Die „Deutschland AG“ hat sich aufgelöst – neue Herausforderungen für erfolgreiche Kämpfe!

Von Uwe Fritsch

In den vergangenen 20 Jahren ist es zu einer grundlegenden strukturellen Neuordnung der Kapital- und Personalverflechtungen innerhalb des Großkapitals gekommen. Im Zuge der Globalisierung haben sich nationale Konzentrationen aufgelöst und immer weniger Akteure beherrschen die Unternehmen in den größten Wirtschaftsregionen der Welt. Auch auf Grund meiner persönlichen Erfahrungen in dem Weltkonzern Volkswagen AG komme ich zu der These: Das deutsche Großkapital in der Form der ehemaligen „Deutschland AG“[1] hat sich aufgelöst, existiert in dieser Form nicht mehr und organisiert sich neu und globaler“. Daraus ergibt sich aus meiner Sicht für uns als Marxistinnen und Marxisten, als Kommunistinnen und Kommunisten die Notwendigkeit, die politische Praxis, die Strategie und Taktik an diese Entwicklungen anzupassen. Nur die Analyse von objektiven Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft ermöglicht uns auch als Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, den Erhalt und den Ausbau der Gegenmacht als Ausgangspunkt und Chance zu gesellschaftlichem Wandel zu organisieren und langfristig zu grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen zu kommen.

Veränderungen in der Struktur und der Zusammensetzung des Kapitals erlebe ich im Volkswagenkonzern hautnah. Früher war der Konzern trotz der Sperrminorität des Landes Niedersachsen, vor 1988 dazu auch noch mit der Sperrminorität des Bundes, Bestandteil der sogenannten „Deutschland AG“. Im Aufsichtsrat saßen führende Vertreter des deutschen Großkapitals, zum Beispiel die Herren Liesen (E.ON), von Pierer (Siemens), Großmann (Georgsmarienhütte), Oetker (Dr. Oetker Konzern), Gaul (VEBA), Frenzel (TUI) und gleichzeitig waren führende Manager von Volkswagen in anderen Aufsichtsräten vertreten, so u.a. Dr. Winterkorn bei Infineon, Herr Heizmann bei der Lufthansa Technik AG oder Herr Garcia Sans bei der Hochtief AG. Es gab sogenannte Überkreuzbeteiligungen, d.h. Firmen tauschten gegenseitig Aktienpakete oder gründeten Gemeinschaftsunternehmen, und auch Überkreuzaufsichtsratsmandate. Durch Sitz und Stimme in den Unternehmens- oder Konzerngremien, die die Konzerne finanziell und personell untereinander vernetzten, konnte die „Deutschland AG“ als wirtschaftlicher und politischer Faktor großen Einfluss ausüben.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich die Eigentümerstrukturen jedoch grundlegend geändert (Quelle: manager magazin 11A/2017, Oktober 2017 von C. Neßhöver/A. Bornefeld).

Die personellen Verflechtungen der 100 größten Unternehmen haben sich in den Jahren 1972 bis 2012 im Wesentlichen aufgelöst. Die Erhebungen der Bundesregierung im „Monopolbericht“ machen die rasante Abnahme der Kapitalverflechtungen der Unternehmen im Banken- und Wirtschaftssektor deutlich. Gab es 1978 in den größten 100 Unternehmen der Bundesrepublik 242 Verflechtungen über Mitglieder der Geschäftsführungen und 527 „sonstige Verflechtungen“, so waren es 2014 nur noch 45 in den Leitungen und 140 sonstige.(vgl. www.monopolkommission.de/imagens/HG21/HGXXI_Gesamt.pdf)

Ein weiteres wichtiges Indiz für massive Veränderungen in der Kapitalstruktur ist die Abnahme der Kapitalverflechtungen zwischen den „100 größten“ Unternehmen der BRD im Zeitraum von 1978 bis 2014. Auch die Gesamtzahl der Unternehmen und die wechselseitigen Beteiligungen, sowie die absolute Anzahl der Anteilseigner in diesem „Netzwerk“ haben stark abgenommen.(vgl. www.monopolkommission.de/imagens/HG21/HGXXI_Gesamt.pdf) Damit verbunden war eine Verschiebung der Machtzentren bzw. Knotenpunkte des Kapitals. Die wichtigsten Knotenpunkte 1996 waren die Banken z.B.: Deutsche Bank, Dresdner Bank, Bayerische Hypo Bank und die Versicherungen wie z.B.: Allianz, Münchner Rück. (vgl. www.mpifg.de/aktuelles/themen/doks/Deutschland_AG_1996bis2010.pdf).

Diese Überkreuzbeteiligungen und finanziellen Knotenpunkte haben sich bis zum Jahr 2010 fast komplett entflochten oder verschoben. Die größten Konzentrationen sind aktuell die staatliche KFW Bank und die Allianz Versicherung. Parallel dazu gibt es Kapitalkonzentrationen ohne weitere Verflechtungen, wie z.B. die Volkswagen AG. (vgl. www.mpifg.de/aktuelles/themen/doks/Deutschland_AG_1996bis2010.pdf).

Fast parallel zur Entflechtung der Überkreuzbeteiligungen der größten Unternehmen verlief die Entflechtung der Überkreuzbesetzungen im Zeitraum von 1996 bis 2006. Die Deutsche Bank war Kern der „Deutschland AG“. Sie hielt viele Beteiligungen an Konzernen und steuerte die Kapitalströme. Ihr politischer Einfluss war riesig. Sie hat an Bedeutung und Einfluss massiv verloren. (vgl. www.mpifg.de/aktuelles/themen/doks/Deutschland_AG_1996bis2010.pdf).

Gleichzeitig nahmen die Konzentrationsprozesse im Kreis der 100 größten Unternehmen der Bundesrepublik Deutschland zu und beschleunigten sich. (vgl. www.mpifg.de/aktuelles/themen/doks/Deutschland_AG_1996bis2010.pdf).

Im gleichen Zeitraum nach 1990 bis heute nahm neben den beschriebenen Prozessen der Entflechtung, die Internationalisierung des Kapitals enorm zu. Viele der 100 größten deutschen Unternehmen fusionierten erst national. Insgesamt gab es zwischen 2010 und 2013 unter den 100 größten Unternehmen ca. 1200 Anträge beim Bundeskartellamt für Übernahmen oder Zusammenschlüsse. Diese Anträge wurden im Wesentlichen genehmigt.(vgl. www.monopolkommission.de/images/HG21/HGXXI_Gesamt.pdf).

Das führte im Ergebnis zu einer weiteren Konzentration des Kapitals. Zugleich wurden immer mehr Firmen oder Konzerne in Aktiengesellschaften umgewandelt und an den internationalen Börsen kapitalisiert. Das führte zu einer Internationalisierung der Beteiligungen. Im Ergebnis führt das zu einer Veränderung der Aktionärsstruktur von privaten Anlegern, hin zu Hedge-Fonds und Beteiligungsgesellschaften. Dieser Prozess ist aus meiner Sicht noch lange nicht zu Ende und führt im Ergebnis zu einer weiteren Verschiebung der Machtzentren des internationalen und nationalen Kapitals.(vgl. www.boeckler.de/51937.htm?produkt=HBS-006866&chung=1&jahr=2018).

Die Europäisierung und Internationalisierung möchte ich an mehreren Beispielen verdeutlichen:

  • die Übernahme der Colonia Versicherung durch die französischen Versicherungskonzern AXA,
  • die grenzüberschreitende Übernahme der Hypo Vereinsbank durch Unicredito Italiano,
  • die Konzentration im Energiesektor durch Übernahme des Berliner Energieversorgers BEWAG, der Hamburger Elektrizität und des deutschen Energieversorgungsunternehmens VEAG durch die schwedische Vattenfall,
  • bei der Siemens AG gehören nur noch 6% der Aktien Familienmitgliedern, aber 65% der Anteile Fonds oder Banken. Der Anteil deutscher Aktionäre beträgt nur noch 29% gegenüber 71% internationalen Beteiligungen,
  • die BASF gehört noch zu 29% privaten Anlegern und 71% bestimmen Fonds und Banken. Hier liegt der Anteil deutscher Aktionäre zwar noch bei 40% aber mit 60% internationalen Anteilseignern ist auch die BASF kein klassisch „deutsches Unternehmen“ mehr.

Ein wesentlicher Grund für die Neustrukturierung des Kapitals war die Einschätzung seiner Vertreter, dass die Profite im nationalen Rahmen an Grenzen stoßen, nicht im Marxschen Sinn bis „zur Strafe des eigenen Untergangs“ gesteigert werden können. Hinzu kam die Erkenntnis der Eigentümer, dass Maximalprofite nicht mehr durch hauptsächliches Industrieeigentum oder durch die Konzentration auf Industriebeteiligungen erreicht werden können. Vielmehr ergaben sich neue Hoffnungen auf Profitsteigerungen durch finanzielle Aktivitäten im internationalen Maßstab, die zu einer nachhaltigen Strategieänderung der Beteiligten an der ehemaligen „Deutschland AG“ führten. Auch die deutschen und internationalen Banken verloren zunehmend das Interesse an Beteiligungen bei Industrieunternehmen. Sie sahen vielmehr größere Chancen im Handel mit Wertpapieren, Aktien jeder Art, dem Ausbau und der Schaffung anderer Finanzinstrumente und in der ausgedehnten Internationalisierung der Kapitalströme. In der Folge überließen sie die Industriebeteiligungen in großem Maßstab den internationalen Fonds wie BlackRock Inc., Cevian Capital AB, Kohlberg Kravis Roberts & Co (KKR) oder Vanguard Group.

Dieser Prozess wurde insbesondere 1999/2000 durch die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung mit ihrem Finanzminister Hans Eichel forciert, der durch Veränderungen in der Steuergesetzgebung diesen Prozess beschleunigte. So lobte das Handelsblatt in seiner Ausgabe vom 31. August 2005: „Es war vielleicht das größte Geschenk, das Bundesfinanzminister Hans Eichel der deutschen Wirtschaft gemacht hat. Ende 1999 schreibt der SPD-Politiker in den Entwurf für seine Steuerreform, dass die Unternehmen für den Verkauf von Beteiligungen ab dem 1. Januar 2002 so gut wie keine Steuern mehr bezahlen müssen.“ Und weiter heißt es: „Die Investoren haben die Tragweite dieser Entscheidung gleich verstanden, an der Börse schossen die Kurse in die Höhe als Eichels Pläne bekannt wurden. Nur die Chefs der deutschen Konzerne brauchten etwas länger bevor sie begriffen, dass der Bundesfinanzminister gerade das Ende der Deutschland AG eingeläutet hatte.“

Von nun an gab es die Chance auf größere Profite im internationalen Maßstab. Im Ergebnis führte das zu einer umfassenden Veränderung der Kapitalstrukturen in Deutschland, einer zunehmenden Globalisierung – ohne irgendeine Rücksicht auf die historisch gewachsenen örtlichen, regionalen oder nationalen Interessen an dem Erhalt von Arbeitsplätzen und Produktionsstandorten.

Auch bei Volkswagen wurden diese Entwicklungen deutlich. Nicht nur mit dem Einstieg der österreichischen Familien Porsche und Piëch als Mehrheitsaktionäre ist die Aktionärsstruktur internationaler geworden. Auch die Beteiligung des Emirats Qatar mit 17 Prozent der stimmberechtigten Aktien ist ein weiteres Beispiel. Durch den Zukauf von Anteilen und letztlich der hundertprozentigen Übernahme des schwedischen LKW-Herstellers Scania durch die Volkswagen AG rückte mit der Chefin der schwedischen SEB-Bank A. Falkengren bis vor wenigen Monaten eine weitere internationale Finanzmanagerin in den Aufsichtsrat. Im VW-Aufsichtsrat überwiegen somit heute Kapitalvertreter aus anderen Staaten. Zwar ist der Hauptsitz des Volkswagenkonzerns in Deutschland, aber von einem deutschen Konzern zu sprechen ist angesichts dieser Veränderungen mindestens fraglich.

Unabhängig vom Standort der Konzernzentrale hat so ein riesiger Industriekonzern immer auch den Anspruch politischer Einflussnahme. Das Ziel ist dabei mit Hilfe der nationalen Regierungen auf dem internationalen Parkett die Kapitalverwertungsbedingungen mindestens zu erhalten oder im Sinne eines transnationalen Konzerns auszubauen. Das gilt für alle führenden globalen Großkonzerne, die ihren zentralen Sitz in Deutschland haben, also von Deutschland aus global agieren. Sie bilden eine Art „neue Deutschland-AG“ im Rahmen einer „neuen Europa-AG“. Durch ihre Vertreter in den europäischen und internationalen Gremien sprechen sie ihre gemeinsamen Interessen ab, z.B. im Verband der europäischen Automobilindustrie ACEA, und üben entsprechenden Einfluss auf die deutsche und europäische Politik aus. Dabei kommt ihnen die reale wirtschaftliche Macht und das damit verbundene große Gewicht der deutschen Politik im internationalen Maßstab zugute. BDA, BDI und andere Verbände bieten dafür geeignete Foren. Auch auf europäischer und globaler Ebene wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen, wie etwa „Businesseurope“, dem „Runden Tisch“ der führenden EU-Konzernchefs, international das WWF in Davos, G7 und G20 sowie die Weltbank und die WTO. Mit Hilfe dieser Gremien nehmen die Konzerne gezielt Einfluss auf die internationale Politik.

„Die neuen internationalen Investoren bringen häufig ein angelsächsisch geprägtes Verständnis von Unternehmensführung mit, da etwa 60 Prozent aller Dax-Aktien sich im Besitz von institutionellen Investoren befinden, von denen der allergrößte Teil aus den USA, Großbritannien und dem europäischen Ausland kommt. Das hat auch Konsequenzen für die Beschäftigten und die Mitbestimmung.“ Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse von Alexander Sekanina vom Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (Hans-Böckler-Stiftung, Mitbestimmungsreport Nr. 42, April 2018). Neu sind demnach die zunehmende Meinungsmacht der Vermögensverwalter und ihr wirtschaftlicher Einfluss, schreibt der Mitbestimmungsexperte. Denn ganz so neutral, wie es zunächst den Anschein hat, verhalten sich die Vermögensverwalter nicht. Zum einen sorgt ihr automatisierter Ansatz (Anm. des Autors: kaufen, Wert steigern und wiederverkaufen) für einen gewissen Gleichklang von Anlageentscheidungen – was einen Herdentrieb auslösen kann, der Kursschwankungen an den Aktienmärkten verstärkt. Zum anderen halten sich die passiven Vermögensverwalter zwar gerne im Hintergrund und überlassen aggressiven Finanzinvestoren das Feld. Gleichzeitig verfolgen sie aber – kaum bemerkt von der Öffentlichkeit – auch eigene Ziele. Das zeigen ihre Abstimmungsrichtlinien für Hauptversammlungen, in denen bestimmte Themen immer wieder auftauchen: die Verlagerung von Entscheidungen vom Aufsichtsrat in die Hauptversammlung (zum Beispiel in Fragen der Vorstandsvergütung), die Forderung nach separaten Gesprächskanälen („Investorengespräche“ zwischen einzelnen institutionellen Investoren und dem Management beziehungsweise dem Aufsichtsratsvorsitzenden) oder die Verlagerung des Unternehmenssitzes ins Ausland, sofern dadurch Kosten gesenkt werden können. All diese Initiativen dienen dazu, erläutert Sekanina, die Unternehmensführung nach Aktionärsinteressen auszurichten, während der Aufsichtsrat als Mitspracheorgan der Stakeholder – speziell der Beschäftigten – geschwächt wird.

Vor allem Vermögensverwalter wie BlackRock, State Street Corporation oder Vanguard Group haben in den vergangenen Jahren in börsennotierte Unternehmen aus Deutschland investiert. Allein BlackRock (mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden der deutschen BlackRock-Tochter, Friedrich Merz, der jüngst für den CDU-Vorsitz kandidierte) besitzt inzwischen Dax-Aktien im Wert von rund 62 Milliarden Dollar, was gut sechs Prozent des gesamten Börsenwerts aller Unternehmen im Deutschen Aktienindex entspricht.

Parallel zu diesen Entwicklungen findet eine weitere Strukturveränderung im deutschen Groß- und Finanzkapital statt. Die Erben großer Industriebetriebe oder Vermögen sind nicht mehr direkt persönliche Eigentümer der Produktionsmittel, also von Betrieben, Maschinen und Anlagen. Sie verkaufen ihre Betriebe, um dann mit ihren Vermögen Beteiligungsgesellschaften und eigene

Immobilienfonds zu bilden oder sie legen ihre Vermögen direkt bei den großen internationalen Hedge-Fonds an – mit der klaren Zielsetzung der Steigerung des Anlagewertes. Mit welchen Mitteln dies durchgesetzt werden soll, interessiert die Anleger wenig: nur das Ergebnis zählt! Das ist das direkte Ergebnis der durch Eichel reformierten Steuerpolitik.

Einige Beispiele aus der Aufstellung der „1001 Reichsten Deutschen“ zeigen auf, wie die Vermögen heute investiert werden (Auswertung aus „manager magazin 11A/2017, Oktober 2017“)

Diese Aufstellung zeigt den Wandel von industriellem Vermögen in Finanzanlagen und -beteiligungen.

Familie Vermögen ehemaliger Besitz Aktuell gewandelt
Otto (Otto-Versand) 13 Mrd€ Versandhandel Versandhandelimmobilien (ECE)
Wirtgen 2,5 Mrd€ Maschinenbau Kapitalanlagen
Herz (Tchibo) 8,2 Mrd€ Nahrungsmittel Kapitalanlagen / Beteiligungen
Hopp (SAP Software) 7,3 Mrd€ Software Beteiligungen
Jacobs (Jacobs-Suchard / Adecco) 5,8 Mrd€ Nahrungsmittel
Personal-Verleihgeschäft
Beteiligungen
Von Finck (Degussa Metall) 5,4 Mrd€ Metallverarbeitung
Hotelgewerbe
Beteiligungen
Haub (Tengelmann) 4,2 Mrd€ Einzelhandel Beteiligungen
Strüngmann (Hexal) 7,8 Mrd€ Arzneimittel Beteiligungen
Werner & Lehmann  (DM-Märkte) 3,7 Mrd€ Einzelhandel Beteiligungen

 

Auswirkungen globalisierter Kapital- und Finanzmärkte auf die Interessenvertretung

In den Betrieben gibt es in Folge der genannten Entwicklungen für die Belegschaften nicht mehr die „klassischen Kapitalisten“, die morgens im Mercedes Benz eine dicke Zigarre rauchend durchs Werktor fahren. Sichtbar sind hingegen immer mehr die Manager, die zwar Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel haben, aber nicht deren Eigentümer sind. Sie sind im Unternehmen angestellt und werden oft nach wenigen Jahren ausgetauscht, wechseln den Standort innerhalb des Unternehmens oder sogar den Konzern. Die wirklichen Eigentümer, wie Hedge-Fonds, Beteiligungsgesellschaften oder Aktionäre, sind hingegen für die Belegschaften als Klassengegner nicht real erkennbar, sondern häufig nur virtuell vorhanden. Das erschwert den Gegnerbezug in allen Klassenkämpfen, wenn es um Tarifbewegungen, um Standortschließungen, Entlassungen oder Verkäufe von Betriebsteilen geht. Ein Beispiel dafür ist die aktuelle Auseinandersetzung um die Firma „Neue Hallberg Guss“ mit dem Investor „Prevent“. In den unterschiedlichen Verhandlungen sind für die Belegschaft und die IG Metall nur Rechtsanwälte oder Geschäftsführer sichtbar. Die eigentlichen Besitzer, die Brüder Hastor, die letztlich die Strategie bestimmen, blieben in dieser Auseinandersetzung unsichtbar.

Gleichzeitig werden die persönlichen Bindungen von Führungskräften im Management zum Standort und zu den Menschen im Betrieb und der Region erschwert und zum Teil ganz bewusst verhindert. Die Werkleiter, die Personalleiter oder Finanzvorstände sind eben nur Angestellte, zwar leitend mit Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, aber eben auch durch die eigentlichen, vermeintlich „unsichtbaren“ Besitzer schnell austauschbar. Das geschieht z.B. entweder durch Beschluss in den Aufsichtsräten oder durch die Abgesandten der Investoren in den Gesellschafterversammlungen. Wer die Vorgaben für die erwartete Rendite nicht erfüllt, muss gehen. Die betroffenen Manager fallen allerdings nicht in die Armut. Anders als die von Arbeitsplatzverlust betroffenen Beschäftigten, ihre Familien und die von Werksschließungen betroffenen Städte, Regionen und Länder.

Festzustellen ist, dass die ehemalige „Deutschland AG“ sich weitestgehend in ihrer bisherigen Form aufgelöst hat. Neben den Finanz- und Kapitalstrukturen hat sich auch eine stärkere Internationalisierung von Wertschöpfungsketten, Produktionsverbünden und der Logistik ergeben; dadurch ist es auch zu neuen Formen der Arbeitsteilung gekommen. So gibt es in Deutschland z.B. keine nennenswerte Industrie für Unterhaltungselektronik mehr: Grundig, Telefunken, Nordmende, SABA und weitere bekannte Marken sind Geschichte. Ähnliches gilt für die Textil- und Fotoindustrie mit so bekannten Marken wie Trumpf, Schiesser, Triumpf, Voigtländer, Rollei und Zeiss-Ikon. Die Ursachen für das Verschwinden dieser Unternehmen sind verschieden: das „Verschlafen“ technologischer Entwicklungen oder die Produktionsverlagerung auf Grund extremer Lohngefälle führte zu Standortschließungen und zu Arbeitsplatzverlusten von tausenden Beschäftigten, mit allen erdenklichen Folgen für die Betroffenen. Auch die Zulieferindustrie der Automobilhersteller ist ein Beispiel für diese Veränderungen. Viele der Zulieferkonzerne haben in den vergangenen 30 Jahren ihre Betriebe nach Ost- und Südeuropa verlagert und neue Werke errichtet, teilweise mit europäischen und/oder staatlichen Subventionen. Das verdeutlicht die globalen Verschiebungen in den Wertschöpfungsketten und damit auch die neuen wirtschaftlichen Verflechtungen. Diese Entwicklungen verstärken die gegenseitige wirtschaftliche und politische Abhängigkeit der Länder und damit auch der arbeitenden Menschen.

Herausforderungen für politische Aktionen

Um die Lage der Arbeiterklasse in diesem auf allen politischen und wirtschaftlichen Ebenen stark verknüpften Europa zu verbessern, brauchen wir einen gemeinsamen Kampf um die Angleichung der sozialen Mindeststandards, damit die Konkurrenz von Belegschaften und nationaler Sektionen der Arbeiterklasse verhindert oder wenigstens erschwert werden kann. Wir brauchen eine stärkere Zusammenarbeit, die breitesten Bündnisse der Gewerkschaften in Europa, unterstützt von linken, antimonopolistischen Kräften und den europäischen Kommunistinnen und Kommunisten. Wir müssen die Treiber solcher Prozesse sein, unabhängig von politischen Einschätzungen zu einzelnen Fragen der gegenwärtigen Entwicklungen im Kapitalismus, aber unter Beachtung und Würdigung nationaler Besonderheiten und geschichtlicher Entwicklungen. Deshalb müssen wir alle Möglichkeiten internationaler Kontakte und grenzüberschreitender Aktivitäten nutzen: in und mit den Gewerkschaften und Bewegungen, wie z.B. „Attac“ oder der “Europäischen Linkspartei“, sowie im Rahmen von Beratungen kommunistischer Parteien. Dazu gehören auch immer eigene Initiativen um zur stärkeren Aktionsorientierung beizutragen.

Ich halte die wirtschaftliche Integration weltweit und insbesondere in Europa für so weitreichend, dass ein Austritt oder eine „Renationalisierung“ der Wirtschaft eines Landes kaum noch möglich ist. Der „Brexit“ und die Verhandlungen dazu geben meiner Meinung nach viele bemerkenswerte Hinweise, wie z.B. das Thema Zollunion zeigt. Wenn grenzüberschreitende Lieferketten und internationale Arbeitsteilung dazu führen, dass die gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten in Europa großen Einfluss auf die nationalen Volkswirtschaften haben, ist die politische Forderung nach Austritt eines Landes aus der EU zwar vielleicht politisch mehrheitsfähig. Sie ist jedoch außerordentlich populistisch, fördert den Nationalismus und ist in gleicher Weise ökonomisch ohne große negative Auswirkungen auf die Arbeiterklasse und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen nicht umsetzbar. Nationale Alleingänge verändern die aktuellen Konzentrationsprozesse des Monopolkapitals nicht. Sie führen eher noch zur Verstärkung der Konkurrenz der nationalen Sektionen der Arbeiterklasse untereinander. Das wiederum verstärkt nationalistische Tendenzen aus Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg. Und genau diese Ängste erschweren den Blick für die eigentlichen gesellschaftlichen Ursachen und verhindern den so notwendigen internationalen Klassenkampf.

Es gibt schon gute Beispiele für Erfolge im internationalen Kampf, wie die Auseinandersetzungen um die „Bolkestein-Richtlinien“, die das sogenannte „Herkunftslandprinzip“ (des Dienstleisters) bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen festschreiben wollte. Damit wäre einer Unterbietungskonkurrenz im europäischen Raum mit massiven Arbeitsplatzverlusten und Lohndumping Tür und Tor geöffnet worden. Ein weiteres Beispiel ist der gewonnene internationale Kampf um „Port Package I & II“. Die EU-Regelungen zum „freien Wettbewerb um Dienstleistungen in den europäischen Häfen“ wurden nach massiven Demonstrationen und Aktionen der europäischen Hafenarbeiter verhindert. Die EU-Richtlinie über den Marktzugang zu Hafendiensten ist im EU-Parlament mit 532 gegen 120 Stimmen bei 25 Enthaltungen abgelehnt worden. Beide Beispiele beweisen doch die Kraft internationaler Kämpfe. Aus diesen Erfahrungen sollten wir Kraft schöpfen und weitere Forderungen entwickeln.

Thesen zur Diskussion

Wir brauchen eine bessere internationale Zusammenarbeit aller linken und fortschrittlichen Kräfte. Aus gewerkschaftlicher Sicht gehört dazu der Kampf um die Gründung von „Europäischen Konzernbetriebsräten“ mit erweiterten Mitbestimmungsrechten. Wir brauchen internationale gewerkschaftliche Initiativen und Bewegungen für die Durchsetzung sozialer Mindeststandards, wie einheitliche Arbeitszeitregelungen, Standards für Arbeitssicherheit, Umweltschutz sowie Rentenalter und Rentenhöhe. Das sind aus meiner Sicht unsere aktuellen Aufgaben und Leitlinien unserer politischen Orientierung. Dabei das langfristige grundsätzliche Ziel der gesellschaftlichen Veränderung nicht aus den Augen zu verlieren, ist für uns Kommunistinnen und Kommunisten selbstverständlich.

Schritte zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Menschen über Ländergrenzen hinweg sind notwendig und möglich. Wir brauchen dazu die Verstärkung der grenzüberschreitenden Gewerkschaftsarbeit zum Beispiel durch eine europäische Tarifpolitische Koordinierung.

Dabei müssen wir in unserem Land dafür wirken, dass die Arbeiterklasse mit Hilfe ihrer Organisationen ihre Rolle im internationalen Kampf wahrnimmt. Die im Verhältnis gut organisierte Arbeiterklasse der Bundesrepublik hat eine wichtige Bedeutung, auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und politischen Stärke der Bundesrepublik Deutschland. Gerade von unserem Land und seinen gewerkschaftlichen und betrieblichen Organisationen aus muss der Ausbau der Verbindung von nationalen und internationalen Kämpfen vorangetrieben werden. Wir haben die politische Verantwortung als „Lokomotive der Verteilungskämpfe“ einen großen Einfluss auf die Fahrtrichtung zu haben. Deshalb gilt es eine Verbindung von nationalen und internationalen Kämpfen herzustellen. Dass der DGB und seine Einzelgewerkschaften das noch nicht als einen der wichtigsten Arbeitsschwerpunkt sehen, macht doch deutlich, worin unsere Aufgabe und Verantwortung in den Gewerkschaften liegt.

Im Jahr 2019 finden wichtige Gewerkschaftstage der beiden großen deutschen Gewerkschaften Ver.di und IG Metall statt. Das bietet die Möglichkeit – ganz besonders in der von nationalistischen Tendenzen in Europa geprägten Zeit – gerade von linken, fortschrittlichen Kolleginnen und Kollegen, von Kommunistinnen und Kommunisten auf die intensivere internationale Zusammenarbeit zu drängen. Wer, wenn nicht wir, müssen in den Gewerkschaften und in den Gremien der Interessenvertretungen darauf drängen, dass die Gegenmacht gegen das Kapital auch im internationalen Rahmen verstärkt wird.

 

Aktuelle Informationen zum VW-Konzern

Die Volkswagen AG ist einer der größten Industriekonzerne der Welt mit aktuell ca. 660.000 direkt Beschäftigten bei Volkswagen weltweit an 125 Standorten auf 5 Kontinenten. Der Konzern beinhaltet mehr als 1000 Gesellschaften. Mit einem Umsatz in Höhe von ca. 230 Milliarden € im Jahr 2017, einem Gewinn vor Steuern von ca. 17 Milliarden € und einem Kassenbestand von mehr als 20 Milliarden € flüssiger Mittel ist der Konzern, trotz der bisherigen Belastungen aus der „Dieselkrise“ durch den Geldabfluss von mehr als 28 Milliarden €, wirtschaftlich gesund.

Nach wie vor ist die Kapitalstruktur mit einer Beteiligung des Landes Niedersachsen von 20,01% und der damit verbundenen Sperrminorität etwas Besonderes. Durch das VW-Gesetz und die damit in der Satzung der Volkswagen AG verankerten weitreichenden Mitbestimmungsrechte hat die „Arbeitnehmerseite“ tiefe Einblicke in den Konzern. Das beinhaltet nicht nur einen umfassenden Einblick in die wirtschaftlichen Daten, sondern vor allem auch in die strategischen Planungen und ihre Auswirkungen auf die Produktentwicklung, Beschäftigung, Belegschaften und Standorte.

Das sind Grundbedingungen für eine intensive qualifizierte Mitbestimmung der gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessenvertretung.

Die Möglichkeit einer intensiven gewerkschaftlichen Interessenvertretung in allen Betrieben ist durch weltweit gültige Verträge zwischen Konzernvorstand und Weltkonzernbetriebsrat garantiert, wird weltweit kontrolliert und auch eingehalten. Es geht dabei auch um konzernweit einheitliche gewerkschaftliche, soziale und politische Standards um die Konkurrenz der Belegschaften untereinander weitest gehend zu verhindern. Dafür stehen drei wesentliche konzernweit gültige Vereinbarungen:

  • Die Charta der Arbeitsbeziehungen: Konzernweite Vereinbarung zur Sicherung der gewerkschaftlichen Tätigkeit, der betrieblichen Interessenvertretung, sowie der Mitbestimmung und der Konsultationsrechte in allen Gesellschaften, Betrieben und Standorten des Konzerns weltweit,
  • Die Charta der Leiharbeit: Konzernweite Vereinbarung zum Einsatz von Leiharbeit auf der Basis nationaler Gesetze und Regelungen, mit weltweit einheitlichen maximalen Grenzen und unter Beachtung sozialer Standards,

und

  • Die Charta der Berufsausbildung: Konzernweite Regelung zur weltweit umfassenden Einführung und Weiterentwicklung des dualen Ausbildungssystems in den Konzerngesellschaften und Standorten um den wachsenden Anforderungen an die Tätigkeiten in einer sich rasant verändernden Arbeitswelt gerecht werden zu können.

 

Uwe Fritsch ist Betriebsratsvorsitzender bei VW-Braunschweig und Mitglied im Weltkonzernbetriebsrat Volkswagen

Der Artikel erschien zuerst in Marxistische Blätter 3_2019, „Verteidigung einer Ruine – Nachdenkliches zu 70 Jahre Grundgesetz“ und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt https://www.neue-impulse-verlag.de und https://www.neue-impulse-verlag.de/shop/item/9783961700264/verteidigung-einer-ruine-paperback.

 

Anmerkung:

[1] Mit „Deutschland AG“ wurde bisher ein Netzwerk von Verflechtungen zwischen großen Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen bezeichnet. Dieses Netzwerk beruhte auf gegenseitigen Kapitalbeteiligungen und einer Konzentration von Aufsichtsratsmandaten führender deutscher Manager, Gewerkschafter und Politiker (boerse.de).