»Die kleinen Erfolge stärken unsere Leute«

Unter Argentiniens Präsident Javier Milei sind linke Bewegungen harten Repressalien ausgesetzt, berichtet Carlos Fernández

Interview: Ute Löhning

Seit fast einem Jahr ist der Rechtslibertäre Javier Milei Präsident Argentiniens. Seit seinem Amtsantritt sank zwar die Staatsverschuldung, aber die Armut stieg von 42 Prozent auf 53 Prozent und die extreme Armut von zwölf auf 18 Prozent.

Welche Politik setzt die »Front der kämpfenden Organisationen« (FOL) dem entgegen?

Der FOL entstand vor etwa 25 Jahren aus dem Widerstand gegen die neoliberale Politik, die damals Tausende in die Arbeitslosigkeit trieb. Seitdem kämpfen wir für Arbeitsplätze und für die Gründung von Kooperativen, für den Aufbau von gemeinschaftlichen Netzwerken im Bereich von Pflege, Gesundheit und Bildung, für Gemeinschaftsküchen und -gärten in sozial schwachen Gegenden. Heute kämpfen wir gegen die Politik der aktuellen Regierung.

Wie ist der FOL organisiert?

Wir sind im ganzen Land aktiv, überwiegend in den Städten, vor allem bei Landbesetzungen, in Armen- und Arbeiter*innenvierteln. Intern organisieren wir uns nach dem Prinzip der direkten Demokratie. Bei Abstimmungen in unseren Versammlungen haben alle eine Stimme. Im ganzen Land gehören etwa 8000 Aktive zu unserem Netzwerk. Dazu kommen noch einmal fast genauso viele Menschen im Umfeld von FOL, Genoss*innen, die nicht an allen Aktivitäten teilnehmen, aber ständig mit uns verbunden sind.

Wie schaffen Sie es, Menschen zu organisieren, die in prekären Situationen leben und um ihr Überleben kämpfen?

Das Wichtigste ist zu verstehen, welche konkreten Bedürfnisse diese Menschen haben. Ausgehend davon entwickeln wir Initiativen und unterstützen sie dabei, sich zu organisieren und in der Nachbarschaft zu vernetzen. Wenn Menschen Land besetzen, weil sie ihre Miete nicht mehr zahlen können, unterstützen wir sie. Wir fordern Geld vom Staat, und wenn dieser öffentliche Mittel bereitstellt, unterstützen wir Nachbarschaften bei der Gründung von Genossenschaften, in denen sie selbst Häuser bauen. So erhalten sie nicht nur eine Wohnung, sondern auch eine bezahlte Arbeit.

Sie organisieren auch gemeinschaftliche Bildung und Betreuung für Kinder. Wie sieht das aus?

Wenn beide Eltern arbeiten gehen müssen, gibt es oft nicht genügend Betreuungsplätze für die Kinder, die dann manchmal bei den Geschwistern oder an Orten bleiben, an denen sie nicht die nötige Aufmerksamkeit bekommen. Deshalb organisieren wir Gruppen, insbesondere Mütter aus der Nachbarschaft, die als Betreuerinnen arbeiten wollen, und bilden sie aus. Vom Staat fordern wir Unterstützung für deren Ausbildung, für Lehrmaterial und für Verpflegung der Kinder. Wir fordern auch die Anerkennung der Erzieherinnen in den Gemeinschaftskindergärten und der Köchinnen in den Gemeinschaftsküchen als Arbeiterinnen, damit sie nicht nur von unserer Selbstverwaltung in Stadtteilen leben müssen, sondern ihr Einkommen teilweise auch vom Staat erhalten. Gleichzeitig unterstützen wir die Beteiligung der Bevölkerung, denn ohne Selbstorganisierung funktioniert gar nichts. Es geht um einen Prozess von unten nach oben, der die Bereitschaft der Menschen dazu voraussetzt. Wir bringen nichts von außen in die Stadtteile, sondern unterstützen Genoss*innen dabei, sich selbst zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen.

Zu Ihren Initiativen kommen auch Personen, die mit Milei sympathisieren. Wie gehen Sie damit um?

Manche Menschen teilen unsere politische Haltung nicht, fühlen sich aber mit uns verbunden, weil wir bei Alltagsproblemen helfen. Egal wie sehr sie hinter Milei stehen, wollen wir, dass sie in unserer Bewegung bleiben, damit wir mit ihnen diskutieren können. Wir sind keine politische Partei, wir zwingen niemandem unsere Ideen auf. Sondern wir sind eine soziale Organisation mit politischen Zielen. Wir führen den politischen und kulturellen Kampf um Ideen und entfachen Diskussionen – in der Nachbarschaft, mit der Bevölkerung allgemein und auch in unseren eigenen Gruppen vor Ort. Wir führen Debatten über Milei, aber zum Beispiel auch über Abtreibung.

Also sprechen Sie auch über Geschlechtergerechtigkeit insgesamt?

Ja, denn wir bemerken starke Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Mädchen und LGBTIQ-Personen denken sehr kritisch und emanzipatorisch. Sie stehen in der ersten Reihe des Widerstands gegen die Ultrarechten. Der Feminismus hat unter den Mädchen in den prekären Stadtteilen zu einem höheren Grad an Bewusstsein und politischer Beteiligung geführt. Jungen fühlen sich häufig den Ultrarechten viel näher. Wir schließen sie deshalb nicht aus, aber wir sagen ihnen, dass der Ausweg aus gesellschaftlichen Problemen ein kollektiver sein muss und nicht der individualistische Weg, den die Ultrarechten ihnen präsentieren.

Wie erklären Sie sich den Wahlerfolg von Milei in einem Land mit einer so starken feministischen und Menschenrechtsbewegung?

Die Ultrarechten sind nicht nur wegen ihrer Ideologie stark geworden, sondern auch wegen der Frustration der arbeitenden Bevölkerung. Seit Jahrzehnten leben wir in einer permanenten Wirtschaftskrise, mit hoher Inflation und Arbeitsplatzunsicherheit. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung im Großraum Buenos Aires haben keinen Zugang zu fließendem Wasser, Abwasser und Gas. Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert und die Arbeitsbedingungen für junge Menschen haben sich verschlechtert. Diese arbeiten oft für Start-ups mit viel Selbstausbeutung. Im Zuge der Individualisierung schwindet die Solidarität. Viele Menschen sind desillusioniert von den zwei Parteienkoalitionen, die nach der großen Krise von 2001 die Regierungen stellten, also von Ex-Präsident Mauricio Macri und seiner rechtskonservativen Koalition Propuesta Republicana wie auch von den Peronisten oder »Kirchneristen«, also den Anhängern der früheren Präsident*innen Néstor und Cristina Kirchner. Milei bezeichnet jetzt alle anderen Parteien als Problem und präsentiert sich als scheinbare Lösung. Teile unserer Gesellschaft, denen es heute schlechter geht als früher, setzen Hoffnung in ihn. Die extreme Rechte nutzte Resignation, Wut und Depression vieler Menschen aus.

In der Strategie der Rechten spielen die Medien eine bedeutende Rolle. Was steckt zum Beispiel hinter dem Begriff »digitale Milizen«?

Er wurde in Brasilien geprägt und bezeichnet Leute, die insbesondere in sozialen Medien Kulturkampf gegen Feminismus, vermeintliche Gender-Ideologie und den Kollektivismus betreiben. Sie greifen nicht nur Linke an, sondern alle progressiven Kräfte, die demokratische, menschliche, gemeinschaftliche Werte vertreten. Mit Fake News diffamieren sie außer Politiker*innen auch Kulturschaffende, soziale Aktivist*innen, Gewerkschafter*innen und sogar Sportler*innen, die Influencer*innen sind. Die Trolle veröffentlichen sogar persönliche Daten und greifen die Familien ihrer »Zielpersonen« an. Einige wurden am Arbeitsplatz oder auf der Straße angegriffen. Das trifft auch viele von uns! Häufig werden Kampagnen und Diffamierungen auch von den klassischen Massenmedien reproduziert. Die aktuelle argentinische Regierung nutzt nachrichtendienstliche Instrumente des Staates und arbeitet mit den »digitalen Milizen« zusammen. Viele extrem rechte Influencer sind inzwischen Staatsbeamte. Der Angriff auf die sozialen Bewegungen hat drei Dimensionen: Zum einen wird unsere Arbeit durch aggressive Social-Media-Kampagnen diskreditiert. Zum anderen stellt die Regierung die staatliche Sozialpolitik und die Unterstützung gemeinschaftlicher Projekte ein, zum Beispiel werden Zahlungen eingestellt und die Auslieferung von Lebensmitteln an Gemeinschaftsküchen blockiert. Außerdem wird die Justiz für den politischen Kampf gegen Progressive instrumentalisiert.

Wie sieht das konkret aus?

Es werden Informationen über vermeintliche Anführer*innen und Personen gesammelt, die die Zusammenarbeit mit anderen Initiativen koordinieren. Inzwischen gab es mehr als 100 Razzien bei sozialen Organisationen, und leitende Genoss*innen werden mit Gerichtsverfahren überzogen. Gegen unsere Organisation kam es zum Beispiel zu Razzien an 17 Orten gleichzeitig. Auch gegen mich und meine Partnerin wurde ein Verfahren eingeleitet. Unser Haus wurde durchsucht, unsere Bankkonten wurden gesperrt, unsere Telefone abgehört. Wir durften das Land nicht mehr verlassen. Ich bin der Erste, der wieder ins Ausland reisen durfte. Über uns wurden Gerüchte verbreitet, wir seien korrupt und wir hätten uns bereichert. Wir durften die Räume unserer Organisation nicht mehr betreten. Wir sollen von unserer Basis, von den organisierten Genoss*innen getrennt werden. Zu unserer Freude hat das den gegenteiligen Effekt: Viele unserer Leute engagieren sich heute noch entschiedener als vor den Repressalien.

Welche Vorwürfe werden gegen Sie erhoben?

Zum Beispiel wird uns Erpressung oder die Beteiligung an einer »kriminellen Organisation« vorgeworfen. Die gleichen juristischen Mittel werden auch gegen die Drogenkriminalität oder den Terrorismus eingesetzt. Die Schwächung der Gemeinschaftsstrukturen in den Vierteln begünstigt jedoch erst recht die Entwicklung von Drogenbanden. Denn wenn es keine sozialen Organisationen gibt, können die ineffizienten staatlichen Strukturen mit ihren Maßnahmen die Viertel nicht erreichen. Wenn sich sowohl der Staat als auch soziale Organisationen aus diesen Gebieten zurückziehen, versorgen die Drogenbanden die Gemeinschaftsküchen mit Essen. In manchen Gegenden geschieht das bereits.

Was ist Ihre Perspektive in dieser herausfordernden Situation?

Als linke Organisationen, die für eine andere Gesellschaft kämpfen, sollten wir uns Ziele setzen, die wir erreichen können. Um Demoralisierung und Frust in der Bevölkerung entgegenzutreten, müssen wir kleine Siege erringen und darauf aufbauen. In der Linken führen wir große Debatten. Das Bewusstsein der Bevölkerung wächst aber vor allem durch Erfahrung und tägliche Praxis. Es geht um kleine Kämpfe, wie zum Beispiel einen Arzt dazu zu bringen, sich um ein Problem in einem armen Viertel zu kümmern, oder darum, Lehrmaterial für einen Gemeinschaftskindergarten zu besorgen. Damit werden wir den Kapitalismus nicht verändern, aber es sind kleine Erfolge, die unsere Leute moralisch stärken. Sie liefern uns ein hervorragendes Argument, um andere Fragen weiter zu diskutieren. Kleine Siege ziehen andere Siege nach sich. Wir müssen diesen Weg weitergehen und gleichzeitig die großen Debatten führen und gewinnen.

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 Carlos Fernández ist Aktivist der sozialen Bewegung »Front der kämpfenden Organisationen« (FOL) in Argentinien und Delegierter der Provinz Buenos Aires.

 

 

 

 

 

Der Beitrag erschien auf https://www.nd-aktuell.de/ und wird mit freundlicher Genehmigung hier gespiegelt.
Foto: dpa/AP/Rodrigo Abd
Solidarität wird in Argentinien in den alltäglichen Kämpfen gelebt: Mitglieder der Lkw-Fahrergewerkschaft verteilen während eines landesweiten Streiks im Verkehrswesen Essen in einer Suppenküche.