Im Jahr 2023 machten die Beschäftigten in Deutschland 1,3 Milliarden Überstunden, 775 Millionen dieser Stunden waren unbezahlt – Auf die Reform des Arbeitszeitgesetzes muss noch immer gewartet werden

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leisteten die Beschäftigten in Deutschland 2023 rund 1,3 Milliarden Überstunden. 775 Millionen dieser Stunden waren unbezahlt und  gesetzliche Höchstarbeitszeiten blieben ebenso unbeachtet wie Mindestruhezeiten. Die Summe der im vergangenen Jahr geleisteten Überstunden entspricht umgerechnet 835.000 Vollzeitstellen. Auf jeden Beschäftigten entfielen 2023 durchschnittlich 31,6 Überstunden, davon 18,4 unbezahlt.

Diese Horrorzahlen konnten nur entstehen, weil Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz erst bei Kontrollen auffallen und diese werden bekanntlich kaum durchgeführt.

Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) und zuletzt auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine Verpflichtung zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems festgestellt haben, hat sich auch die Bundesregierung bewegt und will den Unternehmen vorschreiben, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeiten, in der Regel noch am selben Tag, systematisch und elektronisch zu erfassen und aufzuzeichnen.

Bislang gibt es lediglich einen Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums für die Reform des Arbeitszeitgesetzes und anders als geplant, wird im ersten Halbjahr 2024 wohl nicht mehr mit dem Gesetz zu rechnen sein.

Es wird noch einige Zeit ins Land gehen, bis der Betrug mit den Überstunden endlich aufhören könnte.

Rund 35 Millionen Menschen in Deutschland sind derzeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Wie groß der Arbeitsumfang, also wie viele Stunden sie pro Woche arbeiten müssen, ist in der Regel in Arbeits- oder Tarifverträgen ziemlich genau festgelegt. Genau erfasst wird die Arbeitszeit aber in der Regel nicht und das hat zur Folge, dass unglaublich viele Beschäftigte Überstunden leisten, die nicht bezahlt oder nicht mit Freizeit ausgeglichen werden. Die Betriebe missachten die gesetzlichen Höchstarbeitszeiten vielfach genauso wie die Mindestruhezeiten. Nach dem geltenden Arbeitszeitgesetz mussten bisher nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht aber die gesamte Arbeitszeit.

Aufgrund der aktuellen deutschen und europäischen Rechtsprechung muss dieser Zustand geändert werden und der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat vor einiger Zeit schon einen Referentenentwurf vorgelegt, der wie schon früher auf den Widerstand der Unternehmen stößt.

Viele Beschäftigte waren erstaunt über die Heftigkeit, mit der die organisierte Unternehmerschaft gegen die Einführung des Mindestlohns am 1. Januar 2015 Sturm lief. Dabei ging es den Unternehmern gar nicht so sehr um die Höhe des Mindestlohns. Ob der gezahlt wird oder nicht, konnte aufgrund der mangelhaften personellen Ausstattung beim Zoll kaum geprüft werden. Sie konnten ruhig schlafen und weiter von den Extra-Profiten träumen. Sie fuchste, dass mit dem Mindestlohn auch die korrekte Aufzeichnung von Arbeitsstunden und das gesetzlich vorgeschriebene Bereithalten von Unterlagen flächendeckend in vielen Branchen verlangt wurden. Um prüfen zu können, ob ausreichender Mindestlohn gezahlt wird, müssen die Behörden erst einmal wissen, wie viele Stunden der Beschäftigte gearbeitet hat. Neben dem Zoll prüfen auch die Länder, ob die Unternehmen Arbeitszeiten und Überstunden ordentlich erfassen. Obwohl Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit seit Jahren zunehmen, kontrollieren die Behörden aber immer seltener die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes.

Hier liegt auch der Grund dafür, warum einige Branchen, wie die Gastronomie, immer schwerere Geschütze gegen den Mindestlohn aufgefahren hatten. Nicht wegen der Höhe des Lohns, sondern weil durch die Kontrollen erstmals die Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz ans Tageslicht kommen könnten. Flankierend dazu fordern sie mehr Flexibilisierung, auch bei der Arbeitszeit.

Doch die Angst der Unternehmerschaft vor einer Aufdeckung ihrer ungesetzlichen Taten war gar nicht berechtigt. Es gibt bis heute unglaublich viele Verstöße gegen die Zahlung des Mindestlohns, ohne große Konsequenzen für die einzelnen Betriebe.

Die Interventionen des EuGH und des BAG könnten nun dafür sorgen, dass die Reform des Arbeitszeitgesetzes Verbesserungen für die Beschäftigten bringt. Fraglich ist aber, ob die Einhaltung des Gesetzes mit der derzeitigen Personalsituation der Kontrollinstanzen überprüft werden kann, die ganze Rotation von Vorgabe, Umsetzung und Kontrolle des Gesetzes wieder in Gang gesetzt wird und von vorne beginnt.

„Stechuhr-Urteil“ des EuGH, BAG – Entscheidung zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems und Untätigkeit des Gesetzgebers

Mit seinem Urteil vom 14.05.2019 (C-55/18) entschied der EuGH in einer Grundsatzentscheidung, dass die Mitgliedstaaten die Betriebe zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems verpflichten müssen.

Die Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber in nationales Recht erfolgte bis heute nicht.

Das BAG hat in seinem Beschluss vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) die unternehmensseitige Verpflichtung zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) festgestellt.

Nachdem sich bereits in der Praxis einzelne Arbeitsgerichte in ihren Entscheidungen auf das EuGH-Urteil berufen hatten, bestand Unklarheit darüber, ob und wie die Betriebe der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung schon vor der Umsetzung durch den Gesetzgeber nachkommen sollten.

Mit der Entscheidung vom 04.05.2022 (5 AZR 359/21) hat das BAG hierzu bereits geklärt, dass die Grundsätze zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast in Verfahren zur Überstundenvergütung unabhängig von der unionsrechtlichen Verpflichtung zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems weiterhin gelten.

Der Gesetzgeber blieb hier bis zuletzt untätig, obwohl der Umsetzungsauftrag unverändert besteht.

Mit Beschluss vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21) hat das BAG nun richtungsweisend festgestellt, dass Unternehmer durch den unionsrechtskonform auszulegenden § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG dazu verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die Erfassung der geleisteten Arbeitszeit der Beschäftigten möglich ist. Das Gericht fand, dass der Betriebsrat für die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung kein Initiativrecht habe, da ein solches Recht nach § 87 BetrVG nur bestehe, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist und dies ist nach der Auslegung des BAG eben der Fall.

Inhaltliche und technische Anforderungen an das System sind somit nicht Gegenstand der Entscheidung des BAG. Auch eine Umsetzungsfrist für die Einführung eines Zeiterfassungssystems gibt es nicht.

Das Urteil des höchsten deutschen Arbeitsgerichts wird aber weitreichende Auswirkungen auf die bisher in Wirtschaft und Verwaltung tausendfach praktizierten Vertrauensarbeitszeitmodelle bis hin zu mobiler Arbeit und Homeoffice haben.

Nun ist der Gesetzgeber wieder gefragt.

Was sagen die Gewerkschaften dazu?

Für DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel „steht es völlig außer Frage, dass die Unternehmen verpflichtet sind, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen“. Sie hat die zunehmende Auflösung von zeitlichen, räumlichen und sachlichen Strukturen der Erwerbsarbeit im Auge und sieht es als falsch an, für die Zeiterfassung das Arbeitszeitgesetz anzurühren. Für sie braucht es „ein Update, um der Entgrenzung von Arbeit entgegenzuwirken, am besten, indem die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung im Arbeitsschutzgesetz geregelt wird.“

Für den DGB ist es rechtlich in Ordnung, dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeit selbst erfassen, wenn die Unternehmen verpflichtet werden, die Arbeitszeitdokumentation zu prüfen und sicherstellen, dass sie eingreifen können, wenn nach der Überschreitung von Höchstarbeitszeiten weitergearbeitet wird. Für den Gewerkschaftsbund ist die Erfassung erst dann verlässlich, wenn sie unverzüglich erfolgt und alle geleistete Arbeit umfasst, das bedeutet auch Bereitschaftszeiten und Zeiten von Arbeitsbereitschaft. Er fordert auch, die Zahl der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden zu erfassen. Zur Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten und Ruhepausen reicht es ihm aber nicht, bloß die Zahl der geleisteten Stunden zu dokumentieren. Auch Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit müssten festgehalten werden.

Gesetzentwurf sieht schon jetzt Ausnahmen vor

Der wichtigste Satz in Heils Entwurf für die Reform des Arbeitszeitgesetzes lautet: „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzuzeichnen.“

Der Entwurf sieht eine Reihe von verwässernden Ausnahmen vor. Beispielsweise ist das Unternehmen zwar verantwortlich für die Zeiterfassung, doch auch andere können die Zeiten notieren. Die Aufzeichnung soll durch die Beschäftigten selbst oder durch einen Dritten erfolgen können, zum Beispiel einen Vorgesetzten. Der Betrieb soll die Beschäftigten zudem auf Verlangen über die aufgezeichnete Arbeitszeit informieren.

Kleinbetriebe mit bis zu zehn Mitarbeitern müssen nicht elektronisch aufzeichnen, auf so eine Lösung können sich auch die Tarifpartner größerer Unternehmen verständigen und sollen eine händische Aufzeichnung in Papierform zulassen können.

Die Zeiterfassung kann sogar auf Grundlage einer Tarifvereinbarung ganz entfallen, immer dann, wenn die Arbeitszeit nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Beschäftigten selbst. Unter diese sehr weitreichende Formulierung fallen die hohe Anzahl an Leitungskräfte und auch die vielen Beschäftigten in Projekten.

Auch soll festgelegt werden können, dass die Aufzeichnung „in nichtelektronischer Form“ erfolgen kann, zum Beispiel durch einen Eintrag in eine Kladde oder Stundenmappe.

Für Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten soll es eine Übergangsfrist von fünf Jahren geben, für solche mit weniger als 250 Beschäftigten von zwei Jahren.

Die Aufzeichnung soll auch an einem anderen Tag, spätestens aber sieben Tage nach der Arbeitsleistung erfolgen.

Bundesarbeitsminister Heil hat in den Entwurf eingebaut, dass die genannten Ausnahmen „in einem Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung“ festgelegt werden können. Will heißen, dass abweichende Regelungen für Betriebe nur dann möglich wären, wenn sie der Tarifbindung unterliegen.

Ob diese Formulierung, wie auch vieles Andere das Gesetzgebungsverfahren übersteht, wird man sehen müssen, denn wie bei jedem Gesetzesvorhaben wird es im Laufe des Verfahrens auch noch Änderungen an den Plänen geben.

Die Gewerkschaften sollten die aktuelle Diskussion der Arbeitszeit nutzen, um die Arbeitszeitverkürzung tariflich weiter voranzutreiben.

 

 

 

 

 

Quellen: EuGH, BAG, Arbeitsministerium, DGB, WAZ
Bild: mechanische Arbeitszeiterfassung mittels Stechuhr Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0