Für eine Gesellschaft ohne Gefängnisse

Von Klaus Jünschke

Zum Stichtag 31. März 2023 befanden sich 44.232 Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in den 172 Justizvollzugsanstalten in Deutschland. 2022 wurden außerdem 11.663 Untersuchungsgefangene gezählt. In den 78 Maßregelvollzugsanstalten sind über 13.000 Gefangene untergebracht, die dort Patienten genannt werden. Da in Deutschland rund 84 Millionen Menschen leben, sind das relativ kleine Zahlen. Für Jean Baudrillard sind die Gefängnisse dazu da, um zu kaschieren, dass die Gesellschaft insgesamt eingekerkert ist.

Wenn sich auf der Straße vor ihren Häusern junge Männer in die Haare kriegen, weil einer glaubt, dass der andere seine Freundin beleidigt hat, kann es sein, dass Nachbarn dazwischen gehen und die Situation beruhigen. Es kommt aber auch vor, dass Leute Angst haben, sich in einen heftigen Streit einzumischen und die Polizei holen. Dann kann eine Strafanzeige wegen gefährlicher Körperverletzung aufgenommen werden. Das Strafgesetzbuch sieht für eine gefährliche Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten und maximal 10 Jahren vor. Mit dem Auftreten von Polizei, Justiz und Strafvollzug ist aus einem sozialen Konflikt ein Problem der Überwachung und Kontrolle geworden.

Kriminalität als Zuschreibung liegt auch vor, wenn es um die Kriminalisierung von Ausländern geht, Stichwort „Ausländerkriminalität“ – als sei Kriminalität eine „Ausländereigenschaft“. Die erste rot-grüne Bundesregierung hat als Ergänzung zur polizeilichen Kriminalstatistik Periodische Sicherheitsberichte eingeführt. Dadurch ist seitdem sozusagen staatlich anerkannt: Schülerinnen und Schüler, Studenten, Arbeitnehmer und Selbstständige mit und ohne deutschen Pass werden von der Polizei ähnlich häufig als Tatverdächtige registriert. Die großen Unterschiede kommen von der Kriminalisierung der Ausländer, die keinen oder nur einen schwachen Aufenthaltsstatus haben, die sogenannten „Illegalen“ und die Asylbewerber. Der Periodische Sicherheitsbericht zum Zusammenhang zwischen Kriminalisierung und Aufenthaltsstatus: „Insofern die Deliktbegehung stark mit dem Aufenthaltsstatus und dessen Folgen für die Integrationschancen zusammenhängt, ist Prävention vor allem durch Integration und dabei für die 2. und 3. Generation mittels Bildungsförderung zu erreichen.“

Dass auch über 20 Jahre nach der Veröffentlichung solcher Erkenntnisse mit der Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik das Thema „Ausländerkriminalität“ in fast allen Medien wieder für Schlagzeilen sorgt, ist nur zu verstehen, weil Kriminalität und Kriminalisierung Herrschaftsphänomene sind. Darüber wird in der Gesellschaft nicht öffentlichkeitswirksam aufgeklärt. Dabei machte Fritz Sack 1968 den Labeling Approach in der Bundesrepublik bekannt. Danach ist abweichendes Verhalten keine Eigenschaft oder ein Merkmal, das dem Verhalten als solchem zukommt, sondern das an das jeweilige Verhalten herangetragen wird.“

Erving Goffmann hat schon in den 60er Jahren in seiner Studie „Stigma. Über die Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ zu bedenken gegeben: „Es ist bemerkenswert, dass jene, die rings um die Sozialwissenschaften angesiedelt sind, sich so schnell mit dem Terminus ‚deviant’ eingerichtet haben, als ob jene, auf die der Terminus angewandt wird, genug gemein hätten, so dass signifikante Dinge über sie als eine Ganzheit gesagt werden können. Gerade so, wie es iatrogene (= durch ärztliche Handlungen hervorgerufen, K. J.) Störungen gibt, verursacht durch die Arbeit, die Mediziner leisten, (was ihnen dann mehr zu tun gibt), so gibt es auch Personenkategorien, die von den Forschern der Gesellschaft erst geschaffen und dann von ihnen studiert werden.“

Das Bemühen, den Zusammenhang von wirtschaftlichen Verhältnissen, Sozialstruktur und Kriminalpolitik zu verstehen, führt zu den entscheidenden Fragen: Werden arme Leute durch das Strafrecht häufiger kriminalisiert als andere? Und weshalb ist das so? Warum werden Reiche weniger kriminalisiert als andere? Und warum wird das geduldet?

Die Geschichte des Strafrechts, der Kriminalisierung bestimmter Handlungen und die Geschichte der Gefängnisse sind relativ jung.

Gustav Radbruch, in der Weimarer Republik Reichsminister der Justiz, ist der geschichtlichen Wurzel des staatlichen Strafens nachgegangen und hat aus der Rechtsgeschichte der europäischen Völker festgestellt, dass die Straftat eines Freien ursprünglich nur Buße oder private Fehde auslöste. Nur der Unfreie, der Knecht, wurde im heutigen Sinn bestraft.

„Aus den Knechtstrafen entsteht das Strafrecht und mit ihm zusammen zum ersten Male eine bewußte Kriminalpolitik. Erst von der Zeit des Fränkischen Reiches an lässt sich im eigentlichen Sinn von einer Legislativpolitik auf dem Gebiete des Strafrechts sprechen. Nur auf Unbegüterte fand dieses neue Strafrecht Anwendung. Aus dem Bußsystem hatte sich die Ablösbarkeit der öffentlichen Strafen entwickelt. Es gibt von nun an auf lange Zeit ein doppeltes Strafrecht: Eines für die Begüterten und eines für die Mittellosen. Der Arme büßt an seinem Leib, wo der Reiche zahlt.“

Und ferner: “…das Strafrecht ist nach Ursprung und Wesen angelegt auf das Rechtsbrechertum einer anderen, einer unteren, einer für minderwertig angesehenen Volksschicht. Strafe bedeutet eine soziale capitis deminutio (Minderung), weil sie die capitis deminutio derjenigen, auf die sie Anwendung finden will, durch die Stände- und Klassenordnung  der Gesellschaft voraussetzt.“

Mit der Reformation, der Aufklärung und dem Merkantilismus verschwanden die Lebens- und Körperstrafen nach und nach und es entstanden die Arbeits- und Zuchthäuser und schließlich die Zellengefängnisse, wie sie heute noch bestehen.

Im Jahr 1555 wurde im englischen Schloss Bridewell auf Bitten des Bischofs Ridley ein Arbeitshaus mit dem Ziel eingerichtet, Landstreicher, Bettler und kleine Diebe an Arbeit zu gewöhnen.
Einer entsprechenden Einrichtung in Amsterdam, zu der es 1595 kam, war die Weigerung des Schöffengerichts vorausgegangenen, einen Dieb hängen zu lassen. Die Schöffen fanden es sinnvoller ihn zur Arbeit zu verurteilen. Solche Arbeits- und Zuchthäuser verbreiteten sich im 17. Jahrhundert in Europa. Die Verhältnisse in ihnen: Männer, Frauen, Kinder waren zusammengepfercht, die hygienischen Verhältnisse waren schlimm, die Inhaftierten wurden als billige Arbeitskräfte an private Unternehmer verpachtet.

Wolfgang Ayaß sieht den eigentlichen gesellschaftlichen Nutzen dieser Arbeits- und Zuchthäuser in ihren Wirkungen auf die Wahrnehmung der ganzen Bevölkerung, denn in ihnen „gewann eine neue gesellschaftliche Norm ihren sichtbaren Ausdruck. Müßiggang wurde als unerträglich gebrandmarkt.“ Die Reformatoren Calvin, Luther und Zwingli verklärten die Arbeit zum zentralen Lebensinhalt. Sebastian Scheerer erkannte in den Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozess seit der Reformation die Ursache für die Fundamentaldisziplinierung der Bevölkerung.

Nachdem John Howard, der High Sheriff von Bedfordshire, mehrere hundert solcher Zucht- und Arbeitshäuser in England, Schottland, Wales und ganz Europa besucht hatte, veröffentlichte er 1777 das Buch „The State of the Prisons“. Es enthielt sehr detaillierte Berichte über die von ihm besuchten Gefängnisse, einschließlich Pläne und Karten, sowie detaillierte Anweisungen über die notwendigen Verbesserungen, insbesondere in Bezug auf Hygiene und Sauberkeit, deren Fehlen viele Todesfälle verursachte. Es ist diese Arbeit, die zur Etablierung der Einzelzellenpraxis in Europa und in den Vereinigten Staaten führte.

Michel Foucault hat die Entscheidung für die Einzelhaft erklärt: ”Zunächst wird damit jene dichtgedrängte und ruhelose Masse von Eingekerkerten vermieden, wie sie Howard beschrieben hat. Jeder ist an seinem Platz sicher in eine Zelle eingesperrt, wo er dem Blick des Aufsehers ausgesetzt ist.” Tatsächlich war die Vermeidung der „kriminellen Ansteckung” auch eines der wesentlichen Argumente der deutschsprachigen Gefängnisexperten für die Einzelhaft.

Das Eastern State Penitentiary (Bußhaus) in Philadelphia, im US-Bundesstaat Pennsylvania, ist das erste Einzelzellengefängnis. Der zweistöckige Sternbau wurde 1829 in Betrieb genommen. Das von Quäkern ersonnene Prinzip war, Gefangene voneinander durch Einzelhaft zu isolieren. Daher verfügt jede Zelle über einen ebenfalls durch Mauern abgetrennten kleinen Hof. Den Häftlingen war es nicht gestattet, zu arbeiten oder Besuch zu empfangen, außer durch einen Anstaltsseelsorger. Als immer mehr Gefangene krank wurden, ist diese Art des Isolations-Strafvollzugs aufgegeben worden. In den USA setzte sich ein Gefängnistyp durch, in dem die Gefangenen tagsüber mit anderen zusammen zu arbeiten hatten und gemeinsam essen konnten und in ihren kleinen Zellen nur nachts eingeschlossen waren. Durch die Berichte von Deniz Yücel über seine Einzelhaft mit einem eigenen kleinen Hof vor seiner Zelle im Hochsicherheitsgefängnis Silivri wurde in der Bundesrepublik bekannt, dass das Eastern State Penitentiary nicht nur Geschichte ist.

In Preußen waren nach der Einführung des Preußischen Landrechts von 1794 die Körperstrafen weitestgehend durch Haftstrafen ersetzt worden. Angeregt durch die Entwicklungen in England und den USA entwarf das preußische Justizministerium 1804 den „Generalplan zur Einführung einer besseren Criminal-Gerichts-Verfassung und zur Verbesserung der Gefängnis- und Straf-Anstalten“.

Wie in anderen europäischen Staaten entstanden in den meisten preußischen Großstädten im 19. Jahrhundert Zellengefängnisse im Sternbau. Das Gefängnis in Köln nahm 1838 seinen Betrieb auf und wurde 1968 abgerissen, als der Neubau in Köln-Ossendorf fertig war. Das Gebäude diente fünf verschiedenen Staatsformen: dem Königreich Preußen, dem Deutschen Kaiserreich, der Weimer Republik, dem Nazi-Staat und schließlich der Bundesrepublik.

Da die frühen Kriminal- und Moralstatistiker ihre Daten auf bestimmte Gebiete bezogen – Regionen, Städte, Stadtteile -, lenkten sie die Aufmerksamkeit auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem es zu strafbaren Handlungen kommt. Diese Ansätze wurden, so Günter Albrecht im Kleinen Kriminologischen Wörterbuch, „durch die mit Darwin verknüpfte Tradition der Kriminologie Lambrososcher Prägung mit ihrer starken Betonung der Person des Täters verdrängt.“ Der italienische Mediziner und Anthropologe Cesare Lombroso vertrat die Lehre vom „geborenen Verbrecher“, d. h. Verbrechen waren für ihn Resultat der physiologischen und psychologischen Eigenschaften des Täters. Martin Dinges und Fritz Sack: „Das biologische Modell verschaffte dem Staat und der Gesellschaft einen legitimatorischen Gewinn und Nutzen, der nicht hoch genug veranschlagt werden kann: Die Frage der Kriminalität war damit beim Täter und seinen Parametern verortet und nicht länger bei der Gesellschaft und ihren Strukturen.“

Auf die Frage, was das Gefängnis seit über hundert Jahren so relativ immun macht gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen, erklärte Thomas Berger in seinem 1974 erschienen Buch „Die konstante Repression. Zur Geschichte des Strafvollzugs in Preußen nach 1850“: Der Strafvollzug dient heute ebenso wie im 19. Jahrhundert der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft, besonders der Garantie der Eigentumsordnung. Inhaftiert werden vor allem Angehörige der „Unterschicht“. Die Verhältnisse im Gefängnis müssen immer noch etwas schlechter sein als das Los der „Unterschicht“ jenseits der Mauern. An Resozialisierung ist nicht ernsthaft zu denken, solange nicht die sozialen Ursachen des Verbrechens angegangen werden. Dies ist – so Berger – zur Zeit Bismarcks ebenso wenig wie heute möglich, wollte man nicht an den Grundlagen dieser Gesellschaft rütteln.

Auch Renate Dillmann und Arian Schiffer-Nasserie kommen in ihrem Buch „Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung“, in dem sie die historischen Etappen der deutschen Sozialpolitik analysieren, zu diesem Ergebnis: „Eine bei aller Verschiedenheit auffallende Identität der Sozialpolitik über verschiedene Regierungsformen hinweg – Königreich Preußen, deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus wie der Bundesrepublik Deutschland – zeigt, wie sehr es sich bei ihnen um ‚Formen bürgerlicher Herrschaft‘ handelt, deren gemeinsames Fundament in den ökonomischen Grundlagen liegt.“

Die Nutznießer dieses „gemeinsamen Fundaments in den ökonomischen Grundlagen“ tabuisieren eine ernsthafte Aufklärung der Frage, warum es unseren reichen demokratischen Gesellschafteen nicht gelingt, die Armut abzuschaffen. Die Aussage „Die beste Kriminalpolitik ist und bleibt eine gute Sozialpolitik“ des Strafrechtlers Franz von Liszt wird seit über 100 Jahren wieder und wieder zitiert – während die Gefängnisse Armenhäuser bleiben und die soziale Ungleichheit zunimmt.

In den USA ist aus dem beabsichtigten „War on Poverty“, Krieg gegen die Armut, unter John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson ein Krieg gegen die Armen geworden. Mit dem „War on Drugs“ wurden die USA zu dem Land mit den meisten Gefangenen. Angela Davis spricht vom Gefängnis-industriellen Komplex. Jonathan Simon prägte für diese Entwicklung den Begriff „Governing Through Crime“. Der Staat machte das Gegenteil von dem, was Franz von Liszt empfahl, er zerstörte den Sozialstaat und reagierte auf den Zerfall der sozialen Ordnung mit der Militarisierung der Polizei und dem Bau von immer neuen Gefängnissen.

Befürchtet wurde, dass die Entwicklung in den USA in Europa übernommen wird. Da der Sozialstaat nicht so runtergewirtschaftet wurde, ist Europa nicht gefolgt. In der Bundesrepublik haben die Interessenvertretungen der Strafvollvollzugsbediensteten dazu beigetragen, dass die Privatisierung der Gefängnisse verhindert wurde.

Ein Blick in die 13. Ausgabe der von der Universität London erstellten World Prison Population List findet dafür eine Bestätigung: Pro 100.000 Einwohner sind in den USA 629 Menschen in Haft, in Deutschland sind es 70 und in Finnland, das dabei ist die Obdachlosigkeit abzuschaffen, sind es 50.

1882 waren im Deutschen Kaiserreich 77 Prozent aller von Gerichten verhängten Sanktionen Freiheitsstrafen. 2009 waren es in der Bundesrepublik noch 8 Prozent. Die meisten Strafen sind heutzutage Geldstrafen, gefolgt von Strafen auf Bewährung.

Angesichts dieses Trends hat Gilles Deleuze 1990 in einem Essay über die elektronische Fußfessel schon das baldige Ende des Gefängnisses prognostiziert. Er fand, dass die Disziplinargesellschaften mit ihren Gefängnissen von Kontrollgesellschaften abgelöst werden.  Nils Christie prognostizierte das Gegenteil. Sein Buch trug den Titel „Towards GULAGs, Western Style.“ Die Entwicklung in den USA bestätigte ihn, aber nicht die Entwicklung in den europäischen Sozialstaaten. Sebastian Scheerer, der sich mit diesen beiden Prognosen über die Einsperrung auseinandersetzte, sieht die Antwort „eher im ‚Und‘ als im ‚Oder‘, wenn von Christie und Deleuze die Rede ist.“ Wenngleich er erklärt, wie durch alternative Sanktionsmethoden Kriminalisierungen und Einsperrungen vermieden werden, übersieht er nicht, wie an den Außengrenzen der Festung Europa Flüchtlingslager zu Internierungslager und Gefängnissen werden. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass „die Inhaber privilegierter Positionen sehr viel ältere Kontroll-Modi aktivieren“, wenn die Zahl derjenigen, die die Festungsgrenzen überwinden, den Regierenden zu viel wird.

Für kritische Sozialwissenschaftler steht außer Frage, dass die Gefängnisse nicht nur eine Reaktion auf Kriminalität sind, sondern vielleicht sogar der zentrale Mechanismus ihrer Reproduktion.

So teilt das Statistische Bundesamt in seiner jährlichen Veröffentlichung zur Strafrechtspflege mit, wie oft Inhaftierte vorbestraft sind. Von den 46.054 Gefangenen waren dies am 31. März 2020 fast zwei Drittel, nämlich 31.372. Und die wenigsten von ihnen hatten nur eine Vorstrafe: Ein knappes Drittel, 10.042 Menschen, war fünf- bis zehnmal vorbestraft, weitere 4.478 elf- bis zwanzigmal und 764 mehr als einundzwanzigmal.

Wer annimmt, dass es sich bei diesen so häufig Vorbestraften um die Ärmsten der Armen handelt, sieht sich durch die Zahlen des Statistischen Bundesamtes ebenfalls bestätigt. Am 31. März 2020 waren von 46.054 Inhaftierten 6.187 (13 Prozent) ohne festen Wohnsitz. Da der Anteil der im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung geschätzten Wohnungslosen deutlich unter einem Prozent der Gesamtbevölkerung liegt, sind Wohnungslose im Strafvollzug somit weit mehr als 13-fach überrepräsentiert.
Noch dramatischer wird die Kriminalisierung von Armen im Strafvollzug sichtbar, wenn die Inhaftierungen über das ganz Jahr betrachtet werden. Nicole Bögelein, die seit über 10 Jahren zur Ersatzfreiheitsstrafe forscht, geht davon aus, dass von den rund 100.000 Menschen, die jedes Jahr in Haft kommen, die Hälfte nur eingesperrt wird, weil sie eine gegen sie verhängte Geldstrafe nicht bezahlen können. Die Dauer beträgt durchschnittlich 38 Tage. Entgegen dem Rat von Nicole Bögelein und anderer Experten wurde die Ersatzfreiheitsstrafe in diesem Jahr nicht abgeschafft, sondern nur halbiert. Das bedeutet eine Entlastung der Justiz, aber es bleibt bei den 50.000 Armen, die eingesperrt werden.

Ein Lichtblick sind die durch Proteste bewirkten Entscheidungen von Nahverkehrsverbänden, auf Anzeigen wegen Fahrens ohne Ticket zu verzichten. Das könnte Tausenden Armen den Gefängnisaufenthalt ersparen.

Wie sehr am Strafen festgehalten wird, vermitteln auch die Verschärfung von Bürgergeldsanktionen durch die Ampel und die Forderung der CDU, denen Leistungen sogar dauerhaft zu streichen, die eine Arbeit, Ausbildung oder Fördermaßnahme verweigert haben. Das ist nahe am biblischen „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Das, obwohl eine Auswertung der Bundesagentur ergab, dass es 2023 von den 4 Millionen Bürgergeldempfängerinnen keine 16.000 Personen gab, denen Bürgergeld gekürzt wurde, also gerade mal 0,4 Prozent.

Zygmund Baumann hat in dem Law-and-Order-Wahn, auf soziale Probleme mit immer mehr Repression zu reagieren, ein Substitut für den ernsthaften Versuch gesehen, sich der Herausforderung einer ständig wachsenden existenziellen Unsicherheit zu stellen.

Aber in den Gefängnissen sind nicht nur Arme unter sich. Es sind überwiegend männliche Arme. Etwa 94 Prozent der Gefangenen sind männlich. Kriminologinnen wie Helga Cremer-Schäfer argumentieren, dass im Strafgesetz eine Kriminalisierung von Armut angelegt ist, die vor allem „Handlungsstrategien und Mittel“ missbilligt, „auf die junge, mittellose undisziplinierte, fremde Männer zurückgreifen, wenn sie Konflikte oder Ausschließungssituationen bearbeiten und dabei auch noch Männlichkeit darstellen.“

Wie die Zahl der Haftstrafen weiter abgesenkt werden könnte, darüber machen sich auch Gefängnisdirektoren Gedanken. So hat Jörn Foegen, der im Jahr 2006 verstorbene Leiter der JVA Köln, in Interviews immer wieder erklärt, dass eine an Leidverminderung orientierte Drogenpolitik dazu führen würde, dass er ein Drittel aller Zellen dichtmachen könnte. Auch Harald Preusker, langjähriger Leiter der JVA Bruchsal und Leiter der Abteilung Strafvollzug im Sächsischen Staatsministerium der Justiz, hat auf einer Tagung der Humanistischen Union zum Strafvollzug in Deutschland erklärt: „Süchtige Gefangene sollten nicht im Gefängnis untergebracht werden.“ Im Frauenvollzug gelten 70 Prozent aller Gefangenen als suchtkrank, bei den Männern an die 50 Prozent.

Jörn Foegen hat auch kritisiert, dass mit dem Täter-Opfer-Ausgleich nur 1 Prozent aller Anklagen außergerichtlich erledigt werden, obwohl ihm Staatsanwälte sagten, dass dies bei gut 20 Prozent aller Anklagen möglich wäre, die zu einer Gerichtsverhandlung führen.

Thomas Galli, ein ehemaliger Gefängnisdirektor hat mit bisher drei Büchern und in ungezählten Interviews und Vorträgen erklärt, dass 90 Prozent aller Gefangenen nicht in die Gefängnisse gehören.

Das Gefängnis wurde von Anfang an kritisiert. Karl Marx und Friedrich Engels haben in ihrem 1845 erschienenen Buch „Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“ geschrieben, man müsse „nicht das Verbrechen am einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden.“

Daraus wurde nicht emanzipatorische Politik, wie Christopher Wimmer im 2021 erschienenen Buch „Lumpenproletariat. Die Unterklassen zwischen Diffamierung und revolutionärer Handlungsmacht“ vermittelt. Danach gelten Karl Marx und Friedrich Engels nicht nur als Erfinder des Begriffs „Lumpenproletariat“: „Er bot ihnen die Möglichkeit, ihre Prognosen aus den Revolutionsjahren 1848/49 zu revidieren, als sie – mit wahnsinniger historischer Ungeduld – von einem unmittelbaren Sieg des Proletariats im Klassenkampf und der Verwirklichung der klasselosen Gesellschaft ausgingen. Schuld für die Niederlage der Revolutionen seien, neben der eigenen Schwäche des Proletariats, auch sozial degradierte, von den Herrschenden korrumpierbare und daher im Klassenkampf passive oder ambivalent agierende Teile der sozialen Unterschichten gewesen: das Lumpenproletariat. Marx zog daher eine Grenze zwischen dem Proletariat und dem Lumpenproletariat, um den moralischen Charakter des ersteren zu verteidigen. Bis heute bilden moralische Abwertungen bestimmter Gruppen ein Mittel der sozialen Disziplinierung.“

Wie das Patriarchat ist die Unterteilung der Menschen in „höchste“ und „niedrigste“ viele Tausend Jahre älter als das Gefängnis und die Strafgesetze. Christian Sigrist, der zur Entstehung von Herrschaft geforscht hat, kommt zu dem Schluss: „Allgemein lässt sich die Entstehung von Paria-Gruppen als Ergebnis von Herrschaftsbildung und wachsender ökonomischer Ungleichheit erklären. Die religiöse Überhöhung von Herrschaftsinstanzen findet ihren Gegenpart in der Dämonisierung von Randgruppen.“

Im Gang durch die Geschichte schildert Christopher Wimmer die Hoffnungen, die Anarchisten mit dem Lumpenproletariat verbanden, das revolutionäre Potential, das Herbert Marcuse in den Randgruppen sah, über Frantz Fanons „Verdammte dieser Erde“ und die Black Panther, bis hin zur „Multitude“ von Michael Hardt und Toni Negri.

Im Kampf für die Überwindung der sozialen Ungleichheit, für eine Welt ohne Armut und ohne Gefängnisse, für eine Welt, in der „die Umstände menschlich“ gebildet werden, sollte das Existenzrecht aller Menschen Priorität haben, dass keiner mehr hungert, dass die Gewalt gegen Frauen und Kinder aufhört, dass alle eine Wohnung haben. Aktuell in den Kämpfen gegen Wohnungsnot und Obdachlosigkeit und für Solidarität mit den Flüchtlingen, müssen wir die vorhandenen Konkurrenzen in und zwischen den einheimischen und zugewanderten Armen solidarisch überwinden.

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Der Autor:

Klaus Jünschke, Buchautor, Aktivist für die Abschaffung der Obdachlosigkeit, 16 Jahre Haft wegen Mitgliedschaft in der RAF (Rote Armee Fraktion)

 

 

 

Der Beitrag  erschien in den Marxistische Blätter (marxistische-blaetter.de) 3_2024 und wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier gespiegelt.
Bild: ard.de