Das Flüchtlings- und Migrationsthema wirft ein ganz neues Licht auf den Wert einer leistungsfähigen öffentlichen Daseinsvorsorge.
Ohne das ehrenamtliche Engagement so vieler Personen und Organisationen wäre die Aufnahme der Flüchtlinge in einem organisatorischen und humanitären Desaster geendet. Nun wird nochmals deutlich, dass die Aufgaben im gesamten öffentlichen Dienstleistungsbereich nicht mehr erfüllt werden können. Das Gerede vom angeblich zu großen öffentlichen Sektor ist ein bisschen leiser geworden, weil jeder Mensch spürt, dass nach aktuellen Schätzungen dem Staat fast 180.000 Beschäftigte, besonders in den Kommunalverwaltungen, fehlen.
Das ehrenamtliche Engagement so vieler Personen und Organisationen bei der Aufnahme der Flüchtlinge hat einerseits gezeigt, dass viele Menschen keine Zuschauer mehr sein, Solidarität leben und praktizieren wollen und andererseits, dass es dauerhaft darum geht, diese vielen Hilfen zu professionalisieren und den öffentlichen Dienst in den verschiedenen Aufgabenfeldern leistungsfähig zu machen.
Anfang der 1990er Jahre gab es im öffentlichen Dienst bundesweit 6,7 Millionen Beschäftigte, darunter 2,1 Millionen bei den Kommunen. Der Personalabbau erfolgte schwerpunktmäßig in der Zeit bis 2005, um mehr als zwei Millionen, auf nur noch 4,6 Millionen Beschäftigte wurde das Personal des öffentlichen Dienstes bis dahin reduziert. Die Einsparungen und der Stellenabbau gingen kontinuierlich weiter, so dass im Jahr 2014 Deutschland mit einem Anteil der Personenausgaben von nur noch 7,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) innereuropäisch gemeinsam mit Rumänien das Schlusslicht bildete.
Der Preis für die Gesellschaft ist sehr hoch. Es unterblieben notwendige öffentliche Investitionen und die Infrastruktur wird seit Jahren auf Verschleiß gefahren, was man überall und immer wieder im Alltag erfahren kann. Die Personalpolitik folgte in den vergangenen Jahrzehnten dem neoliberalen Leitbild vom subsidiären Gewährleistungsstaat, in dem soweit Personal abgebaut wurde, dass in weiten Bereichen der öffentlichen Dienstleistungen die Mängelverwaltung Einzug hielt.
Die mit der Integration der Geflüchteten verbundenen Herausforderungen treffen auf eine planmäßig ausgezehrte öffentliche Verwaltung.
Der Ausbau der Kapazitäten ist deshalb in folgenden Bereichen dringend erforderlich:
Kinderbetreuung: Zigtausende Plätze in Kitas fehlen derzeit. Nach Einschätzung des Familienministeriums vom Herbst 2015 werden kurzfristig rund 68.000 zusätzliche Plätze in Kindertagesstätten benötigt. Dem liegt eine zurückhaltende Schätzung zugrunde, sowohl was die angenommene Zahl von Flüchtlingen (800.000 im Jahr 2015) als auch was die Betreuungsquote (Bedarf für 30 Prozent der Kinder und Kleinkinder) angeht. Mit einem höheren Bedarf muss gerechnet werden.
Schulen und Hochschulen: Es geht nicht nur um ein Mehr an Lehrkräften. Nach den Schätzungen, die seitens der Bundesanstalt für Arbeit und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im November 2015 publiziert wurden, sind unter den Flüchtlingen derzeit rund 180.000 Kinder im schulpflichtigen Alter und an die 200.000 Jugendliche im Alter von 18 bis 24 Jahren. Für diese Kinder und Jugendlichen, deren Zahl zunehmen wird, werden Plätze an Schulen und Ausbildungsstätten benötigt.
Volkshochschulen und Jugendbildungsarbeit: Finanzielle Austrocknung muss sofort beendet werden – die Sprachförderung von Anfang an ist unabdingbar. Integrationskurse aber gehen über die reine Sprachvermittlung hinaus. Schätzungen zufolge werden im Jahr 2016 bis zu 400.000 Kursplätze benötigt – eine Verdoppelung gegenüber 2015.
Familien- und Jugendsozialarbeit: Frühzeitige Intervention baut dem Entstehen von Parallelgesellschaften vor. Nicht wenige Familien werden in den kommenden Jahren Leistungen der Jugendhilfe und Familienfürsorge benötigen. Besonders schutzbedürftig sind unbegleitete Minderjährige. Rechtlichen Änderungen mit dem Ziel, die Betreuung auf Billiglösungen umzustellen, die dem Integrationsgedanken abträglich sind, ist eine Absage zu erteilen.
Gesundheitsdienste: Der Wiederaufbau funktionsfähiger Strukturen ist nötig. Knapp 400 Gesundheitsämter gibt es in Deutschland. Die Zahl der dort Beschäftigten wurde von über 20.000 auf jetzt noch rund 17.000 ausgedünnt. Weil die Dienste an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt sind, können selbst die gesetzlichen Aufgaben nur noch eingeschränkt erledigt werden. Für Flüchtlingskinder bedeutet dies: Sie müssen über Wochen und Monate auf Untersuchungen (Vorsorgeuntersuchung, schulärztliche Untersuchung) warten.
Integration erschöpft sich nicht im Spracherwerb und in der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Integration erfordert auch Angebote wie z. B. die Teilnahme an Sport- und Kulturaktivitäten, die teilweise über die Zivilgesellschaft bereitgestellt werden können. Aber auch öffentliche Einrichtungen von Bibliotheken über Musikschulen bis hin zu Museen und Theatern sind gefordert. Aus der Forschung ist bekannt, dass öffentlichen Bibliotheken eine wichtige Rolle bei der Integration zukommt.
Einrichtung von Koordinierungs-, Informations- und Beratungsstellen: Alle Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen, benötigen für die Steuerung – zunächst der Aufnahme und dann der Integration – Anlaufstellen.
Keine weitere Privatisierung der inneren Sicherheit: Seit dem Ende der 1990er Jahre wurden im Sicherheitsbereich über 16.000 Stellen abgebaut. Parallel dazu boomt das Geschäft mit den privaten Sicherheitsdiensten.
Die vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt, dass die neoliberale Weltordnung ihr Wohlstands- und Freiheitsversprechen immer weniger umsetzen kann. Immer weiter spreizt sich die Schere von dem reichsten Prozent der Weltbevölkerung, das über mehr Vermögen als der Rest der Welt zusammen verfügt, in der die 62 Einzelpersonen, genau so viel haben wie die 3,5 Milliarden Menschen, die die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung stellen.
Diese Menschen werden systematisch in die Flucht getrieben, auch weil die Verteilungs- und Aneignungskämpfe in Kriege münden und mittlerweile ganze Staaten verfallen lassen.
Quelle: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik Memorandum 2016
Bild: ver.di