IMI-Standpunkt: Militaristische Zeitenwende

Die deutsche (Außen-) Politik wird seit 1990 immer militärischer geprägt – bis zum Ziel der Kriegstüchtigkeit

Von Tobias Pflüger 

Leider sah der 2+4-Vertrag von 1990 vor, dass auch die neue große Bundesrepublik (mit dem Gebiet der DDR) Mitglied der Nato wird. Außerdem wurde geregelt, dass alle sowjetischen Truppen bis Ende 1994 aus Ostdeutschland abzuziehen sind. Dort sollten auch keine ausländischen Nato-Truppen stationiert werden. Die Bundeswehr sollte eine Maximalgröße von 370 000 Soldaten haben, und die Bundesrepublik verzichtete auf eigene atomare, biologische und chemische Waffen.

1994 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr möglich seien, wenn sie im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit (wie Uno, OSZE) stattfinden und der Bundestag vorher zustimmt. Dazu wurde die Nato, die ein Militärbündnis ist und kein System kollektiver Sicherheit, zu einem solchen umdefiniert.

Das Grundsatzurteil wurde immer mehr so ausgelegt und gedehnt, dass eine Mandatierung durch den Bundestag »notfalls« auch im Nachhinein erfolgen könne und nur bei explizit aktiv bewaffneten Einsätzen gelte (was zu einer langen Reihe von nicht mandatierten sogenannten Missionen der Bundeswehr geführt hat). Die Beschränkung der Einsätze der Bundeswehr auf Landes- und Bündnisverteidigung wurde damit aufgehoben.

1999 beteiligte sich die Bundesrepublik unter einer rot-grünen Bundesregierung am völkerrechtswidrigen Nato-Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Mit geschichts-  revisionistischer Rhetorik (»ein neues Auschwitz muss im Kosovo verhindert werden«) und einer Reihe von Lügen rechtfertigten die damaligen Minister Joschka Fischer (Grüne) und Rudolf Scharping (SPD) den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr und die erste Teilnahme an einem Angriffskrieg.

Ab 2001 beteiligte sich die Bundeswehr nach den Anschlägen von New York und Washington umfangreich am Besatzungsund Kampfeinsatz in Afghanistan (Isaf) der Nato. Die Aussage des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD), Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt, zeigt das imperiale Verständnis der damaligen Regierung. Die Bundeswehr wurde zu einer Einsatzarmee für Auslandseinsätze umgebaut. Von 1991 bis 2024 waren insgesamt etwa 450 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten an den 16 mandatierten (Kambodscha, Somalia, Adria, Bosnien-Herzegovina, Kosovo, Afghanistan, Mali, Jordanien/ Irak, Mittelmeer, Horn von Afrika, Litauen und Rotes Meer) und unzähligen unmandatierten Auslandseinsätzen (so genannte einsatzgleiche Verpflichtungen und Missionen) der Bundeswehr beteiligt. In diesem Kontext wurde 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt (nicht abgeschafft), um eine professionelle Einsatzarmee zu haben.

2014 hielten Joachim Gauck (als Bundespräsident), Frank-Walter-Steinmeier (SPD) als Außenminister und Ursula von der Leyen (CDU) als Verteidigungsministerin bei der Münchner Sicherheitskonferenz Reden, um die angebliche Zurückhaltung Deutschlands bei Militäreinsätzen grundsätzlich zu beenden. Innerhalb der Nato unterschrieb Steinmeier das Ziel, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Militär auszugeben – eine erhebliche Steigerung. Inzwischen fordert die Nato fünf Prozent.

Nachdem Russland im Februar 2022 die Ukraine völkerrechtswidrig angegriffen hatte, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine »Zeitenwende«, die unter anderem ein »Sondervermögen« (de facto Sonderschulden) von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bzw. Rüstungsindustrie beinhaltete. Aus meiner Zeit im Verteidigungsausschuss weiß ich, dass ein Großteil der milliardenschweren Käufe von Rüstungsgütern schon zuvor geplant, aber nicht finanzierbar war. Somit war der russische Angriffskrieg ein willkommener Anlass und Brandbeschleuniger für vorhandene Rüstungs(groß)projekte.

2023 wurde erstmals eine neue »Nationale Sicherheitsstrategie« vorgelegt, in der Russland als »größte Bedrohung« und China als »systemischer Rivale« definiert wurden. 2024 legte der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) die neuen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vor, in denen er »deutsche Führungsverantwortung« (in Europa, in der Welt?) und insbesondere die Herausbildung einer »kriegstüchtigen« Bundeswehr festlegte. Der sehr deutsche Begriff der Kriegstüchtigkeit sollte von nun an strategiebildend für die Bundeswehr und die gesamte deutsche Gesellschaft sein. Industrie (durch Umbau auf Kriegswirtschaft und Gegenkonversion zu militärischer Produktion), Bildungssystem, das Gesundheitswesen und Verkehr sollen militärisch nutzbar gemacht werden.

Nach der Bundestagswahl 2024 brachte die designierte Bundesregierung aus CDU/ CSU und SPD gemeinsam mit den endgültig kriegsgewandelten Grünen zwei Sondervermögen durch den alten Bundestag. Das eine ist ein »Infrastrukturprogramm« in Höhe von 500 Milliarden Euro, die auch nach militärischen Kriterien vergeben werden sollen. Zentral sind dabei auch Infrastrukturmaßnahmen für einen Aufmarsch nach Osten.

Das erneute Sondervermögen für die Bundeswehr, eigentlich für die Rüstungsindustrie, ist nach oben offen. Friedrich Merz’ Aussage »Whatever it takes«, angelehnt an einen Werbespruch des Rüstungskonzerns Hensoldt, heißt konkret: Verteidigungsministerium und Bundeswehr bekommen alle gewünschten Ausgaben in die nächsten Haushalte. Dementsprechend soll der eigentliche Verteidigungshaushalt nach Finanzplan folgendermaßen steigen: 2025: 62,4, 2026: 82,7, 2027: 93,3, 2028: 136,5 und 2029 152,8 Mrd €.

Das Infrastrukturprogramm hat mit dem schon etwas länger beschlossenen »Operationsplan Deutschland« zu tun, einem geheimen Dokument, das die zivil-militärische Zusammenarbeit und insbesondere ein Funktionieren der Logistik und der Transportmöglichkeiten für die Bundeswehr und andere Nato-Armeen regelt. Es geht darum, dass ein Aufmarsch nach Osten über die Infrastruktur in Deutschland erfolgen soll. In den »Operationsplan Deutschland« sind zivile Organisationen wie das Rote Kreuz und die Feuerwehren eng eingebunden.

Zeitgleich zur enormen Militarisierung der Bundesrepublik findet eine Militarisierung der Europäischen Union statt. Nach den militaristischen Lissabon-Verträgen hat die EU inzwischen einen Militärhaushalt, einen Militärkommissar und vor allem eine EU-weite Aufrüstung. Ursula von der Leyen verkündete dafür einen 800-Milliarden-Plan. Diese wirklich umfassende Militarisierung in allen Politikbereichen braucht endlich entschiedenen Widerstand.

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Hier handelt es sich um eine leicht ergänzte Fassung eines Beitrages, der zuerst im Neuen Deutschland am 2. Oktober 2025 erschien.

 

 

 

 

 

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