Die Familie als Tatort

In den Medien werden wahlweise die Sonnenallee und der dunkle Park zu No-go-Areas für Frauen erklärt. Tatsächlich erfahren Frauen Gewalt vor allem im sozialen Nahraum.

Von Giesela Notz

Das Entsetzen über die soeben erschienenen Kriminalstatistiken ist groß. Besonders erschreckt die Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Kinder. Noch vor wenigen Jahren wurde jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner ermordet, bald darauf starb schon jeden zweiten Tag eine Frau oder ein Mädchen. Und heute – so der Bericht des Bundeskriminalamts vom 24. November 2024, einen Tag vor dem „Tag der Beseitigung der Gewalt gegen Frauen“ – heißt es sogar: „fast täglich tötet in Deutschland ein Mann eine Frau oder ein Mädchen. Fast jeden Tag stirbt in Deutschland eine weibliche Person“. Das ist ein Skandal. Todesursache: Häusliche Gewalt, innerfamiliale Gewalt, partnerschaftliche Gewalt, Gewalt im sozialen Nahraum, jedenfalls getötet von Männern, meist Ehemännern, Lebensgefährten oder Ex-Partnern, manchmal Freunden, Brüdern oder Vätern. Man nennt das Femizid.

Als Femizid bezeichnet man die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Es geht dabei um Macht und Unterordnung, Dominanz- und Besitzansprüche in Geschlechterverhältnissen, die durch die herrschende Ideologie von der Kleinfamilie mit ihren tradierten Rollenmustern verstärkt werden. Femizide sind ein weltweites Problem, das der Aufschwung rechtsextremistischer, religiös-fundamentalistischer, antifeministischer und rassistischer Bewegungen verschärft.  Expertinnen und Experten verweisen darauf, dass es sich meist um gut vorbereitete, also nicht aus dem Affekt heraus begangene Taten handelt. Männer morden „ihre“ Frauen, weil sie glauben, das Recht dazu zu haben, weil sie die Frauen besitzen. Sie morden vor oder nach Trennungen, weil Frauen schwanger sind, weil diese beruflichen Erfolg haben oder eigene Wege gehen wollen. Eine Vielzahl von Studien hat gezeigt, dass Frauen generell ein deutlich höheres Risiko tragen, durch einen Intimpartner getötet zu werden, als Männer.

Seit 2015 – seit Femizide in den jährlichen bundesdeutschen Polizeistatistiken aufgelistet werden – steigen die Zahlen kontinuierlich an. Die Dunkelziffer ist nach Aussagen des Bundeskriminalamtes erheblich, weil systematische Datenerhebungen fehlen, es keine allgemein gültige Definition des Begriffes Femizid gibt und viele Fälle unaufgeklärt bleiben. Zudem ist die Hemmschwelle, Hilfe zu suchen, groß.

Kaum jemand spricht darüber, dass es in unserer zivilisierten Gesellschaft für Frauen und Mädchen offensichtlich keinen sicheren Ort gibt weder am Arbeitsplatz noch in der Schule, auf der Straße oder im Sportverein. Der gefährlichste Platz ist allerdings in der Familie. Der grundgesetzlich zugesicherte staatliche Schutz von Ehe und Familie (Art. 6, Abs. 1 GG) garantiert de facto keineswegs den Schutz der (Ehe)frauen und Kinder vor männlicher Gewalt und Unterdrückung. Das ist der eigentliche Skandal.

„Wenn Sie Gewalterfahrungen suchen, gleich ob als Opfer oder als Täter, gründen Sie am besten eine Familie“, lautet das zugespitzte Fazit, das Kai Bussmann, Professor für Strafrecht an der Universität Halle-Wittenberg aus seiner Forschung zieht. Bussmann bestätigt: „Es gibt in unserer hochzivilisierten Gesellschaft keinen unsichereren Ort als die Familie.“ Insgesamt sei Gewaltkriminalität in Deutschland rückläufig. Aber aus dem öffentlichen Raum sei sie erfolgreicher verdrängt worden als aus dem privaten Bereich. Es sind die Familiendramen, die überhandnehmen. Aber was ist ein Familiendrama?

DaMigra, der Dachverband der Migrantinnenorganisationen, verweist darauf, dass Femizide häufig als „Familiendrama“, „Ehrenmord“, „Trennungstötung“, „Eifersuchtsdrama“ und so weiter verharmlost werden, auch in den Medien. Selbst in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gelten bei „Trennungstötungen“ oft mildernde Umstände, wenn „die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt sieht, was er eigentlich nicht verlieren will“ (BGH vom 29.10.2008). Damit gibt man den Opfern eine Mitschuld an ihrer Ermordung, während die Besitzansprüche der Täter an “ihren” Frauen strafmildernd wirken. Darin spiegelt sich Ignoranz und Abwertung von Frauen und ihren Rechten wider. Einen Mann zu verlassen oder abzuweisen, kann für Frauen tödlich enden.

Die verschiedenen Bezeichnungen für Gewalt gegen Frauen machen schon deutlich, dass sie zu Hause ausgeführt wird, in der Familie, durch die Mitglieder der Familie beziehungsweise in der „Partnerschaft“, und das meist in heterosexuellen Zusammenhängen. Das ist bekannt und dennoch wird über diesen Nahbereich nicht gesprochen. Denn das Private ist noch immer nicht politisch, und was dort passiert, geht niemand etwas an.

Die bürgerliche Kleinfamilie wird, seit sie besteht – und das sind noch keine 300 Jahre – hochgejubelt als „Keimzelle des Staates“ und Produzentin einer neuen Generation. Auch als Bollwerk gegen die Versachlichungsprozesse des kapitalistischen Wirtschaftens und als Wärmespenderin in der kalten Rationalität von Produktion und bürokratischer Verwaltung. Die Familie und das ist in aller Regel die Zweigenerationenfamilie mit Vater, Mutter und einem oder mehreren (eigenen) Kindern, ist also unentbehrlich. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zum Leitbild der Nachkriegsgeneration. Trotz des „Frauenüberschusses“ von über sieben Millionen Frauen und trotz der Tatsache, dass in Deutschland fast vier Millionen Frauen ohne die Anwesenheit eines Mannes wirtschafteten und 2,5 Millionen Kriegerwitwen mit ihren Kindern lebten, wurde sie als „die letzte Stabilität in einer sich auflösenden Welt“ gepriesen. Jedenfalls hat sie der Soziologe Helmut Schelsky in seinem Buch Wandel der deutschen Familie (1952) so beschrieben. Anhand seiner umfassenden Strukturanalyse der deutschen Nachkriegsfamilie konstatierte er, dass diese trotz einer massiven Bedrohung ihrer Stabilität durch Vertreibung, Deklassierung, jahrelange Abwesenheit der Männer und anderes, nicht nur nicht zerbrach, sondern mit einer Verstärkung des Zusammenhalts reagierte. Die in seiner Untersuchung immer wieder kehrende Aussage von Frauen, „nur noch für die Familie leben zu wollen“, kennzeichnet für ihn die allgemeine Bewusstseinslage derjenigen, für die „in einer Welt des Verlustes die Familie den Wert des einzigen und aus eigener Kraft geretteten und gewonnenen sozialen Gutes trägt.“ Dass so viele Frauen das Leben alleine oder auch mit anderen Frauen meisterten oder dass sie Not litten, weil der für sie vorgesehene „Haupternährer“ für „Volk und Vaterland“ gestorben war, kommt in der Erzählung ebenso wenig vor, wie die Pflege der Millionen verwundeten heimgekehrten Männer und die zahlreichen Scheidungen, weil man sich nicht mehr aneinander gewöhnen konnte oder die Männer sich nicht mit einer in der Zwischenzeit selbstständig gewordenen Frau anfreunden konnte.

Die Ideologisierung der Kleinfamilie – ich nenne das Familismus – durchzieht die Geschichte der BRD. Sie überstand die konservative Regierung Adenauers, den Kalten Krieg, die sozial-liberale und alle anderen Koalitionen, sogar die Kritik der Neuen Frauenbewegungen und der Alternativbewegung und wirkt bis heute.

Noch immer wird suggeriert, dass die Familie der Ort sei, an dem Menschen Sicherheit, Ruhe und Geborgenheit finden. Beklagt wird, dass ihr „Zerfall“, gemeint ist die Unterwanderung durch andere Lebensformen, dazu führe, dass vor allem Frauen und Kinder diese Geborgenheit vermissen müssen. Meist werden Frauen und Kinder, die nicht in einer „Normalfamilie“ leben, bedauert, und dies, obwohl Vergewaltigung – die in der Ehe erst seit 1997 strafbar ist – und die Misshandlung von Kindern und anderen Familienangehörigen nicht nur die Fantasie der Medien, sondern auch die Gerichte stark beschäftigen und nicht mehr zu reparierende Schäden bei den Opfern anrichten.

Schon seit Jahrzehnten zeigen Studien, dass es bei familialen Gewalttätern keine klassenspezifischen Unterschiede gibt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schlug 2014 in einer Untersuchung vor, mit stereotypisierten Vorstellungen zu brechen und den großen Anteil von höher gebildeten und gut situierten Tätern von (schwerer) häuslicher Gewalt zu problematisieren.

Der „Familienreport 2024“, den das Bundesfamilienministerium zum Internationalen Tag der Familie am 15. Mai 2024 veröffentlichte, behauptet schon im Titel: „Familien geben Halt“. Der Report zeige, „dass familiäre Beziehungen in Zeiten des Umbruchs Halt geben, Eltern sich eine partnerschaftliche Aufgabenteilung in Familie und Beruf wünschen und trotz Krisen zuversichtlich in die Zukunft blicken“, so die kurze Zusammenfassung. Nach dem Thema Gewalt in der Familie sucht man vergebens.

Es ist die viel beschworene „intakte“ Familie, die uns von Plakatsäulen, der Kinowerbung und an vielen anderen Orten als Leitbild präsentiert wird, die es zu kritisieren gilt und durch deren medialer Dominanz andere Lebensformen diskriminiert werden.

„Ich kann mit dir machen, was ich will. Du gehörst mir“. Das sagte der 49-jährige Wilhelm K. seinen Töchtern oft, wenn er sie vergewaltigte. Über Jahre hatte er sich an „seinen“ während der Gerichtsverhandlung 17- und 23jährigen Töchtern Tanja und Tamara vergangen. Er zwang sie mit Gewalt und Drohungen, bestrafte sie mit schwerer Hausarbeit und, um sicher zu gehen, dass nichts herauskam, schürte er Todesängste: Wenn du etwas sagst, bringe ich dich um“. „Ich war dressiert“ sagte eine der beiden jungen Frauen vor Gericht, „ich hatte wahnsinnige Angst“, die andere. Eine hatte sich ihrem Freund anvertraut, der verließ sie, weil er ihr nicht glaubte, die andere sprach mit ihrer Mutter. Die aber tat nichts. Sie wollte nichts sehen und nichts hören. Der Schein der heilen Familie sollte gewahrt bleiben. Der Vorsitzende des Gerichts vermutete: „Die beiden Opfer werden Zeit ihres Lebens daran zu knabbern haben.“ Der Angeklagte hörte sich das Urteil weinend an. Er bekam sechseinhalb Jahre Haft. Das Gericht hielt ihm seine eigene schwere Kindheit zugute. Er habe im Laufe seines Lebens nichts dazu gelernt. Dafür ist der Mann nach Meinung des Richters nicht verantwortlich.

Solche Berichte gibt es sicher viele, Männer, die „ihre“ Frauen, Partnerinnen und Kinder misshandeln. Das Unrechtsbewusstsein geht ihnen meistens ab. Die Umgebung gibt ihnen oft Recht. Nicht nur Arbeitskollegen und Stammtischkumpel bestätigen: Manchmal muss man „seine“ Frau schlagen, damit sie zur Vernunft kommt. Schließlich sind das Privatangelegenheiten.

„Die Gesellschaft ist nicht länger bereit, das hohe Ausmaß an Gewalt gegen Frauen zu akzeptieren“, schreibt die „Tageszeitung“ am 27. November 2024, einen Tag nach dem „Tag der Beseitigung der Gewalt gegen Frauen“. Zitiert wird eine Vorstandsvertreterin des Deutschen Frauenrats. Diese hofft, dass die Bundesregierung das versprochene reformierte Gewalthilfegesetz, noch vor den Neuwahlen der Bundesregierung verabschiedet. Jede weitere Verzögerung würde Frauenleben kosten.

Die erste Lesung im Bundestag fand am 5. Dezember statt. Nach einer hitzigen Debatte, während der drei Gesetzentwürfe von SPD/Grünen, CDU/CSU und FDP sowie von der Linkspartei diskutiert wurden, übergab das Parlament alle Vorlagen zur weiteren Beratung an den Ausschuss für Frauen. Die Entwürfe für ein neues Gewalthilfegesetz fordern vor allem mehr Plätze in Frauenhäusern, rechtliche Absicherung des Zugangs zu Schutz und Beratung der gewaltbetroffenen Person, Prävention und Täterarbeit in Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden.

Frauenverbände fordern seit langem die konsequente Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, der Istanbul-Konvention, die die Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, gegen alle Formen von Gewalt, insbesondere geschlechtsbezogene Gewalt, vorzugehen. Laut der Istanbul-Konvention fehlen bundesweit rund 14.000 Plätze in Frauenhäusern. An zukunftsfesten Finanzierungsplänen mangelt es. Zudem wird zu wenig auf die Probleme geflüchteter Frauen eingegangen, die Frauenhäuser oft gar nicht aufsuchen können, weil die Wohnsitzauflagen ihnen verbieten, außerhalb bestimmter Orte zu wohnen.

Freilich lösen mehr und bessere Frauenhausplätze nicht alle Probleme, solange das, was innerhalb der eigenen Familie passiert, Privatsache bleibt. So sind nicht nur die Chancen, dass das beabsichtigte Gesetz noch in dieser Periode verabschiedet wird, gering, fraglich ist auch, was es für die betroffenen Frauen bewirken kann. Mit den ersten durch die autonome Frauenbewegung eröffneten Frauenhäusern sollten Zufluchtsräume geschaffen und Möglichkeiten für neue Lebensformen aufgezeigt werden. Die Hoffnung der neuen Frauenbewegungen, es ließen sich Geschlechterverhältnisse ohne Besitzansprüche und ohne Gewalt in den „privaten“ Beziehungen herstellen, hat sich bis heute nicht erfüllt. So sind die Frauenhäuser auch nicht überflüssig geworden, was eigentlich das Ziel war.

Aktuell rüsten sich die Parteien für die Bundestags-Neuwahlen im Februar. Familienpolitik steht für alle im Fokus, für die demokratischen wie für die AfD. Für letztere aber besonders. „Eine intakte Familie bietet vor allem den Kindern einen geschützten Raum der Liebe und Geborgenheit. Sie ist ein fester Anker in den Stationen des Lebens, von der Geburt an über die Schulzeit, das Berufsleben, die Gründung einer eigenen Familie bis hin zum Ruhestand und Lebensende“, so steht es bereits in ihrem Programm für die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag. Das lässt keine Alternativen zu. Zu befürchten ist, dass antifeministische und familistische Inhalte nicht nur rechte Wahlkämpfe durchziehen, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft salonfähig werden.

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Zum Weiterlesen: Gisela Notz: Kritik des Familismus. Schmetterling, Stuttgart 2024,2.erweiterte Auflage, 234 Seiten, 15 Euro

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Die Autorin:

Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, lebt und arbeitet in Berlin.

 

 

 

 

Der Beitrag erschien in konkret 1-2025 https://konkret-magazin.de/und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt.
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