Für seine Kolleg*innen ist er nicht nur wegen seiner Körperfülle respektvoll „der Dicke“, „Die Zeit“ nennt ihn einen „leisen Riesen“, seine Kritiker sehen ihn hingegen als „Bonzen“, manche sogar als „Kanzlerkiller: Heinz Kluncker, Vorsitzender der Gewerkschaft ÖTV von 1964 bis 1982, wäre am 20. Februar 2025 100 Jahre alt geworden.
„KISS: Keep it short, stupid. Fasse dich kurz.“ So beginnt Heinz Kluncker seine Festrede zum 50. Jahrestag der Gründung der Gewerkschaft ÖTV in Krefeld 1997. Er signalisiert den Gästen, er wolle nur eine kurze Ansprache halten. 90 Minuten später spricht er noch immer. Keine Ungeduld macht sich breit, die Anwesenden hören weiter gebannt zu. Am Ende des Vortrags applaudieren sie laut, froh ihn erlebt und gehört zu haben. Welch eine Wertschätzung für Heinz Kluncker – 15 Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Vorsitzenden der Gewerkschaft ÖTV.
Mit ihm verbinden die Kolleg*innen Erinnerungen an eine starke Zeit der Gewerkschaft ÖTV, aber auch an einen Vorsitzenden, der die Organisation souverän führte und in seiner Zeit Wegmarken setzte als erfolgreicher Tarifpolitiker, gewerkschaftlicher Wegbereiter einer neuen Ostpolitik, Gewerkschaftsreformer und Internationalist.
Geboren wird Heinz Kluncker am 20. Februar 1925 in Wuppertal-Barmen als einziges Kind einer sozialdemokratisch-gewerkschaftlich geprägten Familie. Sein Vater ist Schlosser, seine Mutter Hausfrau. Früh lernt er Armut kennen, wird Mitglied bei den sozialistischen „Kinderfreunden“, erlebt die Machtübernahme der Nazis 1933 – und lässt sich als Junge von der Nazi-Ideologie blenden. Im Rückblick sagt er: „Die naziorientierte Schulerziehung hat ihre Wirkung auf mich nicht verfehlt.“ Hin- und hergerissen sei er gewesen zwischen den Warnungen seiner Eltern und dem Einfluss des nationalsozialistischen Gedankenguts.
Heinz Kluncker macht im Krieg eine Lehre zum Kaufmannsgehilfen. Er begreift zunehmend den wahren Charakter des Regimes. 1944 wird er als Frontsoldat nach Frankreich in die Bretagne verlegt – und desertiert. Er wollte keinen Schuss auf die Befreier abgeben, erklärt er später. Keine leichte Entscheidung, hätte er doch sowohl von seinen Kameraden wie von den alliierten Soldaten erschossen werden können. Doch für ihn gibt es keinen Weg zurück: „Tatsache ist, dass ich im Juni 1944 als 19jähriger mich völlig von den Wahnsinnsideen des Nationalsozialismus gelöst hatte und mich zugleich schämte, diesen Quatsch geglaubt zu haben.“
Heinz Kluncker kommt als Kriegsgefangener in die USA und hat hier seine „erste Begegnung mit praktizierter Demokratie“. Zudem erlebt er, dass er als Deserteur vor den noch immer überzeugten Nazis im Lager vom Wachpersonal Tag und Nacht beschützt werden muss. Die Zeit in den USA prägt ihn; es ist der Beginn einer lebenslangen Verbundenheit. Er erlernt die englische Sprache, begeistert sich für Countrymusik.
Nach seiner Rückkehr 1946 nach Wuppertal arbeitet er kurz als Polizist, wird Bezirks-Parteisekretär der SPD, studiert in Hamburg an der Akademie für Gemeinwirtschaft, macht ein Praktikum in der Dortmund-Hörder Hüttenunion und wird schließlich im April 1952 Volontär in der Tarifabteilung der Gewerkschaft ÖTV in Stuttgart. Knapp zwölf Jahre später wählen ihn die Delegierten des ÖTV-Gewerkschaftstages zu ihrem Vorsitzenden. Er ist erst 39 Jahre alt. Zuvor war er Bundesarbeitersekretär und Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand, zuständig für Tarifpolitik. Heinz Kluncker muss in seinen Tätigkeitsbereichen sehr überzeugend gewesen sein.
Kaum im Amt zeigt Heinz Kluncker, welche Lehren er für sich aus der deutschen Geschichte und seinen Erfahrungen zieht: Er wird ein Mann der Aussöhnung. So sucht er den „offensiven Dialog mit den Vertretern der kommunistischen Gesellschaftssysteme“. Im September 1965 fährt er zu einem Kongress nach Karlsbad (CSSR). Hier trifft er sich mit Gewerkschaftern aus der UdSSR, der CSSR und Polen – misstrauisch beobachtet vom DGB-Bundesvorstand, der nicht will, dass er mitten im Kalten Krieg auch Kontakt zu Vertretern der DDR aufnimmt. Ihn begleiten ein Journalist des „Spiegel“ und ein Filmteam des SWR.
Warum er sich in Karlsbad dann doch heimlich, worüber er nie spricht, mit Delegierten des FDGB trifft, bleibt eine offene Frage; denn sein Verhältnis zu den Machthabern der DDR ist äußerst distanziert. Das macht er am 1. Mai 1965 deutlich, als er bei einer Kundgebung vor dem Reichstag in Berlin vor 300.000 Menschen die Politik der DDR scharf kritisiert. Anders das Verhältnis zur UdSSR, wohin die ÖTV im März 1966 erstmals eine offizielle Delegation entsendet, geleitet von Heinz Kluncker.
Auch innenpolitisch sucht er den Dialog: Im September 1965 signalisiert er in der hitzigen Diskussion um die Notstandsgesetze der Bundesregierung in einer Stellungnahme Verhandlungsbereitschaft für Regelungen in Katastrophenfällen. Zudem fordert er für Zeit- und Berufssoldaten das Recht ein, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Der „Gewerkschaftsbeschluss“ des Bundesverteidigungsministers im August 1966 ist für ihn ein historischer Schritt, das Verhältnis Gewerkschaft zum Militär zu normalisieren und die Bundeswehr im demokratischen Staatswesen verankert zu wissen.
Bei der alten Gewerkschafter-Garde ist diese Politik nicht unumstritten. Das irritiert ihn allerdings wenig. Er hat seinen eigenen Kopf, zeigt sich jedoch nie stur, sondern als „Pragmatiker mit Grundsätzen“. (Die Zeit)
Für ihn ist allerdings auch klar, dass seine Handlungsfähigkeit und sein Handlungsrahmen durch die Kraft seiner Gewerkschaft bestimmt wird – und die ist bei seinem Amtsantritt nur bedingt ausgeprägt. Hier gibt es Handlungsbedarf: Vom ÖTV-Beirat 1966 auf den Weg gebracht, wird vom Gewerkschaftstag der ÖTV 1968 in München eine Organisationsreform umgesetzt: Der Organisationsaufbau wird verschlankt, Doppelstrukturen werden abgeschafft, die berufsfachliche Arbeit neu geordnet und das Erscheinungsbild modernisiert.
Wie durchsetzungsfähig die Gewerkschaft ÖTV danach ist, zeigt die Bilanz der tarifpolitischen Ergebnisse: Für die Arbeitnehmer*innen im öffentlichen Dienst kann die Zusatzversorgung vereinbart werden (1966), der Monatslohn für Arbeiter*innen im öffentlichen Dienst (1970), das 13. Monatseinkommen (1973) und die 40-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst (1974).
Nur einmal, 1967, hat bis dahin die Gewerkschaft ÖTV eine Urabstimmung durchführen müssen, um in den damals noch jährlich stattfindenden Lohn- und Gehaltsrunden im öffentlichen Dienst Druck auf die Arbeitgeber auszuüben – die dann auch nachgeben. Anders kommt es im Februar 1974.
Die Gewerkschaft ÖTV fordert 15 Prozent mehr Lohn und Gehalt bei einer Inflationsrate von fast 8 Prozent. Bundeskanzler Willy Brandt spricht sich öffentlich gegen ein zweistelliges Tarifergebnis aus. Für Kluncker ist eine rote Linie überschritten; denn nicht der Bundeskanzler, sondern Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher ist Verhandlungsführer der öffentlichen Arbeitgeber. Der Kanzler habe eine Lohnleitlinie gesetzt, was nicht akzeptiert werden könne. Es gelte nun, auch „die Tarifautonomie zu verteidigen“.
Nach nur drei Tagen Streik kommt es zu einem Kompromiss: 11 Prozent Entgelterhöhung. Für Willy Brandt eine Niederlage, aber auch Heinz Kluncker ist angeschlagen: Die Mitglieder sehen das Ergebnis kritisch. Sie sind nicht zufrieden und er muss um ihre Zustimmung in der Urabstimmung kämpfen. In den Medien wird der Abschluss kritisiert und diskutiert, ob eine Gewerkschaft im Bereich der Daseinsvorsorge überhaupt streiken darf. Heinz Kluncker geht auf die Kritiker zu, es kommt noch 1974 zur ersten Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst. Dennoch: als Willy Brandt im Mai 1974 von seinem Amt zurücktritt, wird Kluncker von einigen dafür verantwortlich gemacht, öffentlich gar als „Kanzlerkiller“ diffamiert.
Mit diesem Vorwurf konfrontiert, sagt Heinz Kluncker zurückblickend: „Da möchte ich zunächst mal differenzieren.“ Ein für ihn typischer Satz. Er weist darauf hin, dass öffentliche Meinung „gemacht“ werde, der Kanzler sich mit seiner Leitlinie „aus dem Fenster gelehnt“ habe und dessen Rücktritt Folge der Enttarnung seines Referenten Günter Guillaume für die DDR sei. Dennoch: Diese Legende hält sich hartnäckig. Bis heute wird in der „veröffentlichten Meinung“ (Kluncker) immer wieder bei Tarifkonflikten im öffentlichen Dienst auf 1974 verwiesen und welche Folge der Streik gehabt habe.
In der Karikatur wird Heinz Kluncker gerne als rücksichtsloser Tarifpolitiker überzeichnet, in der Tarifpolitik ist er aber tatsächlich Realist, zeigt sich bereit für Kompromisse – immer das Ziel vor Augen, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst an die Einkommen und Arbeitszeit in der Privatwirtschaft heranzuführen. Seine Tarifpartner lernen ihn als ruhigen, kompetenten und verlässlichen Verhandlungspartner kennen – und schätzen. Das wird unter anderem bei seiner Verabschiedung 1982 deutlich, zu der sowohl der Bundeskanzler Helmut Kohl wie der Ex-Kanzler Helmut Schmidt kommen.
Heinz Kluncker sieht sich als „erster Sprecher“ seiner Organisation, begreift Erfolge als „gemeinsame Erfolge des solidarischen Kampfes für die Interessen der Arbeitnehmer“. Er sucht nah an der Lebenswirklichkeit der ÖTV-Mitglieder zu bleiben, nutzt jede Gelegenheit, um Kolleginnen und Kollegen im Betrieb oder in ihren Dienststellen zu besuchen, gibt alle Nebeneinkünfte wie Aufsichtsratstantiemen an die Hans-Böckler-Stiftung weiter. Er ist „gerade, aufrecht und ehrlich bis auf die Knochen“. (Frank Bsirske)
Nicht nur in Deutschland wird sein Wirken geschätzt. Von 1973 bis 1985 ist er Präsident der Internationale der öffentlichen Dienste (IÖD), danach IÖD-Ehrenpräsident auf Lebenszeit. Israel liegt ihm sehr am Herzen. Er empfängt 1973 die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir im BBZ am Wannsee, fliegt öfter zu Besuchen nach Israel. Die israelische Gewerkschaft Histadrut würdigt ihn 1980 für seine „langjährige Freundschaft“, indem sie zu seinen Ehren 250 Bäume im „Wald der Gewerkschaften“ pflanzt.
All die aufreibende Arbeit fordert schließlich ihren Tribut. 1982 tritt Heinz Kluncker auf Anraten seiner Ärzte zurück. Seine Nachfolgerin wird Monika Wulf-Mathies, sie ist die erste Frau an der Spitze einer DGB-Gewerkschaft.
Heinz Kluncker bleibt nach seiner Genesung bis ins hohe Alter aktiv, setzt sich 1983/84 für Gewerkschaftsrechte in der Türkei ein oder engagiert sich für eine Kinderklinik in Tuzla (Bosnien-Herzegowina) und überbringt 1997 persönlich dringend benötigte medizinische Geräte.
Sein letzter öffentlicher Auftritt ist beim Gewerkschaftstag der ÖTV 2000 in Leipzig. Hier wird unter langanhaltendem Beifall der Delegierten sein Buch „Auf die Wirkung kommt es an“ vorgestellt. Heinz Kluncker ist bewegt. Auf sein Leben zurückblickend gibt er den Delegierten mit auf den Weg: „Lasst uns wachsam bleiben. Das fing mal ganz harmlos an und dauerte tausend Jahre, wie die verbrecherischen Nazis ja das Dritte Reich bezeichnet haben,“ ergänzte dann: „Lasst uns aufmerksam sein und lasst uns keinen Stab über junge Menschen brechen (…), sondern helfen wir ihnen, den Weg in unsere Demokratie sozialorientiert aufzunehmen.“
Heinz Kluncker stirbt 2005 kurz nach seinem 80. Geburtstag.
Quelle: https://senioren.verdi.de/ Bild: Bundesarchiv_B_145_Bild-F039413-0029,_Hannover,_SPD-Bundesparteitag,_Kluncker