Die deutsche Zensurbürokratie ist wieder da. Ich hatte das fast vergessen bei all der Aufregung weltweit. Pawel Durov, Telegram-Gründer, fliegt in französische Haft. Mark Zuckerberg, Facebook-Gründer, spricht über die Corona-Zensur und den Druck aus dem Weißen Haus. Und Elon Musk, X-Chef, bekommt Post aus Brüssel. Wehe dem, der dies sagt oder das. Mit dem Digital Services Act kriegen wir euch alle.
In Deutschland reicht dafür seit 2020 der Medienstaatsvertrag, der aus den Landesmedienanstalten Zensurbehörden für die digitale Unterwelt gemacht hat. Man muss dazu ein wenig einsteigen in das Dickicht der deutschen Medienpolitik und dabei mit dem Grundgesetz beginnen. „Eine Zensur findet nicht statt“: Dieser schöne, schlichte Satz aus Artikel 5 stimmt nur noch, wenn sein Kernbegriff „ganz eng“ ausgelegt wird – als eine „Vorprüfung“, die direkt vom Staat ausgeht und im Extremfall zu einem „Verbot von Äußerungen“ führen kann (1). Einfacher formuliert: Es gibt immer noch kein Wahrheitsministerium. Es gibt auch kein Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda wie im Dritten Reich und kaum Staats- oder Parteimedien wie in der DDR, wo schon die Besitzverhältnisse keinen Zweifel daran gelassen haben, wer dort der Zensor war. Es gibt allerdings eine Allianz von Staaten und Digitalkonzernen, die den gleichen Effekt hat. Siehe oben.
Ich verzichte an dieser Stelle darauf, in die Details zu gehen und noch einmal all die kleinen Bausteine auseinanderzunehmen, die seit Ende der Nullerjahre aufgeschichtet wurden, um die Version der Wirklichkeit zu schützen, die die Regierungen über ihre Propaganda-Apparate verbreiten.
Man kann das in meinem Büchlein über „Cancel Culture“ nachlesen oder noch kompakter in einem Aufsatz mit dem sprechenden Titel „Propaganda und Zensur im Digitalkonzernstaat“. Die Landesmedienanstalten spielen in beiden Texten nur eine Nebenrolle, obwohl sie die größte Bedrohung für alle sind, die sich ohnehin jenseits der Plattformen bewegen oder inzwischen darauf verzichten, auf die Algorithmen und das Publikum von YouTube und Co. zu setzen, weil sie wissen, dass ab einer bestimmten Reichweite ohnehin der Hammer fällt. Apolut zum Beispiel. 4000 Euro Strafe für ein „Gedankenverbrechen“, so Markus Fiedler pointiert in einem Kommentar vom August 2023.
Nun also Multipolar. Diesmal ist es nicht die Medienanstalt Berlin Brandenburg, sondern die Landesanstalt für Medien NRW, weil das Impressum dorthin verweist. Der Behördenname ist aber ohnehin austauschbar, weil Prinzip und Vorgehen sich gleichen wie ein Ei dem anderen. Wieder geht es um Paragraf 19 des Medienstaatsvertrags, eingeführt im November 2020. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt und sich zugleich erinnern will an eine Lockdown-Opposition, die aus dem Netz auf die Straßen schwappte.
Vorher hieß dieses Gesetz Rundfunkstaatsvertrag und hat sich einen Teufel geschert um Seiten wie KenFM oder Multipolar. Es gab dort zwar schon einen Abschnitt über „Telemedien“, der stand aber ganz am Ende und hat sich auf Themen wie Sponsoring, Gegendarstellung oder Datenschutz beschränkt. Von Kontrolle und Zensur keine Spur. Seit November 2020 sind die „Telemedien“ ganz weit oben und unterliegen einem eigenen, ganz neuen Recht, manifestiert in eben jenem 19. Paragrafen. Unter der Überschrift „Sorgfaltspflichten“ wird dort verlangt, dass jede politische Seite im Netz „den anerkannten journalistischen Grundsätzen zu entsprechen“ habe. Was der Gesetzgeber darunter versteht, haben seine Juristen in einen Satz von poetischer Klarheit gegossen: „Nachrichten sind vom Anbieter vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit zu prüfen.“
Das muss man erst einmal sacken lassen. Der Medienstaatsvertrag nimmt an, dass es in politischen Fragen eine „Wahrheit“ gibt, die sich auch noch „prüfen“ lässt. Den schwarzen Peter schiebt er den Landesmedienanstalten zu, politischen Behörden, die an ihrer Spitze oft Parteisoldaten haben – Marc Jan Eumann von der SPD zum Beispiel, der Staatssekretär in NRW war, bevor er 2018 Direktor der Medienanstalt Rheinland-Pfalz wurde. Finanziert werden die Eumänner von uns, über den Rundfunkbeitrag. Im Moment 35 Cent pro Monat, obwohl die Landesmedienanstalten mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk überhaupt nichts zu tun haben. Allein in NRW liegt der Etat dieser Aufsichtsstelle, das hat Multipolar fein aufgedröselt, bei über 20 Millionen Euro im Jahr.
Über Waffengleichheit muss man folglich nicht sprechen. Dieser Apparat leistet sich Personal und Anwälte in einem Umfang, von dem jede konzernfreie Redaktion nur träumen kann. Und er hat das staatliche Gewaltmonopol im Rücken. Man kann nicht einfach ignorieren, wenn so eine Behörde Artikel moniert und fordert, die Beiträge anzupassen oder zu löschen. Schon die Antwort kostet Zeit und Geld, selbst wenn man den Kopf schütteln mag über das, was sich die Schreibtischtäter dort zusammengereimt haben.
Bei Multipolar geht es um zwei Interviews und zwei Artikel. Zu Punkt eins muss ich nicht viel sagen. Multipolar lässt Christian Schubert zu Wort kommen, einen qua Veröffentlichungsliste und akademischer Position ausgewiesenen Experten, der vorrechnet, was uns die Coronapolitik an Lebenszeit kostet, und fragt einen Berliner Feuerwehrmann nach seinem Alltag. Das ist ein Journalismus, der seinen „Auftrag“ (2) ernstnimmt. Alle Themen und vor allem alle Perspektiven auf die große Bühne, damit wir streiten und uns eine Meinung bilden können. Vermutlich kennen die Medienkontrolleure diesen Auftrag nicht. Anders ist nicht zu erklären, dass sie hier eine Verletzung von „Sorgfaltspflichten“ und „anerkannten journalistischen Grundsätzen“ sehen. Soll der Interviewer einem Professor widersprechen, der sich ein Leben lang mit dem beschäftigt hat, um das es geht? Soll er dem Feuerwehrmann erzählen, wie es bei seinen Diensten wirklich ist?
Bei den beiden Artikeln wird um Interpretationen gestritten. Falsch, sagt der Lehrer Landesmedienanstalt. Du bekommst eine Fünf, mein liebes Multipolar-Team, und machst dich gleich noch einmal frisch ans Werk. Das führt zurück zum Thema Wahrheit, die weit unterhalb der Regierungsebene in Sachen Corona immer noch in Stein gemeißelt ist. Die RKI-Protokolle haben daran nichts geändert. Im Gegenteil. Der Überbringer der Botschaft soll jetzt geköpft werden. Apolut musste seinerzeit 800 Euro „Bearbeitungsgebühr“ für jeden Text zahlen, der der offiziellen Wahrheit widersprach. 3200 Euro für vier Texte: Das wären auf den ersten Blick Peanuts, aber für ein Portal, das von Fünf-Euro-Abos lebt, ist das ein halbes Vermögen. Medienkonzerne müssen übrigens keine Angst vor solchen 800-Euro-Briefen haben. Der Medienstaatsvertrag sagt in Paragraf 19: Selbstkontrolle genügt, der Deutsche Presserat zum Beispiel, bei dem sich jeder beschweren kann und der hin und wieder auch Rügen austeilt. Ich erinnere mich an eine Initiative für einen alternativen Presserat, diskutiert, als das Gesetz noch neu war. Die Crux: Ob ein solches Gremium anerkannt wird, entscheiden die gleichen Landesmedienanstalten, denen die Politik das Wahrheitsmonopol verliehen hat.
Was tun? Öffentlichkeit herstellen, was sonst. Darüber sprechen. Zensur Zensur nennen und zugleich eine Debatte einfordern über Gesetze wie den Medienstaatsvertrag, mehr noch aber über das Menschenbild, aus dem sich all das ergibt. Wir brauchen kein betreutes Denken und keinen Journalismus, der uns sagt, was falsch und richtig ist. Wir brauchen Informationen. Wir brauchen die Stimmen von Christian Schubert genau wie die Erfahrungen von Feuerwehrmännern und all den anderen, die wissen, was draußen abgeht.
Eine Illusion, ich weiß. Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Das wusste schon Bert Brecht. Vielleicht wüsste er auch, wie ein solches Zensurregime in einem Land wachsen konnte, das gerade bei diesem Thema gewissermaßen ein doppelt gebranntes Kind ist und Wiederholungen in Artikel 5 des Grundgesetzes eigentlich einen Riegel vorschiebt. Vielleicht würde er auf eine Atmosphäre verweisen, die Internetaktivitäten jenseits der Leitmedien schon lange unter Generalverdacht stellt und so einen Schutzmantel für alle offiziellen Narrative liefert. Zu dieser offiziellen Sichtweise gehört, dass der „Feind“ aus dem Internet kommt (3).
Das heißt: Kritik und Gegenwind haben aus dieser Perspektive nichts mit eigenen Fehlern zu tun oder mit Problemen, Sorgen, Nöten aus der realen Welt, sondern ausschließlich mit den neuen Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten von Menschen, die früher öffentlich unsichtbar waren. Die Angst vor einem „Cyber 9/11“ ist in den Schaltzentren der westlichen Hemisphäre seit gut zwei Jahrzehnten präsent, orchestriert auch von hochkarätig besetzten Planspielen, die das Netz mit einem „feindlichen Waffensystem“ gleichsetzen. Wir lernen: Es geht dabei nicht nur um Generale wie Pawel Durov, Mark Zuckerberg oder Elon Musk. Auch das Fußvolk von Apolut oder Multipolar kann dem Radar nicht entkommen.
Zitate
(1) Nikola Roßbach: Achtung Zensur! Berlin 2018, S. 8, 11
(2) Horst Pöttker: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Konstanz 2001
(3) Alexis von Mirbach: Jenseits von Gut und Böse. In: Alexis von Mirbach, Michael Meyen: Das Elend der Medien, Köln 2021, S. 12-51, hier 18
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