Seit vielen Generationen hat die organisierte Unternehmerschaft den Grundsatz verinnerlicht, dass Mehrwert allein durch Lohnarbeit geschaffen wird. Deshalb ist sie stets darum bemüht, genau zu wissen, mit wie vielen potenziell lohnabhängigen Beschäftigten zu rechnen ist und welche Reserven zur möglichen Mobilisierung zur Verfügung stehen. Die Arbeitsverwaltung wird permanent beauftragt, alle Bewegungen und Bestände am Arbeitsmarkt angemessen zu erfassen und auch die Reserve an Arbeitskräften im Auge zu haben.
Falls harte Fakten nicht ermittelt werden können, greift man auch auf Prognosen und Schätzungen zurück, denn es darf auf keinen Fall passieren, dass der Strom der lohnabhängigen Menschen als Arbeitskräfte versiegt.
Trotz hoher Arbeitslosigkeit und der Tatsache, dass immer mehr Menschen durch Maschinen ersetzt werden, war in der Nachkriegsgeschichte die Gesamtzahl der Erwerbsbevölkerung nie größer als heute und noch nie gingen mehr Menschen einer Lohnarbeit nach als heutzutage.
Auch die Stille Reserve, die kontinuierlich bei über zwei Millionen Arbeitskräften liegt, muss berücksichtigt werden, andernfalls unterschätzt man die Gesamtzahl des potenziellen Arbeitskräfteangebots und weiß nicht, wie groß die hiesige industrielle Reservearmee ist. Dieses Wissen ist einerseits die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der stetigen Konkurrenz unter beschäftigten und erwerbslosen Menschen, die erst niedrige Löhne und niedrige Sozialleistungen ermöglicht und soll andererseits die wichtige Funktion und Fähigkeit der Gewerkschaften, die Arbeitskraft zu kartellieren, torpedieren.
Definitionswirrwar
Die extensive Definition der Erwerbtätigkeit der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in Verbindung mit der restriktiven Definition der Erwerbslosigkeit hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Bedarf an weiteren Indikatoren geführt. So wurden in der ILO-Resolution von 2013 zusätzliche Maße der Unterauslastung des Arbeitskräfteangebots („measures of labour underutilization“) eingeführt. Neben den erwerbslosen Menschen zählen dazu die sogenannten Unterbeschäftigten („time-related underemployment“) und die Stille Reserve („potential labour force“).
Im Folgenden sind die aktuellen Definitionen beziehungsweise Indikatoren aufgeführt:
Arbeitslosigkeit
Die üblichen Darstellungen von Arbeitslosenzahlen und -quoten basieren auf der registrierten Arbeitslosigkeit. Nach dem Sozialgesetzbuch III (SGB III) zählen jene Menschen als arbeitslos, „die sich bei einer Arbeitsagentur oder einem Grundsicherungsträger gemeldet haben, im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 Jahren und der Regelaltersgrenze sind, nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, ein solches suchen und zur Vermittlung zur Verfügung stehen“.
Personen die auf der Suche nach einer Erwerbsarbeit sind, aber nicht arbeitslos gemeldet sind, oder die zwischenzeitlich an Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik teilnehmen, bleiben bei den amtlich gemeldeten Arbeitslosenzahlen demnach unberücksichtigt.
Erwerbstätigkeit
Hierzu zählen alle Personen im erwerbsfähigen Alter, die in einem einwöchigen Berichtszeitraum mindestens eine Stunde lang gegen Lohn oder im Rahmen einer selbstständigen oder mithelfenden Tätigkeit gearbeitet haben. Als erwerbstätig gilt auch derjenige Mensch, der sich in einem formalen Arbeitsverhältnis befindet, welches nur vorübergehend, beispielsweise wegen Urlaub oder Krankheit, nicht ausgeübt wurde. Diese erweiternde Abgrenzung von Erwerbstätigkeit führt umgekehrt dazu, dass Erwerbslosigkeit als Situation des totalen Fehlens von Arbeit betrachtet wird. Gleichzeitig muss zur Erfüllung der ILO-Kriterien der Erwerbslosigkeit gleichzeitig in den letzten vier Wochen vor der Berichtswoche aktiv nach einer Tätigkeit gesucht worden sein und eine eventuell angebotene Arbeit innerhalb von zwei Wochen aufgenommen werden können.
Unterbeschäftigte
Das sind erwerbstätige Menschen, die den Wunsch nach Erhöhung ihrer Arbeitszeit haben und dafür auch zur Verfügung stehen. Dagegen haben Personen in Stiller Reserve ebenso wie die gemäß ILO definierten Erwerbslosen überhaupt keine Arbeit.
Stille Reserve
Es gibt unterschiedliche Konzepte bezüglich Definition, Datengewinnung und Blickwinkel auf den Arbeitsmarkt, mit denen eine Stille Reserve ermittelt wird. Das Statistische Bundesamt schätzt die Stille Reserve aus einer mikroökonomischen Perspektive heraus und schließt aus Angaben von Befragten des Mikrozensus beziehungsweise der darin integrierten Arbeitskräfteerhebung auf die Zugehörigkeit zur Stillen Reserve. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt die Stille Reserve aus einer makroökonomischen Perspektive aufgrund der jeweiligen Arbeitsmarktlage. Die ILO arbeitet mit ihrem „Labour-Force-Konzept“ um die Stille Reserve zu erfassen.
Im Jahr 2021 wünschten sich in Deutschland 3,1 Millionen erwerbslose Menschen im Alter von 15 bis 74 Jahren eine Arbeit. Diese Personengruppe umfasst auf dem Arbeitsmarkt Menschen ohne Arbeit, die zwar kurzfristig nicht für den Arbeitsmarkt verfügbar sind oder momentan nicht aktiv nach Arbeit suchen, sich aber trotzdem Arbeit wünschen. Deshalb gelten sie nicht als erwerbslos, sondern werden als „Stille Reserve am Arbeitsmarkt“ bezeichnet.
Unterteilt ist die Stille Reserve seit 2021 erstmals in drei Gruppen.
Zur Stillen Reserve gehören nach ILO-Zählweise zum einen Personen, die zwar aktiv Arbeit suchen, jedoch kurzfristig (innerhalb von zwei Wochen) für eine Arbeitsaufnahme nicht zur Verfügung stehen (Kategorie A ).
Des Weiteren zählen auch Personen zur Stillen Reserve, die aus verschiedenen Gründen aktuell keine Arbeit suchen, aber grundsätzlich gerne arbeiten würden und dafür auch verfügbar sind (Kategorie B). Beide Arten der Stillen Reserve sind in der ILO-Resolution als „potential labour force“ definiert.
Sonstige Nichterwerbspersonen mit Arbeitswunsch („willing nonjobseekers“)
In §§ 51–55 der Resolution sind darüber hinaus Sonstige Nichterwerbspersonen mit Arbeitswunsch erwähnt, die von der ILO jedoch nicht in das Gesamtmaß der Unterauslastung des Arbeitskräfteangebots („labour underutilization“) einbezogen werden. Diese Personengruppe wird alternativ, im Unterschied zur ILO-Resolution, auch als Stille Reserve Kategorie C bezeichnet.
Entmutigte Arbeitssuchende
In den o.g. Paragraphen wird außerdem die Personengruppe der sogenannten „entmutigten Arbeitssuchenden“ („discouraged jobseekers“) erwähnt, für die empfohlen wird, sie als Untergruppe der Stillen Reserve Kategorie B gesondert auszuweisen.
Ungenutztes Arbeitskräftepotenzial
Zum ungenutzten Potenzial werden beispielsweise auch Personen gezählt, deren Inaktivität am Arbeitsmarkt gesundheitlich bedingt ist oder auf Gründen der Aus- und Weiterbildung beruht. Auch für jüngere und ältere Personen, die einen anderen Hauptstatus haben z.B. Schüler und Studenten, Rentner, Hausfrauen ist entscheidend, ob ein Wunsch nach Arbeit vorhanden ist. So werden Studenten, die einen Job suchen, aber kurzfristig wegen Prüfungen nicht verfügbar sind, zur Stillen Reserve gezählt. Gleiches gilt für Rentner mit Arbeitswunsch, die beispielsweise krankheitsbedingt die Arbeitssuche unterbrechen mussten.
Das ungenutzte Arbeitskräftepotenzial der Stillen Reserve muss scheinbar vollständig identifiziert werden.
Die Auflistung der einzelnen Gründe für Inaktivität der Menschen zeigt, dass das Labour-Force-Konzept der ILO bei der Identifizierung von der gesamten Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter im Fokus hat. Die ganze Differenzierung kann nur so gedeutet werden, dass unter allen Umständen das ungenutzte Arbeitskräftepotenzial der Stillen Reserve vollständig identifiziert wird.
Entwicklung der Stillen Reserve
Die Entwicklung der Stillen Reserve hängt nicht nur von der allgemeinen Lage auf dem Arbeitsmarkt ab, sondern auch vom Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Das riesige Angebot von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in den neuen Bundesländern bis zum Ende der 1990er Jahre hatte zu einer hohen Stillen Reserve geführt, wodurch aber die registrierten Arbeitslosenzahlen begrenzt wurden. Eine gegenläufige Auswirkung hatte im Jahr 2005 die Einführung des HARTZ-IV-Gesetzgebung/ SGB II, weil ein großer Teil der vormals statistisch nicht erfassten Arbeitsuchenden im Sozialhilfebezug in der offiziellen Statistik aufgeführt wurde. Dadurch stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen an.
Die Anzahl der Menschen, die zur Stillen Reserve gezählt werden, ist über die Jahre kontinuierlich knapp über zwei Millionen geblieben. Eine Ausnahme bildete die Steigerung im Krisenjahr 2009 im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise und ebenso wegen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einschränkungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie in den Jahren 2020/21.
Geschlechtsspezifische Unterschiede: Knapp 56 Prozent der Stillen Reserve sind Frauen
Im Jahr 2021 waren 55,9 Prozent der Stillen Reserve Frauen. Im Geschlechterverhältnis zeigen sich jedoch Unterschiede innerhalb der Gruppen der Stillen Reserve. In den Gruppen A und B lag der Frauenanteil nur bei 50,8 Prozent, in der Gruppe C überwogen dagegen die Frauen mit 59,9 Prozent.
Deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigten sich auch bei den Hauptgründen für die Arbeitsmarktverfügbarkeit in der Altersgruppe der 25- bis 59-Jährigen: 37,0 Prozent der Frauen zwischen 25 und 59 Jahren in der Stillen Reserve A gaben an, dass sie aufgrund von Betreuungspflichten derzeit keine Arbeit aufnehmen können. Bei Frauen der Altersgruppe zwischen 25 und 59 Jahren in der Stillen Reserve C lag dieser Anteil bei 38,4 Prozent. Von den 25- bis 59-jährigen Männern in der Stillen Reserve A sowie C gaben allerdings nur 5,0 Prozent beziehungsweise 4,7 Prozent Betreuungspflichten als Hauptgrund für ihre Nichtverfügbarkeit an.
Die meisten Frauen, die Teil der Stillen Reserve sind, waren vor ihrer Kündigung im Dienstleistungssektor tätig, beispielsweise als Pflegerin, Kellnerin oder sie verrichteten Hilfsarbeiten. Außerdem haben sie häufiger eine niedrigere Qualifikation als erwerbstätige Frauen. Die Arbeitslosigkeit bedeutet für sie oft eine Auszeit oder sie wird zur Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Verwandten genutzt. Doch je länger die familienbedingte Pause anhält, umso höher ist die Unsicherheit in Bezug auf einen bevorstehenden Wiedereinstieg.
Die meisten Frauen aus der Stillen Reserve finden sich nach der Arbeitsaufnahme im Niedriglohnsektor, Minijobs und in der Teilzeit wieder.
Der vielfach kritisierte Rückgang der Erwerbsneigung von Frauen in der Stillen Reserve ist und bleibt ein Vorurteil, denn bei ihnen ist vielmehr mit einer nach wie vor hohen, tendenziell sogar weiter steigenden Erwerbsorientierung zu beobachten. Doch trotz großer Motivation stellt sich oft der Drehtüreffekt ein. Je nach der Lage auf dem Arbeitsmarkt oder aufgrund der persönlichen/familiären Situation der einzelnen Frau wechseln sie zwischen bezahlter Beschäftigung und Stiller Reserve hin und her.
Ein Großteil der Stillen Reserve hat mindestens mittleres Qualifikationsniveau
60 Prozent der Personen in der Stillen Reserve hatten 2021 ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau, also mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung oder die Hoch-/Fachhochschulreife. 61 Prozent der Frauen verfügten über eine mittlere oder hohe Qualifikation.
38,1 Prozent der Stillen Reserve aus den Kategorien A und B und 49,0 Prozent der Stillen Reserve C zeigten 2021 ein niedriges Qualifikationsniveau auf, dagegen machten die Hochqualifizierten einen Anteil von 18,5 Prozent bei der Stillen Reserve A und B und 15,8 Prozent bei der Stillen Reserve C aus.
Hohe Fluktuation
Der Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen wurde in den letzten Jahren vor allem aus dem Bereich der Stillen Reserve gespeist. In der Regel finden die Menschen aus der Stillen Reserve mindestens ebenso oft wie aus der registrierten Arbeitslosigkeit heraus eine Beschäftigung.
Wenn sie relativ kurzfristig erwerbstätig sein wollen, sind sie später sogar häufiger als Arbeitslose sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Beabsichtigen sie erst später eine bezahlte Tätigkeit aufzunehmen, werden sie etwa so häufig wie registrierte Arbeitslose erwerbstätig und sind später vor allem in geringfügiger Beschäftigung oder Minijobs anzutreffen.
Immer wieder wird gefordert: „Stille Reserve in den Blick nehmen“
Für viele Menschen scheint es ein Paradoxon zu sein: Während Unternehmen in den sogenannten Engpassberufen händeringend nach Arbeitskräften suchen, leistet sich das Land eine Stille Reserve von rund zwei Millionen Menschen, deren Alter zwischen 25 bis 59 Jahren liegt. Dabei handelt es sich um Menschen mit einem konkretem Arbeitswunsch und überwiegend guten Qualifikationen, die aber nicht als arbeitsuchend registriert und damit unsichtbar sind. Gleichzeitig wird seitens der Regierung immer wieder die Diskussion angefacht, billige und fertig ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland zu holen.
Schon seit Jahren fordern Erwerbslosengruppen und auch die Gewerkschaften, die Menschen aus der Stillen Reserve herauszuholen, indem man Rahmenbedingungen für eine verlässliche Kinderbetreuung schafft, die staatliche Alten- und Krankenpflege ausbaut und die Menschen ohne bezahlte Arbeit u.a. durch die Jobcenter zu qualifizieren. Diese Forderungen werden seit Jahrzehnten nicht erfüllt, sondern es fehlt mehr den je an Kindertagesplätzen und menschenwürdigen Pflegeplätzen für alte und kranke Menschen. Auch wird die Qualifizierung durch die Jobcenter immer wieder erwähnt, aber in der Praxis wird das Geld dafür in die laufenden Kosten der Jobcenter umgeleitet und stand und steht für die ursprüngliche Aufgabe nicht mehr zur Verfügung.
In Wirklichkeit bilden die scheinbaren Widersprüche aber ein System.
Das Wissen um die möglichst konkrete Beschreibung der Stillen Reserve auf dem Arbeitsmarkt ist einerseits die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der stetigen Konkurrenz unter beschäftigten und erwerbslosen Menschen, die erst niedrige Löhne und niedrige Sozialleistungen ermöglicht und soll andererseits die wichtige Funktion und Fähigkeit der Gewerkschaften, die Arbeitskraft zu kartellieren, torpedieren.
Hinzu kommt, dass die Menschen, die der Stillen Reserve zugerechnet werden überwiegend im unentgeltlichen Sorge/Carebereich arbeiten und dort eine auch für Staat und Unternehmerschaft wichtige Dienste leisten. Der Unterschied zu anderen Beschäftigungssektoren besteht darin, dass die Care-Arbeit wichtig für die Wirtschaft hierzulande insgesamt ist, da sie erst die Erwerbstätigkeit vieler Menschen ermöglicht und so die Voraussetzungen für die Produktion überhaupt erst schafft.
Die Tätigkeitsweisen von sachbezogener Produktionsarbeit und interpersonaler Reproduktionsarbeit ist jedoch völlig unterschiedlich. Die auf der Schaffung von Waren gerichtete Lohnarbeit unterliegt einer Zeitsparlogik, nach der in immer kürzerer Zeit immer mehr aus der Arbeitskraft herausgeholt wird, während die auf Personen gerichteten Care-Tätigkeiten sich mehr auf eine Zeitverausgabungslogik ausrichtet, also sich Zeit für den Aufbau und die Pflege interpersonaler Beziehungen nimmt. Der Staat hat die Investitionen und Schaffung der Rahmenbedingungen in diese Voraussetzungen übernommen, die aus den Steuern und Abgaben generiert werden. Die Unternehmen halten sich dabei vornehm zurück, weil solche Ausgaben den Profit verringern und Investitionen in den Care-Bereich sich erst in vielen Jahren rentieren.
Genauso so wie sich nicht bestätigt hat, dass der Gesellschaft die Arbeit ausgeht scheint es bei uns auch keine „überflüssigen und nicht verwertbaren“ Menschen zu geben, wie uns die Stille Reserve auf dem Arbeitsmarkt zeigt.
Quellen: ILO, destatis, Böckler, DIW, BA Bild: Illustration 123 rf cco