geförderten Geistesleben fündig. Und da dürfte Bahners sich ja auskennen!
Ein letzter Punkt sei noch erwähnt: Auch die AfD versteht sich darauf – wie seinerzeit Merkel –, notwendige Modernisierungen vorzunehmen. Man wird sehen, wozu das im Wahlkampf (und danach dann in eventuellen Koalitionsverhandlungen) noch führen wird. In puncto EU hat es ja schon einige Anpassungsmaßnahmen gegeben, ein Dexit ist wohl nicht mehr vorgesehen, eher eine Umwandlung der EU zu einem Bund der Vaterländer (eine nicht gerade brandneue Idee); und auch zur NATO hat es gewisse Treuebekundungen gegeben.
Darüberhinaus bekennt sich die AfD schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind. Judith Goetz, Mitherausgeberin des Sammelbandes „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“ (2024), spricht in einem Interview (Konkret, 2/25) von „strategischen Anpassungen“, die der AfD dazu verhelfen sollen, „sich als offen, tolerant und modern zu inszenieren“. Andere Autoren konstatieren das Auftreten eines neuen „Femonationalismus“ oder „Homonationalismus“, der in den betreffenden Szenen – begrenzt – Anklang findet. Dazu passt ja, dass die Kanzlerkandidatin der AfD in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit einer Migrantin lebt.
Auf in den Wahlkampf!
Migration als Wahlkampfthema – das schlägt jetzt nach der letzten Amoktat Wellen und „die Parteien überbieten sich in Sachen Schikane von Asylbewerbern, Kriegs- und sonstigen Flüchtlingen“, wie es zuletzt in dem Beitrag „Wenn sich Brandstifter als Feuerwehrleute anbieten“ bei Overton hieß. CDU-Merz preschte aber auch schon Anfang Januar vor und versuchte der AfD die Vorreiterrolle zu nehmen. Er wolle, so sein Votum ‚vor Aschaffenburg‘ (siehe Bild am Sonntag, 5.1.25), selbst Deutsche abschieben, die eingebürgert sind, wenn sie zwei Straftaten begangen haben. Die AfD denkt erst einmal, so die Entscheidung ihres Wahlparteitags, „nur“ an die Abschiebung krimineller oder unberechtigt anwesender Personen…
Eine solche Dramatisierung des Migrationsproblems im Wahlkampf hat in der Tat etwas Wahnhaftes. So als ob hier angesichts von Weltkriegsgefahr, Klimawandel, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt, der eigentliche Notstand, der alle betrifft, ausgemacht wäre. Aber sie hat ihre Logik. Wo das Volk sich sowieso keine sozialen Wohltaten mehr von der nächsten Regierung erwarten soll, höchstens die Beseitigung von ein paar Gerechtigkeitslücken (wie vor allem die SPD verspricht), die mit Respekt vor den sozialen Härtefällen ausgefüllt werden sollen, kann man den Leuten auch einmal den eigentlichen Lohn ihrer Dienstbeflissenheit vor Augen führen: Er besteht darin, was Overton schon in den letzten Wahlkampf-Analysen herausstellte, dass man mit anderen, den Migranten und denen, die nicht hierhergehören, noch rabiater umgeht als mit den eigenen Leuten. Das ist das tolle Angebot: Das treue, „privilegierte“ Eigenvolk, das sich alles gefallen lässt, darf im Wahlkampf dabei zuschauen, wie sich die Parteien mit ihren Vorschlägen zur Schlechterstellung anderer überbieten.
Und lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie auch noch eine andere Lektion: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Diese liefern vielmehr die Vorlage, die im Grunde jedem Nationalstaat vertraute Sorge um Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) seines Volkskörpers. Die Konjunkturen, die sie dabei in arbeitsmarkt-, renten- oder industriepolitischer Hinsicht, bei Kriegen, Umsiedlungen oder sonstigen transnationalen Händeln zu bewältigen haben, liefern dann das Material, an dem sich rechtspopulistische Schmarotzer bedienen können – immer mit dem billigen Vorwurf, man könnte und müsste das Ganze noch mehr im nationalen Interesse gestalten.
P.S. Wie eingangs erwähnt, war der fiktive Charakter der Brandmauer nicht schwer zu erkennen. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten und mit der Errichtung einer faschistischen Diktatur beginnen würden, wenn sie an die macht kämen. Bei Overton hieß es dazu in einem Kommentar im Sommer 2023: „Fragt sich nur, wie lange diese Abgrenzungsstrategie hält, hatte doch auch der frühere SPD-Ministerpräsident Börner zunächst den Grünen mit der Dachlatte gedroht, bevor seine Partei mit ihnen eine Koalition bildete. Bei so viel inhaltlicher Nähe zwischen AfD und den ‚etablierten‘ Parteien kann nach einer Wahl das politische Klima auch schnell kippen, denn schließlich geht es allen – auch der AfD – immer nur um eins: um Deutschland.“
Nachweise:
Patrick Bahners, Die Panikmacher – Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München 2011.
Patrick Bahners, Die Wiederkehr – Die AfD und der neue deutsche Nationalismus. Stuttgart 2023.
Judith Goetz, „Transpersonen fungieren als Kronzeug*innen“ – In der AfD engagieren sich erstaunlicherweise auch Transpersonen. Interview in: Konkret, Nr. 2, 2025, S. 40-41.
Judith Goetz/Thorsten Mense (Hg.), Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus. Münster 2024.
Daniela Rüther, Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im „Genderwahn“. Bonn 2025.
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Der Autor:
Johannes Schillo arbeitet als Autor, Journalist und Redakteur von Fachzeitschriften. Der Sozialwissenschaftler beschäftigt sich in seinen Artikeln und Büchern mit aktuellen Fragen aus (Weiter-)Bildung und Kultur. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Ein nationaler Aufreger – Zur Kritik der Erinnerungskultur“ (Klemm + Oelschläger, 2022) und (zusammen mit Norbert Wohlfahrt) „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ (VSA, 2023).
Eine erste Version dieses Textes ist bei Overton erschienen. Bild: Screenshot von Video des Bundestags