Das am 23. Mai 1949 in Kraft getretene und inzwischen 75-jährige Grundgesetz ruft im Jubiläumsjahr den Verfassungstext in Erinnerung. Dieser soll ja unseren gesellschaftlichen und politischen Konsens über unsere gemeinsam vereinbarten Grundrechte einerseits und das demokratische Staatsverständnis andererseits widerspiegeln. Wie aber sieht jenseits aller Sonntagsreden die gelebte Verfassungswirklichkeit und das Demokratieverständnis inzwischen aus?
Bei den Grundrechten handelt es sich ja um die grundlegenden bürgerlichen Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Sie schützen uns also vor staatlicher Willkür. Die Grundrechte binden alle staatliche Gewalt und sind Werte-Entscheidungen. Diese unterliegen aber einem ständigen Wertewandel.
Was uns die Väter und Mütter des Grundgesetzes im parlamentarischen Rat vor 75 Jahren aufgeschrieben und beschlossen haben, hatte somit nur 2 Jahre lang jungfräulichen Bestand. Denn das Grundgesetz ist seither in den 75 Jahren trotz hoher Hürden fast 70 Mal geändert worden an 200 Stellen. Das ist nicht erstaunlich, denn das Grundgesetz ist kein statisches Rechtsdokument und auch nicht für die Ewigkeit geschaffen, sondern eine ewige verfassungspolitische Baustelle.
Nur wenige Grundrechte und Staatsziele unterliegen der sogenannten Ewigkeitsklausel des Artikel 79 (3), nämlich die Garantie der Menschenwürde, das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip und das Sozialstaatsprinzip sowie der Bundesstaat. Diese dürfen nicht substanziell geändert werden, d. h. nur die Artikel 1 bis 20 und der Föderalismus sind unantastbar. Alles andere ist mit Zweidrittel-Mehrheit jederzeit änderbar und wurde bereits wiederholt geändert. Das gedruckte Grundgesetz, das wir als Schüler ausgehändigt bekamen, ist also längst nicht mehr das gleiche wie die heutige Fassung.
Die meisten Grundgesetz-Artikel wurden längst geändert
Mehr als jeder zweite Artikel des Grundgesetzes wurde somit in den 75 Jahren geändert, einige sogar mehrmals. Von den insgesamt 146 Artikeln wurden dadurch 140 mit geändert. Damit hat sich der anfangs noch gut lesbare Text des Grundgesetzes nahezu verdoppelt. Der juristisch aufgeblähte Text hat sich von der Formulierungskunst der Gründer entfernt. Er wurde aus tagespolitischen Erwägungen ständig umgeschrieben, gestopft, geflickt und auch „verschlimmbessert“. So wurde z. B. 1992 der Artikel 23 zur Integration Deutschlands in die EU auf 435 Wörter in unlesbarem Juristendeutsch erweitert oder neu eingeführt zum Subsidiaritätsprinzip.
Kein Mitentscheidungsrecht der souveränen Bundesbürger bei Grundgesetzänderungen?
Das Grundgesetz regelt inzwischen viele Details, die besser in ausführenden Gesetzen geregelt werden sollten. „Je mehr man in die politische Verfassung schreibt, umso weniger überlässt man dem politischen Prozess“, beklagte der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm. Und der damalige Bundespräsident Köhler forderte eine intensivere Einbeziehung und ein Mitentscheidungsrecht der Bundesbürger an den (viel zu häufigen) Grundgesetzänderungen. Eigentlich sollte sich die Tagespolitik am Grundgesetz orientieren, vielfach wurde aber umgekehrt das Grundgesetz der Tagespolitik angepasst (wie jüngst bei der Schuldenbremse, die 2009 ins GG aufgenommen wurde).
Und Dutzende Male musste das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Grundgesetzes grundgesetzwidrige Gesetzesvorhaben einkassieren, wie zuletzt den Nachtragshaushalt 2021 oder Regelungen zur Strafrechtsreform in 2023. Auch Regelungen des Klimaschutzgesetztes von 2019 wurden 2021 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig, erklärt, weil unzureichend.
Es gab aber auch höchst umstrittene Urteile, etwa 1994 zur Billigung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, während bis dahin die Bundeswehr laut Artikel 87a und Artikel 24 (2) nur zur Landes- und Bündnisverteidigung eingesetzt werden durfte.
Das Grundgesetz als Spiegel der Tagespolitik und des sich wandelnden Zeitgeistes
Somit ist das Grundgesetz ein Spiegel der Tagespolitik und des sich wandelnden Zeitgeistes. Das zeigt sich durchgängig über die zurückliegenden Jahrzehnte in den vielen Diskussionen und teils heftigen Auseinandersetzungen um die angestrebten und durchgeführten Grundgesetzänderungen.
Um nur einige Wesentliche kurz in Erinnerung zu rufen:
- Nach heftigen Debatten um die umstrittene Wiederbewaffnung Deutschlands nach dem Krieg wurden bereits 1956 mit der Einführung der Bundeswehr und der Wehrpflicht insgesamt 7 Artikel des Grundgesetzes geändert oder neu eingeführt.
- 1975 erfolgte die Öffnung der Bundeswehr auch für Frauen und seit 2001 sogar für sämtliche militärische Laufbahnen und den Dienst an der Waffe. Bis dahin war eine Frau mit dem Gewehr im Schützengraben undenkbar.
- 1959 wurden Regelungen zur Nutzung der Atomkraft bei der Energieerzeugung eingefügt.
- Die Anerkennung der im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit wurde seitens der katholischen Kirche erst 1965 mit dem zweiten Vatikanum zugestanden. (Auch gleiche Rechte für Frauen sind in der katholischen Kirche immer noch ein Streitthema sowie das Streikrecht für Kirchenmitarbeiter ist eingeschränkt).
- 1968 gab es heftige Auseinandersetzungen um die Einführung der Notstandsgesetze durch zahlreiche Änderungen im Grundgesetz, quasi als Notstandsverfassung. (Viele Ältere unter uns erinnern sich noch an die Schärfe und 10-jährige Dauer der damaligen erbitterten Auseinandersetzungen).
- Zugleich wurde in 1968 mit dem Artikel 20 (4) das Widerstandsrecht der Staatsbürger eingeführt gegen die Gefährdung oder Beseitigung der Grundordnung.
Streitthemen Asylrecht, Gleichberechtigung und „Radikalenerlass“
- Außerdem wurden 1968 Regelungen zum Aslyrecht (Artikel 74) aufgenommen. Aber 25 Jahre später, in 1992 erfolgte der heftig kritisierte Rückbau des Asylrechtes im Artikel 16 a bzw. als sogenannter „Asylkompromiss“ in 1993.
- In 1993 wurde die Gleichberechtigung von Mann und Frau als Staatsziel verstärkt durch das Gleichstellungsgebot im Artikel 3 (2). (Bei der Bezahlung ist die Gleichstellung immer noch nicht erreicht und auch das Einräumen gleicher Rechte für eheliche und uneheliche Kinder hat lange gedauert bis zu seiner Realisierung). Der Bundesgerichtshof berief sich noch in den fünfziger und sechziger Jahren zum Verhältnis von Mann und Frau auf das „ewige Sittengesetz“ der Unterordnung der Frau im Familienrecht.
- Die Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre erfolgte im Jahr 1972; aktuell diskutieren wir die weitere Herabsetzung auf 16 Jahre, wie sie für die Europawahlen bereits gilt.
- In 1972 gab es auch heftige Auseinandersetzungen um den sogenannten „Radikalenerlass“ oder Extremistenbeschluss. Damit begann eine „Gesinnungsschnüffelei“ mit 11.000 Verfahren zu Berufsverboten. Insgesamt 1256 Bewerber für den öff. Dienst wurden daraufhin abgelehnt und 265 aus dem öff. Dienst entfernt, vor allem linke Lehrerinnen und Lehrer, teilweise wurden sie später rehabilitiert. (Heute lebt 52 Jahre später die gleiche Debatte wieder auf gegenüber den rechtsextremen Verfassungs- und Demokratiefeinden sowie zum Schutz des Verfassungsgerichtes im Artikel 94).
Der „große Lauschangriff“ und das Volkszählungs-Urteil als Aufreger
- Heftige Debatten gab es in 2004 auch um den sognannten „großen Lauschangriff“ durch technische Überwachungsmaßnahmen nach umstrittener Grundgesetzänderung in 1998. Zur Unverletzlichkeit der Wohnung gem. Artikel 13 (1). traf das Bundesverfassungsgericht ein wegweisendes Urteil. Der Grundrechtsschutz gegen Überwachung als Freiheitsrecht wurde jedoch löchrig.
- Mit dem Stopp der heftig umstrittenen Volkszählung durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1983 wurde faktisch ein Grundrecht auf Datenschutz eingeführt, da jede Datenspeicherung als Eingriff in das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ anzusehen sei.
- In 1997 wurde aber per Grundgesetzänderung das Abhören von Wohnungen zur Strafverfolgung ermöglicht.
Umweltschutz, Tierschutz und Kindeswohl sowie „Homo-Ehe“ im Grundgesetz
- Erst 45 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde 1994 der Umweltschutz als Staatsziel aufgenommen mit dem neu geschaffenen Artikel 20 a.
- Acht Jahre später wurde in 2002 auch der Tierschutz in der Verfassung berücksichtigt.
- Der politische Vorstoß in 2021, auch das Kindeswohl und die Kinderrechte als substanzielle Ergänzung des Artikel 6 (2) ins Grundgesetz aufzunehmen, fand keine Mehrheit.
- Auch sind politische Anläufe gescheitert, Kultur, Sport und Sprache in den Verfassungsrang zu heben.
- In 2003 wurde durch einen Spruch des Bundesverfassungsgerichts aus Karlsruhe jedoch die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften ermöglicht.
Föderalismus-Reform und Wiedervereinigung als verfassungsrechtliche Herausforderungen
- In 2006 wurde mit der Föderalismusreform, nach der Wiedervereinigung durch Änderung von 19 Artikeln, ein Entwirren der Zuständigkeiten von Bund und Ländern vorgenommen (mit Verlagerung von Aufgaben der Länder auf den Bund, die später wieder zurückgeschraubt wurde).
- Mit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 sah das Grundgesetz (als Provisorium) gemäß Wiedervereinigungsgebot eigentlich eine neue gesamtdeutsche Verfassung vor. Stattdessen wurde das über eine bloße „Beitrittsregelung“ nach Art. 23 umgangen, sowie mit einer Änderung lediglich der Präambel. Damit behielt das westdeutsche Grundgesetz seine Geltung anstatt über den Art. 146 abgelöst zu werden durch eine neue Verfassung mit einem Referendum durch das Volk, was kritische Debatten auslöste.
- Ein offensichtlicher Verstoß gegen den Artikel 25 des Grundgesetzes, das den Vorrang des Völkerrechtes anerkennt, erfolgte 1999 mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Jugoslawien.
- Diverse Diskussionen in 2010, den Natur- und Klimaschutz mitsamt Gentechnikverbot und ein einklagbares Recht auf Arbeit sowie das Recht auf eine angemessene Wohnung und auf kostenlose Ausbildung ins Grundgesetz aufzunehmen, wurden nicht weiterverfolgt, obwohl Letzteres auch schon 1990 der „runde Tisch“ der DDR vergeblich anstrebte.
„Sondervermögen“, Rassebegriff und technische Entwicklungen als Grundgesetz-Themen
- Zum 100-Mrd. Sondervermögen für die Bundeswehr trotz Schuldenbremse verweigerte sich in 2022 die Opposition zunächst einer Grundgesetzänderung; das Sondervermögen wurde aber nach einer Verständigung als zulässig angesehen, da die Art. 109 (3) und 115 (2) des Grundgesetzes nicht auf die Kreditermächtigung anzuwenden seien.
- In 2023 gab es politische Diskussionen, den Rassebegriff aus dem Grundgesetz zu tilgen, der aber in dem Kontext letztlich nicht als diskriminierend angesehen wurde.
- In 2023 wurde aber im Grundgesetz dem Technikzeitalter genüge getan, indem die Verkündigung von Gesetzen nicht mehr allein im Bundesgesetzblatt erfolgen muss, sondern auch die Online-Verkündigung zugelassen ist.
Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit und Streikrecht?
- In 2024 flammten aktuelle Diskussionen auf, mit Blick auf die rechte Szene, auf antisemitische Äußerungen, auf „Reichsbürger“ und „Querdenker“-Demos sowie Kalifat-Anhänger etc. die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Art. 5 und 8 (2) evtl. einzuschränken.
- Nach der letzten Streikwelle gab es auch Rufe zur Einschränkung des Streikrechtes im Art. 9 (3).
Keine Volksabstimmungen auf Bundesebene?
Anders als in den Landesverfassungen der Bundesländer sieht das Grundgesetz auf der Bundesebene keine Volksabstimmungen als Plebiszite vor (außer bei etwaiger Neugliederung des Bundesgebietes oder der Bundesländer nach Art. 29 oder 118), obwohl manches dafürsprechen würde und auch der damalige Bundespräsident Köhler für direkte Demokratie warb. Denn im Art. 20 (2) ist ausgesagt, dass das Volk als Souverän seine Staatsgewalt durch Wahlen und Abstimmungen ausübt. Das sollte nicht nur für die kommunale und Landesebene gelten, sondern auch für die Bundesebene.
Sozialverpflichtung des Eigentums und Vergesellschaftung zum Wohl der Allgemeinheit
Fast gar nicht oder nur in seltenen Ausnahmefällen wurde bislang vom Artikel 15 des Grundgesetzes Gebrauch gemacht, nämlich Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zu vergesellschaften, um es in Gemeineigentum zu überführen.
Und am wenigsten realisiert ist der Artikel 14 zur Sozialverpflichtung des Eigentums zum Wohl der Allgemeinheit. Angesichts von Mietwucher, Grundstückspekulationen, Steuermoral und Steuerflucht sowie Profitgier in vielen Bereichen geraten das Allgemeinwohl sowie die Sozialverpflichtung des Eigentums unter die Räder, ohne dass dem Einhalt geboten wird.
Sozialstaats-Debatte am Grundgesetz vorbei?
Aktuell wird sogar in politischen Auseinandersetzungen der Sozialstaat in Misskredit gebracht oder in Frage gestellt, obwohl er nach den Artikeln 20 und 28 fest im Grundgesetz verankert ist. Dessen Ziel der sozialen Gerechtigkeit wird durch den immer lauteren Ruf nach abzusenkenden sozialpolitischen Standards nicht erreicht, wie auch die immer weiter auseinanderdriftende Schere zwischen Arm und Reich zeigt sowie die immer noch ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen.
Vielfach wird beklagt, dass die sozialen Grundrechte oder der Persönlichkeits- und Datenschutz hinter den Werkstoren im Wirtschaftsleben enden (auch mit manchmal sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen für Niedriglöhner und Zeitarbeiter etc.)
Auch die Einschränkung der Freizügigkeit (Wechsel des Wohn- und Aufenthaltsortes) oder ein verordneter Arbeitszwang etwa für Sozialhilfeempfänger und Asylbewerber werden teilweise als Verstoß gegen die Grundrechte in Artikel 11 und 12 betrachtet.
Grundgesetz bekennt sich zu Menschenrechten und Friedensgebot
Das Grundgesetz bekennt sich im Artikel 1 zu den unverletzlichen Menschenrechten.
Doch oft genug wurde die Bundesrepublik von der UNO, der OECD und der EU zur Einhaltung der Menschenrechte gemahnt. Etwa bei der mangelnden Chancengleichheit für Behinderte, Migranten oder Kinder aus sozial schwachen Familien.
Auch das Friedensgebot in der Präambel des Grundgesetzes wird im Zuge der Remilitarisierung Deutschlands und der Militarisierung der EU von vielen als gefährdet angesehen.
EU-Recht schwächt deutsche Grundrechte
Weitere Grundrechtsdefizite treten durch das geltende EU-Recht auf, dass dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten übergeordnet ist, obwohl die (neoliberal geprägte) EU-Verfassung an Referenden gescheitert war und der Lissabon-Vertag als Ersatz nicht dem deutschen Grundrechtsschutz und -niveau entspricht. So gilt z.B. auf der EU-Ebene die freie Eigentumsverfügung statt die Sozialverpflichtung des Eigentums, so dass die wirtschaftlichen Freiheitsrechte über die sozialen Schutzrechte gestellt werden.
Zugleich erfolgte damit eine Kompetenzbeschneidung des deutschen Bundesverfassungsgerichtes durch den (demokratisch nicht legitimierten) Europäischen Gerichtshof (EuGH), so dass diese beiden Gerichte oft um ihre jeweiligen Zuständigkeiten streiten.
Wir sind selber die Hüter unserer Grundrechte
Fazit: Insgesamt müssen wir als souveräne Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unsere Grundrechte selber verteidigen und deren Erosion bei den tagespolitischen Veränderungen verhindern, damit der gute Geist des Grundgesetzes sich nicht verflüchtigt und auch unsere Zukunft sichert. Wir bestimmen selber, in welcher Verfassung sich unsere Rechtsgemeinschaft befindet. Denn wir sind die Hüter unserer Grundrechte und der gelebten Menschenrechte.
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