Protestzüge, Demonstrationen, Streikaktionen — aller Widerstand der Stahlarbeiter konnte letztlich das Blatt nicht wenden. Der erbitterte Kampf der Hoeschianer gemeinsam mit Dortmunder Bürgern um das „Stahlwerk jetzt“ auf der Westfalenhütte war vergebens. Im erbarmungslosen Mahlstrom von Wirtschaftlichkeit, Renditen und Gewinn, im Auf und Ab der Stahlkonjunktur, ist das ersehnte „Kompakt-Hüttenwerk“ direkt neben dem Hoesch-Park auf der Strecke geblieben.
Über all die Jahre — von 1966 bis 1984 — war das Drama stets begleitet von Hoffnungen und Vertröstungen, von Durchhalteparolen und Beschwichtigungsformeln, immer nach dem Motto: Das Stahlwerk ist nicht zu den Akten gelegt.
Zugleich war aber auch klar, dass es auf überschaubare Zeit aus Finanzmangel nicht realisiert werden kann, so z.B. Hoesch-Vorstandschef Detlev Carsten Rohwedder im Jahr 1985. Von Anfang an war allen klar, dass der Neubau eines Stahlwerks die Existenzfrage für die Hüttenwerke ist (Hoesch-Arbeitsdirektor Alfred Heese). Auch für Werner Nass, den Betriebsratsvorsitzenden auf der Westfalenhütte, war das Stahlwerk die Überlebensfrage der Stahlbasis in Dortmund. Als Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats der Hütten hatte Kurt Schrade, der charismatische Haudegen in der Reihe der Dortmunder Stahlarbeiter-Führer, schon 1986 resignierend festgestellt: Der Neubau ist in den frühen 80er Jahren verpasst worden. Alle, die damals bei Hoesch gerechnet und geredet haben, müssen wissen, dass mit der jetzigen Struktur im Weltmaßstab auf Dauer nicht zu konkurrieren ist.
Begonnen hatte die Achterbahnfahrt eigentlich schon 1966, nachdem Hoesch und Hoogovens den Rahmenvertrag über eine Zusammenarbeit unterzeichnet hatten. Da kam das Angebot von Mannesmann an Hoesch, statt Stahl mit Hoogovens an der Nordseeküste zu schmelzen, mit Mannesmann am Rhein eine Warmbreitbandstraße zu bauen. Für Hoesch war das ein verlockendes Angebot. Es versprach das ersehnte Bein am Rhein, mit der Chance auf einen kostengünstigen Stahlstandort mit vorteilhaften, wettbewerbsfähigen Zulauffrachten bei Erz und Koks.
Doch Thyssen-Vorstandschef Hans Günther Sohl funkte dazwischen und bot Mannesmann eine lukrative Zusammenarbeit in der Röhrenproduktion an. Thyssen gab seine Röhrenfertigung an Mannesmann ab, so dass das Mannesmann-Werk in Duisburg-Huckingen voll ausgelastet war. Später hat Sohl unverblümt eingeräumt, dass es Thyssen bei diesem Manöver einzig und allein darum ging, den Konkurrenten Hoesch vom Rhein fernzuhalten.
Kein „Bein zum Rhein“ – Störmanöver von Thyssen
Diese Kriegslist wiederholte sich 1982, als Hoesch mit Krupp über eine Stahlachse Dortmund-Bochum-Rheinhausen verhandelte. Auch hier inszenierte Thyssen wieder ein Störmanöver gegen die geplante Ruhrstahl AG und bot Krupp zunächst eine Edelstahl-Fusion, später auch eine Zusammenarbeit beim Massenstahl an. Für Hoesch war durch diese Mitteilung klargestellt, dass Krupp den gemeinsamen Beschluss vom 4. Februar 1982 zur Bildung einer Ruhrstahl AG als überholt ansieht. Die Verhandlungen mit Krupp platzten. Erneut war es Thyssen gelungen, Hoesch auf dem Sprung zum Rhein Knüppel in die Beine zu werfen.
Die Basis für eine Zusammenarbeit zwischen Hoesch und Hoogovens wurde schon in den 1950er Jahren gelegt, als sich der holländische Stahlerzeuger mit 43 Prozent an der Dortmund-Hörder-Hüttenunion AG beteiligte. Als Friedrich Harders im Mai 1968 den Vorsitz im Vorstand der um die Hörder Hüttenunion erweiterten Hoesch AG übernahm und der Weg an den Rhein durch die Intervention von Thyssen verbaut war, suchte Harders sein Heil in einem „Idealhüttenwerk“, das er mit Hoogovens gemeinsam an der Maasvlakte bei Rotterdam bauen wollte. Was Harders dazu am 22. Januar 1971 vor der Arbeitsgemeinschaft für Rationalisierung in Düsseldorf bekannte, war letztlich bereits eine Absage an ein „KompaktHüttenwerk“ auf der Westfalenhütte. Um den Herausforderungen der japanischen Stahlindustrie zu begegnen, gab es für Harders nur zwei Standorte: Der Niederrhein in der Nähe der Ruhrmündung oder die verbrauchsnahe und frachtgünstige Nordseeküste. 85 Prozent aller Rohstoffe wie Erz aus Schweden und Westafrika oder preiswerte Kokskohle aus Australien kamen per Schiff. Die Fusion mit Hoogovens zur Estel NV war einerseits die Krönung des Lebenswerks von Harders, gleichzeitig aber auch eine Provokation für die Bewegung „Stahlwerk jetzt“ in Dortmund.
Es war deshalb nur konsequent, dass Harders die Idee einer schlanken „Idealhütte“ auf der Westfalenhütte von Anfang an nur halbherzig verfolgte. So kam es z.B. im Mai 1973 zu der fatalen Fehleinschätzung im Vorstand, wonach die Erzeugungskosten bei den Siemens-Martin-Öfen in Dortmund günstiger seien als beim Oxygen-Stahlwerk. Und diese Einschätzung ruhte allein auf den damals niedrigen, im Prinzip aber höchst wankelmütigen Preisen für Schrott, von dem sich das Siemens- Martin-Verfahren zum großen Teil „ernährt“.
Dieser Management-Irrtum zog sich in den 1970er Jahren wie ein roter Faden durch die Unternehmenspolitik von Estel.
So erklärte Peter Ulrich Schmithals, Vorstandschef der Hüttenwerke, 1973 auf einer Belegschaftsversammlung klipp und klar: Die Siemens-Martin Werke haben wegen des höheren Schrotteinsatzes kostengünstiger gearbeitet als das Oxygenstahlwerk in Hörde. Deshalb konnten wir es nicht verantworten, das SM-Stahlwerk 2 abzureißen und viele Millionen aufzuwenden, um es durch ein Blasstahlwerk zu ersetzen. Im Übrigen sei die Roheisenerzeugung in Ijmuiden 25 bis 30 DM/je Tonne günstiger. Und im Stahlwerk von Ijmuiden erschmolzene Brammen seien wesentlich billiger als die Produktion einer zusätzlichen Menge in Dortmund.
Mit hohem Investitionsaufwand wurden die Siemens-Martin-Öfen in Dortmund entstaubt und erst Anfang der 1980er Jahre stillgelegt. Auf der Hauptversammlung im Juni 1980 wurde das als Fehlinvestition gebrandmarkt. Viel zu lange war in Dortmund an dieser verfahrenstechnisch überholten und teuren Technologie festgehalten worden. Im Rückblick geißelte Kurt Schrade die verfehlte Investitionspolitik von Estel mit den Worten: Der Vorstandsbeschluss von 1980 für ein neues Stahlwerk hätte eigentlich schon 1972 fallen müssen. Dann wäre uns viel Elend erspart geblieben, doch Estel hielt an den Siemens-Martin-Öfen fest.
Die Weichen waren schon Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre gegen ein neues Stahlwerk auf der Westfalenhütte gestellt — auch die Folge eines vertrauensvoll auf Estel und die Nordseeküste ausgerichteten Unternehmenskonzepts. Erst im Rückblick des Jahres 1986 musste dann auch Rohwedder mit Bitternis feststellen: Die Jahre 1972 bis 1982, die Zeit der Ehe mit Hoogovens, waren für Hoesch eine unternehmerisch unfruchtbare Zeit. Estel sei eine kunstvolle, vielleicht auch künstliche Konstruktion geblieben. Hoesch und Hoogovens verband mehr die Hoffnung auf die Zukunft als die Gestaltungsmöglichkeiten der Gegenwart. Mit Erleichterung zog Rohwedder deshalb im November 1982 einen Schlussstrich unter dieses enttäuschende Kapitel Estel, das im internen Dienstgebrauch bei Hoesch längst mit Eine Sehr Teure Einstweilige Lösung buchstabiert wurde.
Zu spät war in Dortmund erkannt worden, dass die Mitte der 1970er Jahre einsetzende schwere Stahlkrise in Europa den Kampf um Tonnen, Mengen, Kunden und Preise auch bei Hoogovens so kannibalisiert hatte, dass den Holländern das eigene Hemd näher war als der weit geschnittene Rock des Konzerns. So wurde z.B. die Dortmunder Grobblechstraße geschlossen, obwohl sie leistungsfähiger war als die in Ijmuiden. In diesem Zusammenhang bedauerte Rohwedder, dass das unvermeidliche Opfer von der holländischen Seite des Konzerns nicht gebracht worden sei.
Ertragslage von Hoesch soll über den Bau der neuen Kompakt-Hütte entscheiden
Am 1. Juli 1971 beschloss der Hoesch Aufsichtsrat den Bau eines neuen Blasstahlwerks auf der Westfalenhütte, allerdings unter der Bedingung einer gesicherten Finanzierung aus eigenen Mitteln. Wörtlich hieß es in dem Beschluss, der sich in einfallsreichen Variationen in den nächsten zehn Jahren als eine Art Dauerschleife wiederholen sollte: Der Termin des Baubeginns hängt ausschließlich von der Finanz- und Ertragslage des Unternehmens ab. Ab Oktober zeigte die Stahlkonjunktur erste Bremsspuren, so dass der Vorstand Warnsignale aussandte: Die ungünstige Entwicklung der Ertragslage wird die Investitionstätigkeit nachteilig beeinflussen. Über den Jahreswechsel wurde Kurzarbeit gefahren.
Dennoch wollte der Vorstand Flagge für das Stahlwerk zeigen, ehe im Januar 1972 die Fusion mit Hoogevoens zum Estel-Konzern besiegelt wurde. Am 23. Dezember 1971 vollzog Technik-Vorstand Franz-Josef Hufnagel den ersten symbolischen Spatenstich für das Blasstahlwerk, das die alten Siemens-Martin-Öfen ablösen sollte.
Im Juni 1972 – schon mit Estel im Rücken – steuerte der Hoesch-Vorstand um. Nun hieß es: Die schwache Ertragslage blockiert den Bau eines Stahlwerks. Stattdessen sollten die Siemens-Martin-Öfen entstaubt werden, und zwar mit dem Ziel, sie bis in die 1980er Jahre hinein weiter betreiben zu können.
Anfang Juli 1972 setze die Belegschaft ein erstes Zeichen ihrer Ungeduld, aber auch ihrer wachsenden Erbitterung. 800 Arbeiter zogen vor das Verwaltungsgebäude an der Rheinischen Straße. Vier Vertrauensleute drangen in den 2. Stock vor, wo der Aufsichtsrat von Estel tagte. Sie verlangten, dass den vor der Tür wartenden Mitarbeitern eine Erklärung zum Stahlwerk abgegeben wird. Der Aufsichtsratsvorsitzende Hermann J. Abs war sofort bereit. Zusammen mit Estel Vorstandschef Justman Jacobs und Friedrich Harders stellten sie sich den Demonstranten. Tenor ihrer Erklärung: Das Stahlwerk wird gebaut, nur den Zeitpunkt können wir noch nicht nennen. Das hänge von der Ertragslage ab. Der Betriebsratsvorsitzende Albert Pfeiffer fasste die Wut und Enttäuschung der Stahlarbeiter zusammen, indem er Vorstandschef Harders frontal anging: Es geht um unsere Arbeitsplätze, nicht um ihren, Herr Harders. Sie sind bald 65 und werden pensioniert.
Harald Koch als neutraler Mann im Aufsichtsrat hatte als einziger gegen die Fusion mit Hoogovens gestimmt. Auch jetzt unterschrieb er die Erklärung von Aufsichtsrat und Vorstand nicht, wonach der Baubeginn für das Stahlwerk wieder einmal von der Finanz- und Ertragslage abhängt.
Im Herbst 1976 setzte der Vorstand weitere Fakten gegen das Kompakt-Stahlwerk auf der Westfalenhütte. Das Stahlwerk in Hörde wurde durch Umstellung der Technologie auf einen höheren Ausstoß gebracht, eine zweite Stranggussanlage erhöhte die Produktivität der Stahlschmelze im Werk Phoenix. Die Rezession erschütterte Estel in den Grundfesten. Die nunmehr ins vierte Jahr gehende Krise erfordert von allen äußerste Anstrengungen, warnte der Vorstand.
Im Jahr 1977 bezog Hoesch bereits 380.000 Tonnen Vorbrammen aus Ijmuiden. Estel erlitt mit 529 Millionen Gulden den schwersten Verlust in seiner sechsjährigen Geschichte. In Dortmund wurden ältere Arbeitnehmer mit 55 Jahren und 93 % vom Nettolohn in Rente geschickt, den Jüngeren wurde nahegelegt, sich nach einer anderen Arbeitsstelle umzusehen. Die Hoesch-Aktie sackte auf 33 DM je 50 DM-Aktie ab, im Jahr 1974 hatte sie noch bei 70 DM notiert.
Ende Januar 1980 beschloss der Estel-Aufsichtsrat wieder einmal den Bau eines Oxygenstahlwerks mit nachgeschalteter Stranggussanlage — mit Investitionen von 550 Millionen DM. Im Gegenzug wurden 4.200 Arbeitsplätze abgebaut. Das war das Startsignal für eine lange Kette von Demonstrationen, Protesten und Aktionstagen der breit gefächerten Bewegung ,StahIwerk jetzt“. Am 1. November 1980 überreichte Gerd Wildförster, der Leiter der Vertrauensleute auf der Westfalenhütte, Vorstandschef Rohwedder einen Spaten und erinnerte daran: Schon vor acht Jahren wurde der Beschluss über ein neues Stahlwerk vom Vorstand ausgebremst. Drei Wochen später verwies Rohwedder beim Jahrestreffen der Hoesch-Betriebsräte auf einen Gesamtverlust von 300 Millionen DM bei den Hüttenwerken, beklagte die Zersplitterung in Dortmund auf drei Standorte, was das Unternehmen im Jahr 70 bis 80 Millionen DM zusätzlich koste, und gab zugleich zu Protokoll: Das Stahlwerk in Hörde ist jetzt soweit modernisiert, dass es noch zwölf bis 15 Jahre laufen könne.
Am 6. November 1980 appellierte Dortmunds Oberbürgermeister Günther Samtlebe eindringlich an den Vorstand: Stellen Sie bei der Entscheidung zum Stahlwerks-Neubau das Schicksal dieser Region an die erste Stelle! Dann ließ Rohwedder die Katze aus dem Sack: Die gegenwärtige Lage und die große Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung lassen es nicht zu, zum jetzigen Zeitpunkt große strategische Investitionen in Angriff zu nehmen. Kaufmännische Vorsicht werde jetzt zur Richtschnur unternehmerischen Handelns. Die schönen Pläne für ein neues Stahlwerk blieben auf der Strecke, wurden ins Ungewisse aufgeschoben.
Diese Nachricht wirkte in Dortmund wie ein Schock. Bürgerinitiativen formierten sich, Appelle der sechs Dortmunder Landtagsabgeordneten, Proteste der Belegschaft und der Betriebsräte. Ehefrauen, die um die Arbeitsplätze ihrer Männer bangten, gründeten die Hoesch-Fraueninitiative. Im Februar 1981 demonstrierten sieben Frauen und ein Mann mit einem dreitägigen Hungerstreik die im wahrsten Sinne existentielle Bedeutung des Stahlwerks für sie auf der Westfalenhütte. Die Liedermacherin und Friedensaktivistin Fasia Jansen intonierte: Ja, es wird mobilgemacht, das Stahlwerk in Betrieb gebracht.
Dortmund im Schock – Eine Protestwelle durchläuft die Stadt
Am 28. November rollte die bisher größte Kundgebung in der jüngeren Stadtgeschichte unter der Parole: Stahlwerk bauen und Arbeitsplätze sichern für Dortmund und das östliche Revier. In drei Säulen marschierten die Stahlarbeiter unter Glockengeläut und Sirenengeheul auf den Friedensplatz. Der Verkehr in der City ruhte, in vielen Schaufenstern demonstrierten die Händler für die Sache der Stahlstadt Dortmund. NRW-Ministerpräsident Johannes Rau versicherte: Die Krise bei Hoesch ist lösbar. Dortmund sei ein guter Standort für Eisen und Stahl.
Schon im Juni 1981 ruderte Rohwedder wieder hoffnungsvoll nach vorn: Jetzt sollte das Stahlwerk bis 1987 stehen. Auf einer außerordentlichen Belegschaftsversammlung vor 7.000 Teilnehmern in der Westfalenhalle gab der Vorstand bekannt, dass das Stahlwerk auf der Westfalenhütte einschließlich aller erforderlichen Vor- und Nachstufen jetzt schon 1,275 Milliarden DM kosten werde. Bei einer öffentlichen Förderung von 40 % würde das für Hoesch einen eigenen finanziellen Kraftakt von 750 Mio. DM bedeuten. Ende 1982 war die Investitionssumme schon auf 1,5 Milliarden DM explodiert – für die immer noch angespannte Ertragslage bei Hoesch untragbar. Dennoch verteilte Rohwedder kreative Durchhalteparolen: Hoesch ist von der Intensivstation herunter.
Im März 1981 beklagte die Belegschaftsversammlung das krasse Ungleichgewicht in der Unternehmenspolitik: Während bei den Hoesch-Hütten 6.500 Arbeitsplätze vernichtet werden sollen, gäbe es für das neue Stahlwerk nur vage Absichtserklärungen. Betriebsntschef Kurt Schrade warnte den Vorstand: Man kann den kleinen Mann im Betrieb nicht verschaukein, indem man ihn von einem Monat zum nächsten vertröstet. Der Aderlass in der Belegschaft war groß. Von 53.000 Arbeitsplätzen im Jahre 1970 schrumpfte die Belegschaft bis Mitte der 1980er Jahre auf 33.000, davon in den Hüttenwerken nur noch 17.000 Beschäftigte.
Gegen den Widerstand der örtlichen IG Metall unterzeichneten Betriebsräte und Vertrauensleute im Dezember 1982 das so genannte „Dortmund-Papier“, mit dem die Überführung von Schlüsselindustrien und marktbeherrschenden Unternehmen in Gemeineigentum gefordert wurde. Das gelte insbesondere für die Vergesellschaftung der Stahlindustrie. Eine Versammlung aller Betriebsräte der deutschen Stahlindustrie entschied sich dann wenig später für eine privatwirtschaftliche Lösung der „manifesten“ Stahlkrise. Das Dortmund-Papier blieb Episode, ein Aufschrei der Ohnmacht. In Dortmund legte Kurt Schrade demonstrativ und als eine Art Verzweiflungsakt symbolisch eine Schüppe drauf für das Erste Stahlwerk der deutschen Stahlgesellschaft, gehaut von der Tochtergesellschaft Hoesch-Werke. Eine Bramme diente als Grundstein.
Lambsdorff: „Wir werden Dortmund nicht verkommen lassen“
Vorstandschef Rohwedder gab den Rückzug auf „Alt-Hoesch“ bekannt, das heißt die Konzentration von Stahlerzeugung und Weiterverarbeitung mit Warmbreitbandstraße, Kaltwalzwerken und Durchlaufglühe auf die Westfalenhütte und damit mittelfristig die Einebnung der Werke Phoenix und Union. So dringlich diese Verschlankung unternehmenspolitisch auch war, die Finanzierung eines solchen Kraftakts blieb im Nebel. Auch vermochte Rohwedder nicht den Widerspruch aufzuklären, wonach das Stahlwerk in Hörde noch 15 Jahre in Betrieb bleiben, gleichzeitig aber der Standort Hörde geräumt werden sollte.
Bund und Land beteuerten ihre Unterstützung für ein tragfähiges Konzept, blieben aber stets hinhaltend vage. So wiederholte Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff im September 1982 seine Zusicherung: Wir werden Dortmund nicht verkommen lassen. Ein Gutachten im Auftrag der Bundesregierung schlug im April 1983 vor, anstelle des Oxygenstahlwerks ein Elektrostahlwerk auf der Westfalenhütte zu bauen. Diese Empfehlung spiegelte allerdings eher den politischen Bauchschmerz des Bundeswirtschaftsministeriums bei der strukturellen Neuordnung der Dortmunder Stahlbasis als den Sachverstand der Gutachter. Denn Hoesch hatte seinen Schwerpunkt im Flachbereich, bei Fein- und Verpackungsblech. Dafür brauchte man aber tiefziehfähige Stahlgüten, die mit Elektrostahl gar nicht zu erzielen waren.
Auf der Hauptversammlung im Juni 1984 erklärte Rohwedder die Aufräumarbeiten für weitgehend abgeschlossen. stattdessen. Wir können jetzt an den Aufbau gehen. Allerdings sah sein Aufbauprogramm kein neues Stahlwerk mehr vor, stattdessen steckten in dem 1,5 Milliarden DM-Paket der Bau einer dritten Stranggussanlage in Hörde, die Durchlaufglühe auf der Westfalenhütte, die Erweiterung der Verpackungsblech-Linie sowie der Ausbau der Feinblech-Veredelung. Ein diplomatisch verpackter Abschied vom Stahlwerk – auch diesmal wieder verbrämt mit Rohwedders Beschwichtigungsformeln: Die Pläne für ein neues Stahlwerk seien nach wie vor geltendes Recht im Hoesch-Konzern, dennoch müsse sich das Unternehmen in den gegebenen finanziellen Rahmen schicken.
Im Juni 1987 beteuerte Rohwedder vor der Hauptversammlung: Der Stahlstandort Dortmund steht nicht in Frage. Allerdings war vom Stahlwerk als Kernstück des Aufbauprogramms nicht mehr die Rede. Vielmehr schlich sich jetzt ein neuer Zungenschlag in die Rhetorik. Die Stahlverarbeitung sollte gestärkt werden, der Umsatzanteil der Hütten im Konzern sollte mittelfristig auf 25 Prozent sinken. Jetzt förderte Hoesch den Wandel Dortmunds zum Zentrum neuzeitlicher Technik und Dienstleistungen. Das Ruhrgebiet und die Stadt Dortmund seien keine Schrottplätze einer vergehenden Industrie-Epoche, sondern Regionen im Umbruch. In Rohwedders stahltypischem „Sittengemälde“ hatte die Stahlerzeugung noch eine wichtige, aber nicht mehr existentielle Bedeutung für Hoesch.
Im Herbst 1986 zog in Europa eine neue Stahlkrise herauf. Immer noch drückten Überkapazitäten auf die Preise, in den Nachbarstaaten wurden die Stahlkonzerne massiv von ihren nationalen Regierungen subventioniert. Der seit 1981 geltende Sozialplan bei Hoesch wurde um weitere fünf Jahre bis Ende 1990 verlängert. Das Geschäftsjahr bei Hoesch endete bei den Stahlhütten mit plus-minus-null.
Der Schlusspunkt unter zwanzig Jahre Kampf ums Stahlwerk wurde 1989 gesetzt, als der Beherrschungsvertrag der Hoesch Stahl AG mit dem Hoesch-Konzern auslief. Damit wurde die finanzielle Nabelschnur zwischen den Hütten und der inzwischen zum Verarbeitungskonzern gewandelten Mutter endgültig gekappt. Das war der letzte Nagel am Sarg des Stahlwerks auf der Westfalenhütte. Rohwedder umschrieb das blumig, aber im Kern unmissverständlich: Bei Ablauf dieses Vertrages soll und wird die Stahl AG das an Substanz zur Verfügung haben, was ihr bei der Ausgliederung als Eigenkapital gegeben wurde. Wir wollen die Tochter nicht anzapfen, aber die Tochter soll dem Konzern auch nicht auf der Tasche liegen.
Quelle und Bild: Heimat Dortmund… wenn dein starker Arm es will Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs hier gespiegelt.