Die Straßen der Hölle – Hinter dem Mythos um „Hitlers Autobahnbau“ verbirgt sich eine Geschichte von Betrug, Medienmanipulation und miserablen Arbeitsbedingungen

Von Aaron Richter

Das kollektive Gedächtnis der deutschen Bevölkerung war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs denkbar angeschlagen. Man blickte nicht nur auf zwölf Jahre ungeheuerlicher gesellschaftlicher Ausgrenzung zurück, nicht nur auf den verheerendsten Vernichtungskrieg, den die Welt je gesehen hatte, sondern vor allem auf eine bis dato völlig beispiellose Gräueltat — die industrielle Massenvernichtung von sechs Millionen Juden, Sinti und Roma sowie Gegnern des Nationalsozialismus. Für viele Deutsche begann im Angesicht dieser kollektiven Schuld bald der Versuch, zwischen all den Verbrechen der nationalsozialistischen Politik eine Tat von Wert herauszulesen, an welcher die eigene Mitschuld gesunden möge. Es war eine Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, einem unbefleckten Allgemeinplatz, auf den man sich verständigen konnte, um sich zuzuraunen: „Es war ja nicht alles schlecht.“ Der Autobahnbau eignete sich hierfür perfekt, war er doch in der NS-Propaganda stets als reine Erfolgsgeschichte verkauft worden. Doch hinter den zahlreichen Mythen, die dieses Großprojekt umranken, verbirgt sich eine düstere Geschichte.

„Aber die Autobahnen … !“ Das waren die Worte, die noch Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges signalisierten, dass der Sprecher nun gerne etwas Positives über den Nationalsozialismus in den Raum werfen möchte. Kaum eine andere Maßnahme aus dem Mythenfundus der NS-Arbeitsbeschaffung nahm im kollektiven Gedächtnis je eine ähnliche „Sonderstellung“ (1) ein wie der Bau der Reichsautobahnen, dessen Bedeutung für die Überwindung der Arbeitslosigkeit lange „unbestreitbar“ (2) galt — und der sich in seiner angeblichen Fulminanz hervorragend gegen die Gräueltaten des NS-Regimes abgrenzen ließ. Der Autobahnbau, so der unausgesprochene Konsens, war schließlich eine unbefleckte Erfolgsgeschichte.

Insbesondere während der Nachkriegszeit entwickelte sich eine weitverbreitete, positiv konnotierte „Nostalgie“ (3) für die ursprünglichen, oft mit Panoramablick bedachten Autobahnen, die sich im Kontrast zum zunehmend verdichteten Verkehr des späten 20. Jahrhunderts intensivierte und bis zur Forderung eines Denkmalschutzes reichte (4).

Der Autobahnbau wurde so zum politischen Refugium der Kriegsgeneration, zu einer rhetorischen Schießscharte, deren Wände man durch Fakten gedeckt glaubte: Immerhin sank die Zahl der Arbeitslosen von 1933 bis 1934 um 2,4 Millionen (5) — das müsse doch ganz klar zusammenhängen mit der „technische(n) und wirtschaftliche(n) Glanzleistung des Autobahnbaus, mit dem die Arbeitslosen von der Straße geholt worden seien“ (6).

Zahlreiche weitere Legenden umranken den Reichsautobahnbau: Eine Idee des „Führers“ höchstpersönlich sei er gewesen; durch ihn sei die Arbeitslosigkeit überwunden worden; und überhaupt habe der Autobahnbau stets die Freude an der Arbeit symbolisiert, die den Nationalsozialisten angeblich doch so wichtig war. Diese Behauptungen sind in der Forschung immer wieder sorgfältig widerlegt worden. An der bemerkenswert schnellen Verringerung der Arbeitslosenzahl um 2,4 Millionen Erwerbslose hatte der Autobahnbau tatsächlich nur einen Anteil von 2,3 Prozent (7).

Dass sich der Mythos einer wirksamen Beschäftigungsmaßnahme so hartnäckig hält, wenngleich der Autobahnbau nicht maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen hatte, liegt vor allem an der groß angelegten Propagandakampagne, die ihn von Anfang an begleitete.

Sie ist aus medienanalytischer Perspektive auch heute noch höchstinteressant. Ihre Stunde Null schlug am 23. September 1933, als der „Erste Spatenstich“ zum Bau der Reichsautobahnstrecke Frankfurt-Darmstadt durch Adolf Hitler zelebriert wurde. Die Planungsgeschichte eines Autobahnnetzes begann allerdings schon einige Jahre früher — in der Weimarer Republik.

Eine kurze Geschichte der Autobahnplanung

Am 1. Mai 1933 verkündete Adolf Hitler erstmalig das Vorhaben, ein eigenes, groß angelegtes Straßennetz bauen zu wollen, welches dem modernen Automobilverkehr gerecht werden und Deutschland zukunftsfähig machen solle. Der im August desselben Jahres vorgestellte Plan für ein Autobahn-Grundnetz belief sich auf ambitionierte 7.000 Kilometer Gesamtstrecke.

Allerdings war die Planung dieses Grundnetzes kein Verdienst der Regierung Hitler. Der Verein zur Vorbereitung der Autostraße Hansestädte-Frankfurt-Basel, kurz HaFraBa genannt, hatte derartige Konzepte seit seiner Gründung im Jahre 1926 „bis zur Baureife“ ausgearbeitet (9). Dass es während der Weimarer Republik nicht zur Umsetzung dieser Pläne kam, lag in gewissem Sinne an den langsam mahlenden Mühlen der Demokratie: Im Parlament wurde immer wieder heftig über die Finanzierungsfrage des Autobahnbaus gestritten und außerdem darüber, wie man diejenigen Menschen entschädigen sollte, deren Grundstücke für den Autobahnbau hätten beschlagnahmt werden müssen.

Die Nationalsozialisten zeigten sich dagegen wenig zimperlich. Im August 1933 gründeten sie die „Gesellschaft Reichsautobahnen“, welche als eine Art Zentralgewalt zügig — und völlig undemokratisch — jene juristischen Hürden ausräumte, die der Verwirklichung des Autobahnbaus während der Weimarer Republik im Wege gestanden hatten (10).

Zur Finanzierung des Autobahnbaus schöpften die Nationalsozialisten Gelder aus den Töpfen der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ab, was unter Zeitgenossen den Eindruck erwecken musste, es handle sich beim Autobahnbau um eine vielversprechende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Für die geplanten 7.000 Kilometer waren 1933 insgesamt 1,4 Milliarden Reichsmark veranschlagt worden, ein ungenügender Satz, der später erhöht wurde (11).

Der „Erste Spatenstich“ — Geburtsstunde der Autobahn-Propaganda

Der „Erste Spatenstich“ am 23. September 1933 war kein plötzliches Ereignis. Die Öffentlichkeit war bereits seit Mitte des Jahres durch zahlreiche „Interviews und Artikel, Pressekonferenzen und Rundfunksendungen“ (12) auf den Autobahnbau eingeschworen worden. Als „Kulturtat ersten Ranges“ (13) bezeichnete der „Völkische Beobachter“ das Projekt im Juli des Jahres — ein bezeichnender Begriff für die Bedeutung, die auch Hitler dem Autobahnbau zuschreiben sollte.

Dem „Ersten Spatenstich“ selbst war eine pompöse Veranstaltung vorangegangen: Ausgestattet mit uniformem Arbeitsdrillich marschierten 720 zukünftige Autobahnarbeiter am Vormittag des Tages vom Arbeitsamt zur Frankfurter Börse, die mit überlebensgroßen Hakenkreuzbannern und einem riesenhaften Transparent behängt worden war, auf welchem die Parole prangte: „Arbeit und Friede!“ Vor der Frankfurter Börse wurden den Arbeitern sodann feierlich ihre Spaten übergeben — eine Prozedur, die keinen Zweifel daran ließ, „wem (sie) ihre Neueinstellung zu verdanken hatten“ (14).

Schon früh inszenierte man die Autobahn somit als betongewordenen Garanten des nationalsozialistischen Friedenswillens. Das bot den praktischen Nebeneffekt, über lange Jahre die steigenden Beschäftigungszahlen in der Rüstungsindustrie zu übertünchen: So stieg der Anteil der Ausgaben für die Wehrmacht von 4 Prozent im Jahre 1933 auf ganze 58 Prozent im Jahre 1938 (16), was öffentlich natürlich nicht kommuniziert wurde.

Noch im Mai 1939 behauptete Hitler unter anderem in Anspielung auf die Autobahnen: „Und wie viele dieser Werke brauchen zehn und zwanzig Jahre, bis sie fertig werden! Ich habe also Grund genug, den Frieden zu wollen“ (17).

Wie sich herausstellte, war die traurige Wahrheit eine andere.

Hitlers Rede beim „Ersten Spatenstich“

Der Höhepunkt der über Monate andauernden Öffentlichkeitskampagne zum Autobahnbau war die Liveübertragungen des „Ersten Spatenstichs“ in Form einer Rundfunkreportage. Kein anderes Medium konnte zu jener Zeit mit dem modernen Ruf und der unmittelbaren Aktualität der Radioübertragung mithalten.

Tatsächlich ist die Rede Hitlers vom 23. September 1933 als Aufnahme erhalten geblieben (18).

Besser als jeder Zeitungsbericht war eine solche „Reichssendung“ geeignet, um die Stimmung während der Veranstaltung sofort und scheinbar authentisch zu vermitteln: Stets sind etwa die Marschmusik und der Jubel der anwesenden Schaulustigen im Hintergrund der Übertragung zu hören.

Das Konzept der Rundfunkreportage etablierte sich in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre und ging dabei bewusst den Schritt „von der bloßen Erläuterung zur unmittelbaren Darstellung eines Geschehensablaufs“ (19).

Der Reporter berichtete fortan nicht mehr nur, sondern rahmte das besprochene Ereignis. Mit anderen Worten: politisches Framing im Mantel des Journalismus.

Eine Rundfunkreportage war somit das ideale Mittel, um ein hochgradig propagandistisches Ereignis effektvoll zu inszenieren, und technisch außerdem ebenso auf der Höhe der Zeit wie die Ankündigung eines reichsweiten Autobahnnetzes.

Ein Ansager leitet die „feierliche Baueröffnung“ unter der „genialen Schirmherrschaft unseres Führers“ ein. Als Hitler das Podium besteigt, werden „Sieg Heil“-Rufe unter den Anwesenden laut. Er spricht rund zwölf Minuten, bevor er den „Ersten Spatenstich“ tätigt.

Aus Hitlers Rede lassen sich grundsätzlich zwei Bedeutungsebenen herausarbeiten. Zum einen preist er den Autobahnbau aus ökonomischen Gründen und als Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit an. Doch eigentlich soll mit den Autobahnen ein weit bedeutenderes Ziel erreicht werden: Zum „Markstein (…) für den Bau der deutschen Volksgemeinschaft“ (20) wird Hitler den Autobahnbau erklären, der mit einem Schlag nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die identitätspolitischen Probleme der Deutschen lösen sollte.

Schon jetzt, so Hitler, sei der Autobahnbau Ausdruck des nationalsozialistischen Einsatzes gegen „das schwerste Leid und das tiefste Unglück“ der Deutschen — den „Fluch der Arbeitslosigkeit“, welchen Hitler ganz explizit der Weimarer Politik zuschreibt. Zu dessen Bekämpfung sehe er keinen anderen Weg“, als mit „großen, monumentalen Arbeiten“ die Wirtschaft „zunächst irgendwo“ anzukurbeln. Beide Formulierungen lassen durchscheinen, dass hinter der aufwändigen Selbstinszenierung der Regierung Hitler als „tatkräftiges Regime“ letztlich keine ebenso aufwändig durchdachten Planungen zur Arbeitsbeschaffung steckten.

Identitätspolitisch wirkten derlei Ankündigungen hingegen als Versicherung, dass die Deutschen selbst nach der „Schmach des verlorenen Krieges“ noch „monumentale (…) Zeichen als Garanten von Größe, Stabilität und Dauer“ errichten könnten.

Der Autobahnbau war somit zugleich Prestigeprojekt wie kollektive Traumabewältigung.

Im Zuge der Bauarbeiten sollten nicht nur „Hunderttausende“ direkt in Arbeit und bessere Verhältnisse kommen; vielmehr gibt Hitler den Autobahnbau als „Prozess des inneren Zusammenschmiedens unseres Volkes“ aus. Er verklärt die Arbeit an den Autobahnen als Mittel zur Überwindung des „Standesdünkels“, als Arbeit, die „ihren Träger adelt“, der „durch Fleiß, durch (…) Schweiß“ „zum Nutzen des ganzen Volkes“ beitrage. In diesem Sinne also soll die Stunde des Baubeginns der Reichsautobahnen zu einem „Markstein (…) für den Bau der deutschen Volksgemeinschaft“, zur „Begründung (…) eines neuen Reiches“ werden.

Der Mythos um die „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Autobahnbau“

Die großangelegte Veranstaltung um den „Ersten Spatenstich“ verfehlte ihre Wirkung nicht: Für zukünftige Spatenstiche ebenso wie für die nachfolgenden Einweihungsfeiern stand Hitlers Narrativ einer durch Arbeit geeinten „Volksgemeinschaft“ stets Pate. Jeder neue Baubeginn, jede Fertigstellung des nächsten tausendsten Kilometers bot Anlass, die Autobahnen reichsweit als erfolgreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu präsentieren. In der NS-Propaganda der Folgejahre wurde der „Erste Spatenstich“ bald erzählt wie eine alte Legende. Das Foto, welches Hitler beim Schaufeln zeigt und das selbstredend die „Tatkraft“ und „Volksnähe“ des Regimes verbildlichen sollte, wurde bald in ganz Deutschland verbreitet und immer wieder in Fotomontagen für propagandistische Zwecke genutzt:  An der Autobahnverbindung Frankfurt-Darmstadt wurde circa anderthalb Jahre gearbeitet, bis sie mit einer Länge von 22 Kilometern am 19. Mai 1935 — ein halbes Jahr nach dem ursprünglich angekündigten Datum — für den Verkehr freigegeben wurde. Die Einweihung erfolgte durch eine im großen Stil inszenierte „Meldung“ der Fertigstellung an Adolf Hitler, die zu einem Prototypen der Einweihungsfeiern folgender Jahre werden sollte. Wenngleich die überwältigende Mehrheit der „Zaungäste“ (23) dieser Veranstaltungen nicht so bald in den Genuss kommen würde, die Autobahnen auch selbst zu befahren, lenkte die NS-Propaganda den Fokus erfolgreich auf die Arbeitsstellen, die der Autobahnbau angeblich bereits schaffe, und vertröstete die Bevölkerung ansonsten auf die Zukunft.

Der Autobahnbau: schlecht bezahlte Schwerstarbeit

Tatsächlich jedoch ist die nationalsozialistische Darstellung des Autobahnbaus als arbeitsstiftendes Erfolgsprojekt maßlos übertrieben. Der Wiederaufschwung in der deutschen Wirtschaft hatte bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten begonnen, wie der Wirtschaftshistoriker Christoph Buchheim umfangreich herausgearbeitet hat (24), und setzte nicht erst mit dem Autobahnbau ein.

Darüber hinaus war dieser kein wesentlicher Beschäftigungsfaktor: Für den ersten Teilabschnitt der Strecke Frankfurt-Darmstadt blieb es offenbar bei der ursprünglichen Zahl von 720 Arbeitern. Bis Ende 1933 waren im gesamten Reichsgebiet nicht mehr als 3.900 Arbeiter im Autobahnbau beschäftigt, bevor diese Zahl auf 84.000 Beschäftigte im Jahr 1934 anstieg (25). Die Höchstzahl an Erwerbstätigen im Autobahnbau stammt aus dem Jahr 1936 und belief sich auf 124.483 Arbeitskräfte (26), bevor die Zahl in den Folgejahren wieder sank. Hitlers Versprechen, dass „Hunderttausende“ beständige Beschäftigung im Autobahnbau finden sollten, wurde nicht erfüllt.

Wenngleich über mehrere Jahre hinweg tatsächlich 1.000 Kilometer Strecke pro Jahr fertiggestellt werden konnten, blieb auch die Gesamtstreckenlänge hinter der Ankündigung der Nationalsozialisten zurück. Von den ursprünglich geplanten 7.000 Kilometern Autobahn waren bei der kriegsbedingten Einstellung des Baubetriebs gegen Ende des Jahres 1941 nur knapp die Hälfte, genauer 3.819,7 Kilometer, umgesetzt worden.

Statistisch betrachtet hat der Autobahnbau als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme somit „zu keinem Zeitpunkt eine erhebliche Rolle gespielt“ (27).

Aber auch auf einer anderen Ebene greift der Mythos von der „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Autobahnbau“ zu kurz. In Arbeit zu stehen, hieß nämlich nicht, in Wohlstand zu leben. In seiner Rede zum „Ersten Spatenstich“ hatte Hitler den Autobahnarbeitern noch explizit die Steigerung ihrer Konsumkraft versprochen. Doch dieses Versprechen wurde nicht eingelöst: Die Löhne der Autobahnarbeiter betrugen durchschnittlich nur dürftige 50 Reichspfennig pro Stunde. Familienväter mit mehreren Kindern bezogen unter Umständen sogar einen höheren Unterstützungssatz, als durch die Arbeit an der Autobahn zu verdienen war.

Das Lohnniveau lag somit nur knapp über den Sätzen der Arbeitslosenunterstützung — die Arbeit selbst hingegen war äußerst hart, die Arbeitsbedingungen katastrophal: „Leben in Lagern, diktatorisches Verhalten der Polizei, der Lagerführer und Autobahnbeamten, rasantes Arbeitstempo, große Unfallgefahr“ (28).

Um möglichst viele Erwerbslose einstellen zu können, wurde in den ersten Jahren des Autobahnbaus bewusst auf den Einsatz von Maschinen verzichtet, was die Arbeit umso härter machte.

Zwangsrekrutierungen und Dienstverpflichtungen, auch von KZ-Häftlingen, wurden später zum Tagesgeschäft. Unfälle kamen aufgrund des hohen Arbeitstempos fast alltäglich vor, hieß es 1935 in einem Bericht des Vorstands der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Exil (SoPaDe). Die Stimmung unter den Arbeitern sei „unbeschreiblich schlecht“, und als Ausdruck dieser Unzufriedenheit habe sich die geradezu zynische Bemerkung etabliert: „Bei dem Lohn und dem Fraß sind wir schneller fertig als die Autobahn“.

Begehrt waren die Arbeitsplätze, die laut NS-Propaganda die „neue Volksgemeinschaft“ untermauerten, demnach nicht, und sie halfen in der Regel auch nicht dabei, den beschäftigen Arbeitern einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen; im Gegenteil: Sie schädigten die Gesundheit vieler Arbeiter nachhaltig.

Bilanzierung

Auch wenn viele der hehren Versprechen, die Hitler an die Reichsautobahn knüpfte, nicht gehalten wurden, ist die Bedeutung des „Ersten Spatenstichs“ für die Legendenbildung rund um den Autobahnbau in Deutschland essentiell. Seine Geschichte ist weniger die Erfolgschronik des Projektes selbst, sondern vielmehr ein Zeugnis des propagandistischen Geschicks, mit welchem das NS-Regime die deutsche Öffentlichkeit noch Jahre nach seinem Untergang zu täuschen vermochte.

Allein die Tatsache, wie akribisch die Aufarbeitung der NS-Darstellung des Autobahnbaus bis heute vonstattengeht, mag verdeutlichen, dass die zeitgenössische Propaganda erfolgreich verfing. Selbst in Abgrenzung zu den Gräueln des Regimes wird der Autobahnbau heutzutage gelegentlich, stets aber zu Unrecht mit einer nostalgischen Sentimentalität bedacht, die als Basis neurechter Argumentationsstrukturen dienen kann. Auch und gerade aus diesem Grund ist es wichtig, Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus stetig erneut zu analysieren, zu erklären und zu demaskieren — auf dass er sich niemals wiederholen möge.

 

Quellen und Anmerkungen:

(1) Tooze, Adam: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, Seite 69.
(2) Buchheim, Christoph: Das NS-Regime und die Überwindung der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 56, 2008, Seite 381 bis 414, Seite 381.
(3) Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933-1941, 2. Auflage Berlin 2000, Seite 7.
(4) Ebenda.
(5) Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933-1941, 2. Auflage Berlin 2000, Seite 38.
(6) Brockhaus, Gudrun: Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1997, Seite 68.
(7) Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933-1941, 2. Auflage Berlin 2000, Seite 38.
(8) Humann, Detlev: „Arbeitsschlacht“. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933-1939, Göttingen 2011, Seite 95
(9) Ebenda, Seite 96.
(10) Brockhaus, Gudrun: Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1997, Seite 74.
(11) Humann, Detlev: „Arbeitsschlacht“. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933-1939, Göttingen 2011, Seite 98.
(12) Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933-1941, 2. Auflage Berlin 2000, Seite 39.
(13) Ebenda.
(14) Ebenda, Seite 42.
(15) Ebenda, Seite 41.
(16) Ebenda, Seite 39.
(17) Zelnhefer, Siegfried: Die Reichsparteitage der NSDAP. Geschichte, Struktur und Bedeutung der größten Propagandafeste im nationalsozialistischen Feierjahr, Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, Band 46, Nürnberg 1991, Seite 94
(18) SWR2 Archivradio: Hitlers erste Reichsautobahn. Spatenstich bei Frankfurt, 2018; https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/aexavarticle-swr-53698.html, Zugriff 10. Februar 2022.
(19) Lerg, Winfried B.: Laven, Paul, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), Seite 751 folgende. Online-Version: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118888072.html#ndbcontent, Zugriff 10. Februar 2022.
(20) SWR2 Archivradio, Minute 20:45.
(21) Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933-1941, 2. Auflage Berlin 2000, Seite 12.
(22) Ebenda, Seite 44.
(23) Ebenda, Seite 52.
(24) Buchheim, Christoph: Das NS-Regime und die Überwindung der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), Seite 381 bis 414, Seite 383 und folgende.
(25) Humann, Detlev: „Arbeitsschlacht“. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933-1939, Göttingen 2011, Seite 96.
(26) Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933-1941, 2. Auflage Berlin 2000, Seite 11.
(27) Ebenda.
(28) Brockhaus, Gudrun: Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot, München 1997, Seite 74.

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Der Autor:

Aaron Richter, Jahrgang 1998, ist Student und Freigeist. Weil sich an heutigen Universitäten beides nicht immer verträgt, setzt er sich mit jugendlich-frechem Scharfsinn für politische Verständigung ein. Er ist ein neugieriger Zeitgenosse, der sich ungern einschränken lässt, und außerdem der Untätigkeit unseres Polit-Apparates sowie medialer Halbwahrheiten überdrüssig.

 

 

 

 

 

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